Im Jahr 1936 legte die United States Works Progress Administration ein ebenso geniales wie altruistisches Arbeitsbeschaffungsprogramm auf: die reitenden Bibliothekarinnen von Kentucky. Die taffen reitenden Botinnen wurden im Dienst der Literatur in die Berge entsandt, in einige der entlegensten Gemeinden des Landes. In ihren Satteltaschen trugen sie eine Auswahl an Büchern bei sich, um sie jedem zu leihen oder mit jedem zu tauschen, der sie haben wollte.
»Diese WPA-Maßnahme war für uns Almosenempfänger eine große Sache«, erinnerte sich 1995 eine von ihnen, Grace Caudill Lucas. »Für alle anderen waren wir doch bloß bettelarme Hinterwäldler.«
Lucas, zu dieser Zeit alleinerziehende Mutter, war in ihren frühen Zwanzigern, als sie ihre Arbeit als Näherin zugunsten eines Outdoor-Lebens als reitende Bibliothekarin aufgab. Sie arbeitete drei Tage die Woche und hatte am Ende des Monats 28 Dollar in ihrer Lohntüte. »Davon musste ich 50 Cent pro Tag für mein Pferd bezahlen, und Futter musste ich davon auch noch kaufen«, schimpfte sie.
Für gewöhnlich ritt sie Bill, den ihr zugeteilten Rappen. Mit ihm ging es Meile um Meile durch tückisches Gelände, über Stock und Stein, enge, steile Bergpässe hinauf und durch Furten, wo das Wasser gegen die Satteltaschen schwappte. Jede ihrer Runden von Haus zu Haus und Schulzimmer zu Schulzimmer, wo Kinder »in Bücher wie Robinson Crusoe vernarrt waren und wirklich und wahrhaftig Gedichte liebten«, dauerte vierzehn Tage.
Die reitenden Bibliothekarinnen gehörten im ländlichen Kentucky zum Alltag, bis die WPA 1943, als man in den USA immer mehr Arbeitskräfte für den Krieg brauchte, aufgelöst wurde. Während der sieben Jahre, in denen die Frauen durchs Land ritten, verteilten sie pro Monat schätzungsweise 3.500 Bücher und 8.000 Zeitschriften. Selbst Menschen, die gar nicht lesen konnten, sahen sich gerne die Bilder in den Magazinen an und fanden es schön, Bücher vorgelesen zu bekommen. Besonders hoch im Kurs standen Unterhaltungsliteratur und Kochbücher – vor allem solche, in denen es um das Haltbarmachen und Einkochen von Nahrungsmitteln ging. Mit am häufigsten wurden auch religiöse Werke ausgeliehen. Fast alle Bücher wurden von Organisationen oder Einzelpersonen gespendet, und sie hatten enorme Auswirkungen auf die Gemeinden, in denen sie gelesen wurden.
»Bringst du mir das Lesen bei?«, sagte ein siebenjähriges Mädchen, das wegen einer schweren Wirbelsäulenverletzung das Bett hüten musste, 1936 zu einer der reitenden Bibliothekarinnen. »Dann werde ich nie mehr einsam sein.«
»Tut es Ihnen nie leid«, fragte sie plötzlich, »dass Sie nicht reich genug sind, all die Bücher zu kaufen, die Sie gern haben möchten?«
Edith Wharton
(Haus der Freude)