Ich habe in Kapitel 1 unsere Fähigkeit zur Speicherung von bereits Erlebtem geschildert. Mir waren dabei zwei Dinge wichtig: Erstens legen wir in unserem Spitzmausgehirn keinen Ordner neutral, also emotionslos, an, sondern färben ihn quasi beim Neuanlegen ein. Wir geben damit dem Erlebten eine subjektive Bedeutung, die auch vom Farbspektrum der bereits angelegten Ordner abhängt. Sind bereits viele rote, angstbesetze Ordner abgespeichert, wird das gerade Wahrgenommene tendenziell bedrohlicher als sonst erlebt.
Zweitens werden die emotionalen Bewertungen eines Erlebnisses bei jedem Wiedererinnern verändert. Die Ordnerfarbe wird, abhängig vom Kontext und von der momentanen Gefühlslage während des Erinnerns, beim Wiederabspeichern entsprechend angepasst. Unser Gehirn überprüft dabei, ob sich die aktuelle Wahrnehmung von der ursprünglich abgespeicherten unterscheidet und passt die subjektive Bewertung an.
Wovon diese subjektive „Einfärbung“ von Erlebnissen abhängt, möchte ich nun beleuchten. Den Gedächtnisteil unserer Spitzmaus nennen wir „Verhaltensgedächtnis“ (implizites oder prozedurales Gedächtnis). In diesem Gedächtnisteil sind alle unsere Erfahrungen als allgemeine Regeln unterbewusst abgespeichert. Wir haben in Kapitel 1 gesehen, dass wir durch unsere Lebenserfahrungen in der Lage sind, die für uns komplex und chaotisch erscheinende Welt durch die Identifikation von allgemeinen Regeln vorhersehbarer und damit kontrollierbarer zu machen. Aus dem Glauben an bestimmte Zusammenhänge entstehen Erwartungshaltungen, die uns die Welt mehr oder weniger bedrohlich erscheinen lassen.
Unabhängig davon sind in unserem Controller Millionen Jahre später Strukturen entstanden, die sich auf die Speicherung von Faktenwissen spezialisiert haben – also Wissen, das explizit benennbar und bewusst erworben ist. „Wissensgedächtnis“ (explizites oder deklaratives Gedächtnis) nennen wir diese Ordner unseres Dateiexplorers, die per se nicht emotional besetzt sind. Ein Beispiel für Inhalte dieses Ordnersystems wäre eine bloße Information wie „Wien hat 1,8 Millionen Einwohner“. Verhaltensgedächtnis und Wissensgedächtnis funktionieren grundsätzlich auch unabhängig voneinander, können aber miteinander kommunizieren.
Spannend wird es in diesem Zusammenhang immer dann, wenn etwas passiert, das Sie vielleicht schon in ähnlicher Art und Weise erlebt haben:
Sie werden von Ihrem Chef gebeten, als Projektmitarbeiterin bei einem anspruchsvollen Projekt mitzuarbeiten. Projektleiter ist in diesem Fall Harald, der zu einem sehr direktiven Führungsstil neigt, meist gestresst und hektisch ist. Mit im Projektteam ist auch Beate, eine lang bekannte und lieb gewonnene Kollegin, auf die Sie sich speziell freuen, da Sie länger nicht mehr mit ihr zusammengearbeitet haben. Beate zeichnet sich durch hohe soziale Kompetenz aus, vermeidet Konflikte und zeigt immer einen hohen Arbeitseinsatz. Sie gilt als echte Leistungsträgerin und ist eine von allen geschätzte Mitarbeiterin und Kollegin. Wie es nicht selten der Fall ist, gibt es im Projektverlauf Probleme mit den vereinbarten Zielen und das Projekt eskaliert nach zweijähriger Arbeitszeit. Ressourcenprobleme und Konflikte zwischen Linien- und Projektverantwortlichen einerseits und zwischen Projektauftraggeber und Harald andererseits machen einen zeitgerechten Projektabschluss unmöglich. Harald lässt einen wertschätzenden Umgangston nun völlig vermissen und wird – aus der Froschperspektive betrachtet – noch aggressiver. Beate ihrerseits verzweifelt an den offenen Konflikten und den unerreichbaren Vorgaben. Sie fühlt sich als Opfer und Passagier und spricht mit Kollegen häufig über diese ihre Sichtweise. Da sich Frust bei fast allen Kollegen breitmacht, einigt man sich beim täglichen Kaffee schnell auf die Schuldigen. Die Stimmung ist entsprechend schlecht und der Umgangston ungewöhnlich rau. Nach zwei weiteren Monaten wird bei Beate eine Überlastungsdepression diagnostiziert, die ein Weiterarbeiten unmöglich macht. Weil man die Schuldigen zu kennen glaubt, macht sich im Kollegenkreis Wut und Resignation breit. Am Ende wird das Projekt von oberster Stelle gestoppt. Harald wird Projektleiter eines anderen Projekts. Sie selbst werden gefragt, ob Sie ein anderes, kleineres Projekt als Leiterin übernehmen möchten.
Es ist eine neue Lernerfahrung, eine neue Regel, die Ihr Spitzmausgehirn während dieses Erlebnisses abgeleitet hat. Der Ordner mit den Inhalten Ihres Wissensgedächtnisses synchronisierte sich mit den Inhalten des unterbewusst und emotional bewertenden Verhaltensgedächtnisses. Den Wissensinhalten wurde nun also eine Bedeutung, eine Emotion, zugewiesen. Ihre bewusste Überzeugung und Einstellung zu Arbeit generell und Ihre Einstellung zu einer Projektarbeit mit Harald als Projektleiter wurden dadurch verändert. Abhängig von Ihren bereits abgespeicherten persönlichen Lebenserfahrungen und dem Empfinden in Ihrer momentanen Situation könnte Ihre innere Haltung gegenüber einer weiteren Projektmitarbeit oder gar einer Projektleitung von starker Identifikation mit Beates Hilflosigkeit bis hin zu einer aggressiven Ablehnung von Haralds Rolle geprägt sein.
In diesem Beispiel wurden zwei unterschiedliche Wahrnehmungen, jene der Spitzmaus und jene des Controllers, zu einer emotionalen Erfahrung und damit zu einer inneren Überzeugung verknüpft, die zukünftig und maßgeblich für Ihre Entscheidungen und Ihren Umgang mit auftretenden Problemen verantwortlich sein wird. Je aufgeregter und häufiger Sie über das Erlebte nun sprechen, desto stärker werden Ihre jeweiligen Vorurteile sein. Zynismus und Jammerreflex sind häufig zu beobachtende Konsequenzen dieser oder ähnlicher Situationen. Das bedeutet natürlich nicht, dass man grundsätzlich zu allen belastenden Dingen des Lebens schweigen sollte, um bestimmte Erlebnisse nicht zusätzlich zu dramatisieren, zeigt aber, dass es einen Verstärkungsmechanismus gibt, der zusätzliche Belastung liefern kann. Differenziert und reflektierend über solche Erlebnisse mit jemandem zu sprechen, der neue Sichtweisen und Denkanstöße liefern kann, ist selbstverständlich eine Empfehlung.