Einleitung

Im Herbst 2017 stellte das britische Lifestyle-Magazin Ideal Home ein real existierendes Wohnhaus vor, bewohnt von real existierenden Menschen mit echten Gefühlen. Eines der Fotos zeigte etliche Bücherregale, in denen alle Bände mit dem Buchrücken nach hinten einsortiert waren. So bot sich jedem, der diesen Raum betrat, eine gesichtslose Aneinanderreihung vergilbter Seitenschnitte. Was war denn das für ein Irrsinn? Auf den übrigen Fotos hingen weder die Gemälde mit dem Gesicht zur Wand, noch war die Anordnung der anderen Möbel irgendwie verkehrt. Handelte es sich hier also schlicht um einen eklatanten Fehler in der Set-Ausstattung, ähnlich wie in Game of Thrones, wo plötzlich auf einer mittelalterlichen Tafel ein vergessener Pappbecher zu sehen ist?

Wohl kaum. Die Bücher waren ganz bewusst mit der offenen Seite nach vorn einsortiert worden; derart anonymisiert, sahen sie ziemlich seltsam aus.

Dort, wo eigentlich die Bücher sein sollten, tat sich nun eine große Lücke auf, eine Fehlstelle, die nur dazu dienen sollte, die Aufmerksamkeit des Betrachters auf eine sonderbare Leere im Raum zu lenken. Es war, als sei den Büchern ein gespenstisches, beinahe schamhaftes Schweigen auferlegt worden. Kein Haus, das in Ideal Home bis dato präsentiert worden war, hatte abwegiger ausgesehen als diese verkehrt herum einsortierten Bücher. Es war ein Affront, eine Provokation, ein Skandal. Mit einiger Wahrscheinlichkeit handelte es sich sogar um einen Verstoß gegen die Genfer Menschenrechtskonventionen. Anklage: sensorische Deprivation.

Buchliebhaber empfanden diesen reizarmen Anblick als verstörend und absolut erschreckend. Wie, um Himmels willen, konnte irgendjemand darauf kommen, ein derart widerlicher Akt von freiwilliger kultureller Selbstzensur in den eigenen vier Wänden sei eine gute Idee? Das ist ja wohl schon aus praktischen Gründen eine absolut bescheuerte Nummer! Was, wenn man eines Tages in diesem Zimmer sitzt und denkt »Ach, jetzt würde ich eigentlich ganz gerne ein bisschen Maupassant lesen. Oder vielleicht E. L. James«? Wie, in drei Teufels Namen, soll man die denn finden? Hat man nicht Glück und greift aus purem Zufall nach dem richtigen Band, wird man letzten Endes mit Sicherheit inmitten eines Haufens wild durcheinandergeworfener Bücher heulend zusammenbrechen.

Doch von derart praktischen Erwägungen mal ganz abgesehen: Welcher Mensch, der bei klarem Verstand ist, würde seine Bücher auf solche Art verstecken wollen? Noch dazu, wenn dabei die ödeste, deprimierendste aller Farben herauskommt, nämlich vergilbtes Weiß? Das ist ja so, als würde ein Fußballfan die gesamten neunzig Minuten über mit dem Rücken zum Spielfeld sitzen oder ein Musikfan dem Konzert seiner Lieblingsband mit geschlossenen Augen und zugehaltenen Ohren folgen. Würden Sie die Cover von Ihren CDs und DVDs entfernen und die Scheiben mit der silbernen Unterseite nach vorne aufbewahren? Nein. Nein, würden Sie nicht. Und wenn doch, dann würden Ihre Freunde darüber nachdenken, Sie einweisen zu lassen.

Die Idee, Bücher mit der offenen Seite nach vorn ins Regal zu stellen, scheint einem grausigen Albtraum entsprungen, einem von der Sorte, die jeden echten Bücherfan mitten in der Nacht laut schreiend und völlig verstört aus dem Bett fahren ließe. Beinahe wäre es einem lieber, die Leute gäben ihre Bücher weg, als deren Identität auf solche Art und Weise zu verschleiern. Liebhaberinnen und Liebhaber der Literatur sind ein stolzes Völkchen; dieser Warnschuss vonseiten der Banausen ist ernst zu nehmen. Ehe wirs uns versehen, machen sie mit ihren Panzern nicht nur unseren Rasen platt, sondern überrollen auch unsere Bibliotheken.

Wenn es eines gibt, was sich unsere Bücher erhalten – selbst dann noch, wenn sie voller Eselsohren sind und ihre Seiten aufgequollen von einem kleinen Badewannenunfall, selbst dann noch, wenn wir sie jahrelang nicht ein einziges Mal zur Hand nehmen oder lesen –, dann ist es ihre Würde. Entblößt man sie aber auf solche Weise, dann ist die ganze Würde dahin, und das nur durch einen so simplen Akt wie eine Drehung um 180 Grad. Es ist einfach grausam, Bücher mit ihrer verletzlichsten Seite nach vorne aufzustellen, damit ihnen jeder in die Unterhose gucken kann. Welch böser Affront gegenüber einem Produkt, dessen Herstellung Monate, wenn nicht Jahre gekostet hat, um es so perfekt zu machen wie nur irgend möglich.

Diese Respektlosigkeit ist im Grunde eine Form von Mobbing. Die mobben unsere Bücher, liebe Freundinnen und Freunde! Wir müssen uns diesen Fieslingen entgegenstellen! Lasst uns mutig zu unseren Büchern stehen! Lasst uns stolz darauf sein, dass wir lesen! Demonstrieren wir Solidarität mit unseren Billy-Regalen! Es ist an der Zeit, das Bücherregal zu feiern und den Bücherschrank zu ehren. Lasst uns im Namen unserer Bücherliebe die Flagge hissen! Schämen wir uns nicht für unsere private Bibliothek. Die Zeit ist reif – im Grunde ist es lange überfällig –, dass wir unserem literarischen Vermächtnis und den Konstruktionen, in denen wir es präsentieren, wieder ein wenig mehr Achtung verschaffen. Ein Hoch auf die Bretter, die unsere Bücherwelt bedeuten!

Ach, wie gut ist es doch, unter lesenden Menschen zu sein.

Rainer Maria Rilke