Bücherregale und Bücherschränke ziehen im Allgemeinen nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf sich. Meist geben sie sich damit zufrieden, eine tragende Nebenrolle für die Bände einzunehmen, die sie beherbergen. Das Bücherregal ist ein zurückhaltender, ja, man könnte sogar sagen, demütiger Gegenstand. Dem mythischen Atlas gleich, verrichtet es schweigend seinen Dienst an der Literatur, trägt die Welt in Form ihrer literarischen Werke auf den Schultern (oder vielmehr Brettern), hütet Bücher verschiedensten Inhalts und unterschiedlichster Gestalt und hält sie für Sie zusammen, solange Sie es wünschen.
Nur selten treibt das Bücherregal an die Oberfläche des großen Stroms der Geschichte und wird bemerkt. Sein Inhalt definiert häufig den Lauf der Geschichte und der Wissenschaft oder formt sie sogar, doch die Konstruktion, in der er ruht, erledigt in aller Stille ihre Aufgabe, ohne sich jemals zu beschweren oder zu prahlen, stets glücklich damit, im Hintergrund zu bleiben. Gelegentlich findet sich das Regal allerdings auch an vorderster Front wieder.
Das Exemplar, dessen Beispiel vielleicht am lautesten durch die Geschichte hallt, ist das Bücherregal im Anne-Frank-Haus am Westermarkt in Amsterdam. »Unser Versteck ist nun erst ein richtiges Versteck geworden«, schrieb Anne am 21. August 1942 in ihr Tagebuch. »Herr Kugler fand es nämlich besser, vor unsere Zugangstür einen Schrank zu stellen (weil viele Hausdurchsuchungen gemacht werden, um versteckte Fahrräder zu finden), aber natürlich einen Schrank, der drehbar ist und wie eine Tür aufgeht. Herr Voskuijl hat das Ding geschreinert.« Johannes Voskuijl war Lagerverwalter in dem von Annes Vater geleiteten Unternehmen. Besucht man das Anne-Frank-Haus, kann man das Werk seiner geschickten Hände auch heute noch bewundern. Es schützt den geheimen Eingang zu dem Hinterhaus, in dem sich die Familien Frank und van Pels knapp zwei Jahre lang versteckt hielten, bevor die Entdeckung 1944 ihr Ende besiegelte. Als Anne diesen Eintrag in ihr Tagebuch schrieb, wohnten die Franks dort bereits fünf Wochen im Geheimen, und alle hatten das deutliche Gefühl, der Eingang bräuchte zusätzlichen Schutz. Seit das Haus 1960 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, haben sich jede Menge Touristen durch Kratzer im Holz oder auf andere Weise an dieser Stelle verewigt. Und so beschloss man 2013, nach mehr als fünfzig Jahren, das Regal teilweise durch vorgehängte Glasscheiben zu schützen. Das Wichtigste aber ist, dass es immer noch existiert – eine kostbare, greifbare Verbindung zu den Schrecken des Holocaust.
Napoleon Bonaparte reiste immer gern mit Büchern. Diese, so erinnerte sich sein Bruder, »füllten eine Truhe, die größer war als jene, in der sich seine Toilettenartikel befanden«, und das bereits zu einer Zeit, als Napoleon noch junger Artillerieoffizier war. Als er zum Eroberer und letztlich Herrscher des europäischen Kontinents wurde, brauchte er immer mehr Lektüre, um Dinge nachzuschlagen und sich zu entspannen. Daher gab er 1808 bei seinem Bibliothekar eine außergewöhnliche Reisebibliothek in Auftrag. Sie sollte dafür sorgen, dass sich seine militärischen Unternehmungen nicht mit seiner Lesetätigkeit ins Gehege kamen. Eintausend nummerierte, katalogisierte Bände wurden in speziell angefertigten Kisten transportiert, die sich, wenn man sie öffnete, in sinnvoll bestückte Bücherregale verwandelten. Um unterwegs oder auf dem Schlachtfeld etwas nachschlagen zu können, wollte Napoleon nicht nur seine Lieblingsklassiker wie etwa Homer und Plutarch bei sich haben, sondern auch Geschichtsbücher. Daneben gab es aber auch jede Menge Erbauliches, darunter vierzig englische Romane wie Laurence Sternes Tristram Shandy. Ebenso enthielten die transportablen Bücherregale Bände von Racine und Voltaire, die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, die Reiseberichte von James Cook sowie Goethes Sensationserfolg Die Leiden des jungen Werther (welches, so erzählte Napoleon einst dessen Verfasser, er ganze siebenmal gelesen habe). Es gab auch Überraschendes darüber hinaus: Gressets Spottgedicht Vert-Vert über einen Papagei, der in einem Nonnenkloster aufgezogen wird, später jedoch in schlechte Gesellschaft gerät und unflätig fluchen lernt, sowie Napoleons wohl liebstes Buch von allen – die Gesänge des uralten gälischen Barden Ossian (Ossians Gesänge, heute weithin anerkannt als Fälschung aus dem achtzehnten Jahrhundert). Napoleons transportable Bibliothek ist einer der seltenen Fälle, in denen Bücherregale tatsächlich zu Augenzeugen wichtiger historischer Ereignisse wurden.
Roberta »Betty« de Mauduit gehört zu den unbesungenen Heldinnen des Zweiten Weltkriegs. Geboren 1891 in Berwickshire und aufgewachsen in Minnesota, traf sie ihren späteren Ehemann, den Aristokraten und Diplomaten Henri de Mauduit, während ihrer Tätigkeit als Modeeinkäuferin in Paris. Im Jahr 1925 zog sie mit ihm in sein Schloss Château Bourblanc in der Bretagne. Während der ersten Kriegsjahre diente das Gebäude den französischen Truppen als Lazarett und beherbergte Hunderte Flüchtlinge, die aus Paris vor den Deutschen flohen. Später, als Henri heimlich den Kanal überquerte, um sich in England de Gaulle anzuschließen, begann Betty, in einem Zwischengeschoss abgeschossene britische und amerikanische Piloten zu verstecken, bis sie von in der Nähe wartenden Fischerbooten nach England geschmuggelt werden konnten. Die ganze Zeit über gab sie sich den Anschein persönlicher Neutralität. Einmal dinierte sie auf Bourblanc sogar mit dem Chefingenieur der deutschen Küstenverteidigung – während sich siebzehn Piloten im Haus verbargen.
Im Juni 1943 stand plötzlich eine hundertköpfige Gestapo-Einheit vor Bettys Tür, um das Schloss zu durchsuchen. Sie fanden zwar die fünf Piloten nicht, die sich dort zu dieser Zeit versteckt hielten, nahmen Betty aber trotzdem fest und hielten sie über einen Monat lang bei trocken Brot und Wasser in Einzelhaft. Anschließend verlegte man sie ins Konzentrationslager Ravensbrück, wo man sie mit Gummiknüppeln schlug und zwang, bei klirrender Kälte in Habachtstellung im Freien zu stehen, bis sie ohnmächtig wurde. Dennoch schwieg sie beharrlich und verriet die Piloten, die mit ihrer Hilfe gerettet worden waren, nicht. Nach ihrer Befreiung wurde sie nach Paris gebracht, wo sie ihren Henri wiedertraf. Dieser war am Tag zuvor mit dem Fallschirm über Frankreich abgesprungen und hatte es, inzwischen im Range eines Colonel, geschafft, sein eigenes Schloss zu befreien.
Hier waren während der letzten beiden Jahre deutsche Offiziere und Soldaten einquartiert gewesen. Zum Glück hatte es sich nicht um Buchliebhaber gehandelt, denn zwischen den Bänden auf den Regalen versteckt befand sich auch das Gästebuch, in dem Betty alle Namen und Daten der bis zu ihrer Verhaftung auf Bourblanc versteckten Piloten notiert hatte. Wäre es gefunden worden, hätte man sie unverzüglich hingerichtet. Doch die Bücherregale von Bourblanc weigerten sich, ihr Geheimnis preiszugeben.
Als Oscar Wilde 1895 wegen grober Unzucht für zwei Jahre ins Gefängnis musste, gehörte zu dem, wovor ihm am meisten graute, die Aussicht auf den zu erwartenden eklatanten Mangel an Lesestoff. Insassen englischer Gefängnisse durften während der ersten drei Monate ihrer Haftstrafe nur die Bibel, ein Gesangbuch und ein Gebetbuch lesen. Wilde schrieb unverzüglich an die Gefängnisbehörden und bat inständig darum, man möge ihm eine größere Bandbreite an Lesbarem gestatten. Dieses wurde – bis auf die widerwillig erteilte Ausnahmegenehmigung durch den Direktor der Strafvollzugsanstalt in Reading (Reading Gaol), der ihm ein Exemplar von Bunyans Pilgerreise zugestand – in Bausch und Bogen abgelehnt. In seiner Verzweiflung schrieb Wilde seinem Freund, dem Liberalen und Parlamentsabgeordneten Lord Richard Burdon Haldane. Als dieser ihn daraufhin besuchte, fand er einen in Tränen aufgelösten Wilde vor, der ihn anflehte, ein paar Fäden zu ziehen und ihm zumindest die neuesten Arbeiten von Flaubert zukommen zu lassen.
»Ich erwiderte, dass die Widmung des Autors an seinen Advokaten, der Flaubert erfolgreich gegen die Anklage wegen Veröffentlichung unsittlicher Schriften verteidigt hatte, es unwahrscheinlich erscheinen ließe, dass die Zuchthausverwaltung ein Buch wie ›Madame Bovary‹ zulassen würde«, schrieb Haldane in seinen 1929 veröffentlichten Erinnerungen aus meinem Leben. »Er lachte und wurde ganz vergnügt.«
Letzten Endes entspannten sich die Behörden ein wenig, oder vielmehr ergaben sie sich, denn Oscar Wilde bombardierte sie geradezu mit Briefen. »Die hiesige Bibliothek enthält weder Romane von Thackeray noch von Dickens. Ich bin mir sicher, dass eine vollständige Reihe von Werken dieser Schriftsteller nicht nur ein großer Segen für mich selbst wäre, sondern auch für viele der anderen Gefangenen.« Dem Schriftsteller wurde schließlich gestattet, zu jedem beliebigen Zeitpunkt bis zu zwanzig Bücher aus der Gefängnisbibliothek in seiner Zelle zu haben, und dies wiederum reichte aus, ihm auch ein kleines Bücherregal zuzugestehen. Wilde dankte dem Gefängnisdirektor für seine bibliophile Liebenswürdigkeit, indem er ihm später ein signiertes Exemplar von Ernst sein ist alles übersandte.
Ungeachtet dessen gehörte Wilde wohl nicht zu den Menschen, denen man gerne ein Buch leiht. Er hatte nämlich die Angewohnheit, die äußere obere Ecke der Seiten abzureißen und aufzuessen, während er las.
Das bewegendste Beispiel für ein historisch bedeutsames Bücherregal enthält überhaupt keine Bücher und stammt erst aus dem Jahr 1995. Mitten auf dem Bebelplatz in Berlin befindet sich eine dicke Glasscheibe. Schaut man durch sie nach unten, erblickt man einen weiß getünchten Raum mit weißen, vom Boden bis zur Decke reichenden Bücherregalen, die allesamt leer sind. Geschaffen vom israelischen Künstler Micha Ullman, bieten sie Platz für 20.000 Bände – die geschätzte Anzahl von Exemplaren, die am 10. Mai 1933 an genau dieser Stelle von Mitgliedern des Nationalsozialistischen Studentenbundes unter Anfeuerungsrufen von Anhängern und Mitgliedern der NSDAP und musikalischer Begleitung durch SA- und SS-Kapellen verbrannt wurden. Die Bücher stammten ausnahmslos von durch das Hitlerregime diskreditierten Autoren – eine Liste großer Literatur von Sigmund Freud über Karl Marx bis hin zu Stefan Zweig, zusammengestellt von einem Bibliothekar namens Wolfgang Herrmann. Die Bücher wurden aus öffentlichen Bibliotheken, akademischen Institutionen und Privathäusern geholt und den Flammen geopfert, während die Organisatoren Parolen »gegen Dekadenz und moralischen Verfall« und »für Disziplin und Anstand in der Familie und im Volk« brüllten. Es war eine regnerische Nacht, und das Feuer ging immer wieder aus. So musste die Feuerwehr Benzin auf den rauchenden, matschigen Haufen durchnässten Papiers gießen, um die Flammen am Brennen zu halten.
Mehr als hundert Jahre zuvor hatte der deutsche Schriftsteller Heinrich Heine einen weitsichtigen Satz geschrieben: »Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.«
[Denn] Bücher sind mehr als Bücher. Sie sind das Leben, das Herz und die Seele vergangener Zeiten, der Grund, warum Menschen wirkten und starben, das Wesen und der Inbegriff ihres Lebens.
Cicero