INNERE WIDERSTANDSKRAFT: RESILIENZ ODER VULNERABILITÄT?

Es gibt Menschen, an denen Stress einfach abzuprallen scheint. Vielleicht kennen Sie auch jemanden, auf den das zutrifft. Diese bewundernswerten Menschen sind trotz hoher psychischer oder physischer Belastung nicht zynisch, pessimistisch und resigniert, sondern zeigen auch nach Schicksalsschlägen oder in schwierigen Lebensphasen eine auffällig positive Lebenseinstellung. Sie werden häufig als anpassungsfähig, belastbar, aufmerksam, neugierig und selbstbewusst beschrieben. Beobachtet man das Verhalten dieser Menschen, lassen sich hohe innere Widerstandskräfte vermuten, die Störungen von außen begegnen können und diese regelrecht abzuwehren scheinen. Das Gegenteil davon ist ein Zustand erhöhter Anfälligkeit, Unsicherheit und Schutzlosigkeit, der von Bewältigungsproblemen des Betroffenen geprägt ist und einer gesteigerten Verletzlichkeit entspricht. Die subjektive Wahrnehmung ist dabei von einer negativen Erfolgserwartung geprägt.

Die Forschungsrichtung der Psychologie, die dieses Phänomen der inneren Widerstandskraft, der Resilienz, untersucht, ist nicht neu. Seit den 1950er-Jahren gibt es den Begriff, und seit den 1970er-Jahren besteht gesteigertes Interesse, systematisch zu erkunden, woran es liegt, dass manche Menschen – zu Beginn der Untersuchungen waren es Kinder – mit sehr belastenden Situationen gut umgehen können und diese Phasen scheinbar unbeschadet überstehen. Im Vergleich zu den detaillierten Erkenntnissen bei Kindern und deren Entwicklung ist das Wissen über Resilienz bei Erwachsenen – und speziell in der Berufswelt – noch gering. Es gibt viele offensichtliche Parallelen, die eine Anwendung des Wissens über Kinder bei Erwachsenen nahelegen.

Aus diesen Erkenntnissen abgeleitet, möchte ich Resilienz und Vulnerabilität (erhöhte Verletzlichkeit) als Prozesse mit unterschiedlichen Phasen gegenüberstellen, die voneinander abhängig sind.

Nach einem Schicksalsschlag oder einer gravierenden Belastungssituation folgt bei jedem eine Phase der Verzweiflung mit ausgeprägten Opfergefühlen („Warum ich, warum ausgerechnet mir …?“). Danach gibt es grundsätzlich zwei Optionen, deren Richtung maßgeblich durch unsere Erinnerungen und damit durch unsere inneren Überzeugungen beeinflusst wird. Was wir dabei unbedingt beachten müssen, sind die in diesem Kapitel geschilderten verknüpften Erfahrungen. Also alle Regeln, die wir gelernt haben und die zu unseren inneren Überzeugungen führen. In der Extremform sind die einen zunehmend überzeugt, ein hilfloser Passagier zu sein, während die anderen glauben, ein selbstverantwortlicher und selbstbewusster Pilot werden zu können.

Bei jenen, denen es immer wieder gelingt, ihre Opfergefühle loszuwerden, findet man eine Auffälligkeit in ihrem direkten Umfeld: harmonische soziale Beziehungen. Je mehr soziale Beziehungen wir führen, desto mehr Oxytocin produziert unser Gehirn – und das ist gleichbedeutend mit weniger Angst und mehr (Selbst-)Vertrauen. Mehr Vertrauen und Sicherheit bedeuten auch, dass man Mut schöpfen kann und sich weniger stark als Opfer fühlen muss. Wir können durch unsere sozialen Beziehungen, gerade in schwierigen Phasen, den Optimismus und damit den Glauben anderer übernehmen und sind dadurch auch im Positiven „ansteckbar“. Sowohl das eigenverantwortliche Pilot-sein-Wollen als auch die Wirkung unseres sozialen Umfelds ermöglichen das Akzeptieren, das Annehmen von Rahmenbedingungen. Wir verlieren Ärger, Enttäuschung oder Wut auf die oder den (vermeintlichen) Verursacher unserer Einschränkungen.

Das bedeutet keineswegs, dass sich resiliente Menschen irgendwann über Schicksalsschläge freuen, sondern vielmehr, dass sie in der Lage sind, das selbstmitleidige Reflektieren über die Ursachen zu beenden. Der Prozess kann so in die nächste Phase übergehen: dem Nachdenken über mögliche Lösungen und Auswege und deren Umsetzung in konkrete Handlungen. So besteht die Chance, dass auch „gelernten Passagieren“ klar wird, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen dem eigenen Handeln und Wohlbefinden gibt. Dadurch können wir erkennen, dass wir für unser Lebensglück mitverantwortlich sind, und müssen nicht mehr warten, bis wir „gerettet“ werden.

In einer emotionalen Falle sitzen jene, die zu lange in ihrer Opferrolle verweilen und dabei eines lernen: Je bedauernswerter sie auf andere wirken, desto eher wird ihnen geholfen. Dadurch entsteht eine emotionale Abhängigkeit von der Hilfestellung und vom Mitleid anderer, die man durch ständige Formulierung des Problems (mit klaren Dramatisierungstendenzen) aufrechterhält. In dieser Phase beginnt für Menschen, die rechtzeitig die Opferrolle verlassen konnten, das Planen der eigenen Zukunft – ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur (gefühlten) Unabhängigkeit von den belastenden Umständen. Das Gefühl, das daraus entsteht, kennen viele: Optimismus, also die Zuversicht, ein Problem bewältigen zu können. Das ist letztlich der Glaube an eine grundsätzlich positive Zukunft. Das Leben bekommt dabei wieder einen Sinn. Dieser Glaube bedeutet auch, dass man vermehrt in der Lage ist, anderen Menschen zu vertrauen. Man lässt sich gerne helfen, hilft aber selbst auch anderen und verhält sich zunehmend netzwerkorientiert. Das Oxytocin sprudelt also und die eigenen Ängste und Unsicherheiten werden dadurch weniger.

Der gegenteilige Effekt tritt ein, wenn uns dieser „resiliente“ Umgang mit Problemen nicht gelingt. In dem Fall neigen wir dazu, unsere Vergangenheit als positiv zu bewerten: Sie liegt bereits hinter uns und kann somit keine Verunsicherung mehr hervorrufen.

Was morgen kommen könnte, macht hingegen Angst, weil die Vorhersage im eigenen Gehirn immer „Schlechtwetter“ prognostiziert: Pessimismus und Misstrauen prägen vermehrt die Entscheidungen des Alltags und verstärken Angst, Unsicherheit und Freudlosigkeit.

In der nachfolgenden Abbildung sind sieben Phasen zu mehr Widerstandskraft einerseits und zunehmender Verletzlichkeit andererseits grafisch gegenübergestellt, die – speziell bei Erwachsenen – beobachtbar sind:

Einerseits müssen wir Herdentiere die soziale Akzeptanz und Zuneigung anderer spüren, sind aber gleichzeitig davon abhängig, uns von deren Hilfe unabhängig fühlen zu können. Und Unabhängigkeit empfinden wir immer dann, wenn wir erkennen können, dass sich unsere Anstrengungen und Handlungen direkt auf unser persönliches Wohlbefinden auswirken. Wir sind also hin- und hergerissen zwischen Kooperation und Konkurrenz, zwischen wir und ich. Im Kapitel „Hirngerechte Mitarbeiterführung“ werden wir uns dieses ambivalente Verhalten, das tief in uns zu sitzen scheint, aus einem anderen Blickwinkel ansehen. Erleben wir eine gute Balance zwischen sozialer Abhängigkeit und persönlicher Eigenverantwortung, so empfinden wir weniger Angst vor Überforderung und erleben Alltagsherausforderungen weniger verunsichernd. „Gefühlte Hilflosigkeit“ kann so nicht zum Problem werden.

Gerade in der Entwicklung von Kindern ist deutlich erkennbar, dass stabile soziale Beziehungen eine angstfreie Entwicklung bewirken: Spüren Kinder, dass sie sich auf ihre Eltern verlassen können, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich aus bestehenden Unsicherheiten durch dosierte Risikobereitschaft vermehrt Sicherheit entwickelt. Dabei verstärkt sich sukzessive das Selbstbewusstsein. Andererseits gibt es viele Kinder, die wissen, dass es für sie keine emotionale Unterstützung gibt und dass sie sich auf ihre primären Bezugspersonen nicht verlassen können. Das bewirkt aber keineswegs in jedem Fall gesteigerte Verletzlichkeit. Nicht selten ist sogar das Gegenteil beobachtbar, nämlich eine offensichtliche Ausbildung resilienzsteigernder Verhaltensweisen.

Soziale Beziehungen und Anerkennung in einer Gruppe können sich auch im Kindergarten und den ersten Schuljahren entwickeln. Wichtig dabei scheint zu sein, dass eine Bezugsperson gefunden wird. In diesem Fall bieten die erlebten Beziehungen genügend Sicherheit, dass ein Kind Selbstbewusstsein und damit Resilienz als eine Art „Lebensweisheit“ entwickeln kann. Mittlerweile ist gut belegt, dass Erwachsene trotz negativer Kindheitserfahrungen – durch Verstehen und Reflektieren des eigenen Verhaltens und durch Ausprobieren anderer Verhaltensoptionen – das eigene Verhalten besser steuern und regulieren können. Dadurch sollte es also grundsätzlich auch noch im Erwachsenenalter möglich sein, vermehrt Resilienz zu entwickeln. Mich beeindrucken Patienten nach Krebsdiagnosen, die weiterhin eine positive, optimistische Lebenseinstellung bewahren können, oder Menschen, die sich nach dem Verlust eines Kindes oder Partners nicht aufgeben. Diese Menschen sind weiterhin in der Lage, ein erfülltes Leben zu führen. Besonders bewegt hat mich die Geschichte eines Schweizer Skirennläufers, der nach einem Skiunfall während eines Abfahrtslaufs so schwer stürzte, dass er querschnittsgelähmt blieb. Trotz der erschütternden Diagnose und einer ersten Phase der Verzweiflung hat den jungen Sportler nie der Lebenswille verlassen. Er scheint schnell akzeptiert zu haben, dass es kein Zurück mehr gibt und er ein Leben lang gelähmt bleiben wird, ohne dass er dabei resignierte und in der dauerhaften Opferrolle verblieb. Noch während der ersten Rehabilitation hat er begonnen, über seine Zukunft nachzudenken und durchaus attraktive Optionen für seinen weiteren Weg erkannt. Er gelang ihm, nicht ständig darüber nachzudenken, was er alles nicht mehr machen kann, sondern sich darauf zu konzentrieren, was es für Möglichkeiten gibt, die ihm Spaß machen könnten. Mittlerweile hat er ein Studium absolviert und ist ein erfolgreicher Sportmanager. Ich möchte Ihnen damit keine kitschige Geschichte erzählen, finde aber, dass es gutes Beispiel dafür ist, wie man mit einer resilienten Lebenseinstellung Dinge meistern kann, die für viele unüberwindbar scheinen.