GELERNTE HILFLOSIGKEIT

Einer der wesentlichsten Faktoren, den ich zu Beginn hervorheben will, weil er am Arbeitsplatz besonders relevant ist, ist das Gefühl, „Passagier“ zu sein. Betroffene haben den Eindruck, nur mehr zu „funktionieren“, von anderen gelenkt und gesteuert zu werden und selbst nichts mehr beeinflussen zu können. Ich möchte dazu ein Tierexperiment erwähnen, das uns zeigt, unter welchen Umständen Säugetiere mit körperlichen Symptomen auf Stress reagieren.

Die Anordnung dieses Experiments ist recht einfach: zwei Ratten, zwei Käfige. Beide Käfige waren in diesem Versuch mit einer stromleitenden Bodenplatte ausgestattet, die wiederum über ein Kabel mit einem Stromgenerator verbunden war. Betätigte ein Experimentator den Knopf am Stromgenerator, wurden beide Bodenplatten gleichzeitig unter Strom gesetzt. Es erfolgte ein kleiner Schmerzreiz, der körperliche Stressreaktionen bei beiden Tieren auslöste. Wurde in der Folge immer 10 Sekunden nach dem Aufleuchten einer roten Lampe der Schmerzreiz generiert, lernten die beiden Ratten nach wenigen Wiederholungen den Zusammenhang zwischen Rotlicht und Schmerz – eine klassische Konditionierung. In der Folge zeigten beide Tiere nach dem Aufleuchten des Lichts auch ohne den tatsächlichen Schmerzreiz eine Angst- und Vermeidungsreaktion.

Bei der beschriebenen Versuchsanordnung waren immer beide Ratten demselben Schmerzreiz und Stress ausgesetzt. Installierte man nun in Käfig A einen Hebel und ließ diese Ratte lernen, dass sie den Schmerz verhindern kann, wenn sie den Hebel betätigt, wurde es interessant: Die Ratte in Käfig A lernte rasch, sich die Schmerzen vom Leib zu halten, und tat es, ohne dass sie es wusste, auch für die Ratte im anderen Käfig. Von einer objektiven Seite aus betrachtet waren noch immer beide Ratten demselben Stress (Schmerz) ausgesetzt. Ein Unterschied bestand aber bereits: Der Workload, also der messbare Arbeits- und Energieaufwand, war für die Ratte im Käfig A erhöht, weil sie für die Vermeidung des Schmerzes selbst „verantwortlich“ war.

Man ging in diesem Experiment dann noch einen Schritt weiter und erhöhte den Workload für Ratte A, indem man die Zeitspanne vom Aufleuchten der roten Lampe bis zum Stromstoß veränderte, sobald die Ratte das Muster gelernt hatte, also rechtzeitig den Hebel betätigte. Dadurch wurden die tatsächlich verabreichten Stromstöße wieder häufiger, auch für Ratte B. Diese Musterunterbrechungen wiederholte man einige Zeit, sodass Ratte A immer wieder neu lernen und sich anpassen musste und dadurch im Vergleich zu Ratte B wesentlich mehr Energie investierte.

Das Spannende an diesem Tierexperiment ist, dass, egal wie oft man es wiederholte, immer eine Ratte starb. Und zwar Ratte B, die sich im Käfig ohne Hebel weniger anstrengen musste und daher einen geringeren Energieaufwand hatte. Sehr oft antworten mir Menschen, denen ich bei meinen Vorträgen die Frage stelle, welche Ratte mehr leidet und letztendlich stirbt, spontan: „Ratte A mit dem Hebel natürlich!“ Was wir aber heute wissen, ist, dass in diesem Experiment Ratte B alle bekannten Widerstandsphasen bis zur Resignation durchläuft. Dabei produziert sie Unmengen an Stresshormonen und beginnt rasch an den körperlichen und geistigen Folgen zu leiden, was Ratte A, trotz höherem Workload, erspart bleibt. Nachdem Ratte B anfänglich versucht hatte, den Kontrollverlust durch Vermeidungsreaktionen zu umgehen, lernte sie rasch, dass für sie alle Bemühungen umsonst sind. Für sie hatte es also gar keinen Sinn, sich anzustrengen und neue Lösungsstrategien zu entwickeln. „Gelernte Hilflosigkeit“ nennen Psychologen dieses Phänomen.

Was lernen wir daraus? Nicht nur Ratten, sondern auch wir sind ganz besonders empfindlich, wenn sich das Gefühl einstellt, etwas nicht (mehr) beeinflussen zu können. Die fatale Konsequenz dieses Gefühls bei uns Menschen ist generelle Resignation, die plötzlich alle Lebensbereiche betreffen kann. Wir verlieren dabei den Glauben an die Sinnhaftigkeit einer Energieinvestition, weil wir lernen, dass jeglicher Einsatz zu nichts führt. Daher lassen wir es bleiben und setzen unsere letzte Strategie zur Problemlösung ein: Wir versuchen, die Situation aus- und durchzuhalten, in der Hoffnung, dass sich das Problem von allein löst. Dafür benötigen wir einen Mix unterschiedlicher Stresshormone, die kurzfristig Linderung verschaffen, aber langfristig fatale Folgen haben, wie wir noch in diesem Kapitel beim Thema „chronisch unkontrollierbarer Stress“ sehen werden.

Noch eine unangenehme Erkenntnis aus ähnlichen Experimenten an Primaten möchte ich erwähnen: Resignation und folglich Pessimismus führen zu nachweislichen Lernschwierigkeiten. Wir werden sprichwörtlich dumm, weil wir komplexere Probleme immer schlechter lösen können, uns Dinge nicht mehr merken und letztlich auch gar nicht mehr aktiv mitdenken wollen.

Wir halten fest: Es ist also vordergründig nicht der Workload, auf den wir mit Stress reagieren. Die Überlastungsrate hängt auch gar nicht direkt und ausschließlich mit dem tatsächlichen Arbeitsaufwand zusammen, sondern wird durch ganz andere Faktoren maßgeblich beeinflusst. Natürlich kann man es auch übertreiben mit dem Dauerarbeiten, ohne sich Regenerationszeiten zu gönnen. Aber wichtig ist, dass nicht primär der Workload das Problem darstellt, sondern das Gefühl der Ohnmacht, bei dem die Überzeugung überwiegt, dass sich Energieinvestition nicht mehr lohnt.