12
Nassun, nicht allein
Es ist still in Kernpunkt.
Nassun bemerkt es, als das Vehimal, in dem sie den Planeten durchquert hat, in die Station auf der anderen Seite der Welt einfährt. Sie befindet sich in einem der seltsamen, schiefen Gebäude, die das gewaltige Loch im Zentrum von Kernpunkt umgeben. Sie ruft um Hilfe, ruft nach irgendjemandem, während sich die Tür des Vehimals öffnet und sie den schlaffen, reglosen Schaffa hinter sich her durch die stillen Flure und Straßen zieht. Er ist groß und schwer, weshalb sie mehrmals versucht, Magie einzusetzen, um ihn leichter ziehen zu können – aber das gelingt ihr schlecht; Magie ist einfach nicht dafür gedacht, bei so etwas eingesetzt zu werden, und Nassun ist sowieso kaum in der Lage, sich zu konzentrieren. Sie schafft es daher gerade mal einen Block weit, bevor auch sie erschöpft zusammenbricht.
Irgendein rostverdammter Tag in einem rostverdammten Jahr.
Habe diese unbeschriebenen Kladden gefunden. Das Zeug, aus dem sie bestehen, ist kein Papier. Es ist dicker. Lässt sich nicht leicht biegen. Was vielleicht gut ist, denn sonst wären sie längst zu Staub zerfallen. Sie bewahren meine Worte für die Ewigkeit! Ha! Länger als meine rostverdammte geistige Gesundheit.
Weiß nicht, was ich schreiben soll. Innon würde lachen und mir sagen: Schreib über Sex. Richtig, also: Hab heute zum ersten Mal gewichst, seit A mich an diesen Ort gezerrt hat. Mittendrin dachte ich an ihn und konnte nicht kommen. Vielleicht bin ich zu alt? Das würde Syen behaupten. Sie ist nur verärgert, weil ich sie immer noch schwängern konnte.
Hab vergessen, wie Innon gerochen hat. Hier riecht alles wie das Meer, aber es ist nicht so wie das Meer bei Meov. Anderes Wasser? Innon hat so gerochen wie das Wasser dort. Jedes Mal, wenn der Wind weht, verliere ich ein bisschen mehr von ihm.
Kernpunkt. Wie ich diesen Ort hasse.
Kernpunkt ist nicht wirklich eine Ruine. Es ist weder zerstört noch unbewohnt.
Die Stadt auf der Oberfläche des offenen, endlosen Ozeans stellt eine Anomalie aus Gebäuden dar – nicht sehr groß, verglichen mit dem kürzlich untergegangenen Yumenes oder dem schon länger untergegangenen Syl Anagist. Kernpunkt ist allerdings einzigartig, sowohl auf die vergangenen wie auch auf die gegenwärtigen Gesellschaften bezogen. Die Gebäude sind stabil gebaut, bestehen aus rostfreiem Metall und seltsamen Polymeren und anderen Materialien, die den salzigen, in Orkanstärke wehenden Winden, die diese Seite der Welt dominieren, standhalten. Die wenigen Pflanzen, die in vor langer Zeit errichteten Parks wachsen, haben nichts mehr mit den hübschen, künstlich gestalteten Treibhaus-Gewächsen zu tun, die von den Erbauern von Kernpunkt bevorzugt wurden. Die Bäume – gekreuzte und verwilderte Abkömmlinge der ursprünglichen Landschaftsgestaltung – sind riesige hölzerne, durch den Wind kunstvoll verformte und verdrehte Gebilde. Sie haben sich schon vor Langem aus ihren ordentlichen Beeten und Behältern befreit und ziehen sich jetzt knorrig über die Gehwege aus gepressten Fasern hin. Im Gegensatz zur Architektur von Syl Anagist gibt es hier viel mehr harte Kanten und Winkel, die den Windwiderstand der Gebäude minimieren sollen.
Aber an dieser Stadt ist mehr dran, als es auf den ersten Blick scheint.
Kernpunkt liegt auf dem Gipfel eines gewaltigen unterseeischen Schildvulkans, und die ersten paar Meilen des Lochs, das im Zentrum gebohrt wurde, werden von einem ausgehöhlten Komplex aus Wohnquartieren, Laboratorien und Fabriken gesäumt. Diese unterirdischen Einrichtungen, die ursprünglich dazu gedacht waren, die Geomagesten und Gengenieure von Kernpunkt unterzubringen, sind längst einem ganz anderen Zweck zugeführt worden – denn diese Kehrseite von Kernpunkt ist Vollmacht, wo die Wächter gemacht werden und wo sie während der Fünftzeiten wohnen.
Wir werden später darauf zurückkommen.
An der Oberfläche von Kernpunkt ist es später Nachmittag unter einem schockierend hellen blauen Himmel mit spärlichen Wolken. (Fünftzeiten, die in der Stille beginnen, beeinflussen das Wetter in dieser Hemisphäre nur selten, oder zumindest erst nach mehreren Monaten oder Jahren.) Passend zu dem hellen Tag sind Leute auf den Straßen, während Nassun sich abmüht und weint, aber sie rühren sich nicht, machen nicht die geringsten Anstalten, ihr zu helfen. Die meisten bewegen sich überhaupt nicht – denn es sind Steinesser, mit rosa-marmornen Lippen und Augen aus glänzendem Glimmer, in Katzengold oder klarem Bergkristall geflochtenen Zöpfen. Sie stehen auf den Stufen von Gebäuden, über die seit Jahrtausenden keine menschlichen Füße mehr gegangen sind. Sie sitzen auf steinernen oder metallenen Fenstersimsen, die sich unter dem Druck ihres unglaublichen Gewichts über Jahrzehnte hinweg zu verformen begonnen haben. Eine Steinesserin sitzt mit angezogenen Knien und darauf gestützten Ellbogen da, lehnt an einem Baum, dessen Wurzeln um sie herum gewachsen sind; Moose säumen die Oberfläche ihrer Arme und Haare. Sie beobachtet Nassun, nur ihre Augen bewegen sich, vielleicht aus Interesse.
Sie alle sehen zu, tun nichts, als dieses sich rasch bewegende, lärmige Menschenkind in dem salzbefrachteten Wind schluchzt, bis es erschöpft ist, und dann zusammengesunken dasitzt, die Finger in den Stoff von Schaffas Hemd gekrallt.
Ein anderer Tag, das gleiche (?) Jahr
Dieses Mal nichts über Innon oder Korund. Das ist von jetzt an tabu.
Syen. Ich kann sie immer noch spüren – nicht mentasten, spüren. Hier gibt es einen Obelisken, ich glaube, es ist ein Spinell. Wenn ich mich mit ihm verbunt verbinde, ist es, als würde ich alles spüren, mit dem sie verbunden sind. Der Amethyst folgt Syen. Ich frage mich, ob sie es weiß.
Antimon sagt, dass Syen es aufs Festland geschafft hat und umharwun umherwandert. Vermute, deshalb fühle ich mich so, als würde ich herumwandern. Sie ist alles, was übrig ist, aber sie li  – Scheiße.
Dieser Ort hier ist lächerlich. Hat Anniemon recht, dass es eine Möglichkeit ist, das Obelisk-Tor ohne Schaltung auszulösen? (Onyx. Zu mächtig, kann es nicht riskieren, würde die Ausrichtung zu schnell auslösen, und wer soll dann den zweiten Wechsel machen?) Aber die Rostverfluchten, die das gebaudt haben, haben alles in ds dumme Loch gesteckt. A hat mir was darüber erzählt. Großes Projekt, so’n Quatsch. Es zu sehen, ist allerdings noch schlimmer. Diese ganze rostverdammte Stadt ist ein Tatort. Bin rumgegangen und habe große riesige Rohre auf dem Meeresboden gefunden. rie RIESIG , bereit, irgendetwas aus dem Loch das ganze Stück bis zum Kontinent hochzupumpen. Magie, sagt Antimon, haben sie wirklich so viel gebraucht????? Mehr als das Tor!
Habe Tinnimon gefragt, ob sie mich heute ins Loch mitnimmt, und sie hat nein gesagt. Was ist in dem Loch, hm?
Kurz vor Sonnenuntergang taucht ein anderer Steinesser auf. Inmitten der elegant gekleideten, farbenfrohen Vielfalt seiner Leute hebt Stahl sich mit seiner grauen Färbung und der nackten Brust noch mehr ab. Er steht einige Minuten bei Nassun, vielleicht wartet er darauf, dass sie den Blick hebt und ihn bemerkt, aber das tut sie nicht. Dann sagt er: »Die Meereswinde können nachts sehr kalt sein.«
Schweigen. Ihre Hände packen Schaffas Hemd fester und lassen los, aber es ist kein richtiger Krampf. Sie ist einfach nur müde. Sie hält ihn seit dem Mittelpunkt der Erde fest.
Nach einer weiteren Weile sagt Stahl, während die Sonne sich zollweise auf den Horizont zubewegt: »In einem Gebäude zwei Blocks von hier gibt es eine bewohnbare Wohnung. Das Essen, das sich darin befindet, müsste noch genießbar sein.«
»Wo?« Nassuns Stimme ist rau. Sie braucht Wasser. Es ist noch etwas in ihrer Feldflasche und auch in Schaffas, aber sie hat keine der beiden geöffnet.
Stahl verändert seine Haltung und deutet in eine Richtung. Nassun hebt den Kopf, um dem Fingerzeig zu folgen, und sieht eine Straße hinab, die unnatürlich gerade ist, als wäre sie geradewegs bis zum Horizont gepflastert. Müde steht sie auf, packt Schaffa etwas fester und macht sich daran, ihn weiter hinter sich herzuziehen.
Wer ist im Loch, was ist im Loch, wohin führt das Loch, wie eingelocht bin ich?!
Steinesser haben heute besseres Essen gebracht, weil ich nicht genug esse. So besondere, auslieferungsfrrrrische Sachen von der anderen Seide der Welt. Werde die Samen trocknen und pflanzen. Daran denken, Tomaten zusammenzukrrrratzen, die ich auf A geworfen habe. Buchsprache sieht fast aus wie Sansilekt. Sind die Buchstaben ähnlich? Vorläufer? Einige Worte erkenne ich fast. Ein bisschen altes Eturpic, ein bisschen Hladdac, ein bisschen Regwo aus der frühen Dynastiezeit. Wünschte, Shinash wäre hier. Er würde schreien, wenn er sehen könnte, wie ich meine Füße auf Büchern ablege, die ewig alt sind. Immer so leicht zu provozieren. Vermisse ihn.
Vermisse alle, sogar Leute im rostverdammten Fulcrum (!) Vermisse Stimmen, die aus rostverdammten Mündern kommen. SYENIT könnte mich dazu bringen zu essen, du sprechender Fels. SYENIT bin ich am Arsch vorbeigegangen, und nicht nur weil ich diese Welt reparieren kann, die mir am Arsch vorbeigeht. SYENIT sollte hier bei mir sein, ich würde alles geben, um sie hier bei mir zu haben
Nein. Sie sollte mich und In Meov vergessen. Irgendeinen langweiligen Trottel finden, mit dem sie wirklich schlafen will. Ein langweiliges Leben haben. Sie hat es verdient.
In der Zeit, die Nassun braucht, um das Gebäude zu erreichen, wird es Nacht. Stahl stellt sich woandershin, taucht vor einem seltsam asymmetrischen, keilförmigen Gebäude auf, dessen Spitze sich dem Wind entgegenstellt. Das abfallende, im Windschatten liegende Dach des Gebäudes ist zottelig, völlig zugewuchert mit wirrer Vegetation. Auf dem Dach gibt es jede Menge Erde, mehr, als über Jahrhunderte hinweg durch den Wind dorthin getragen worden sein kann. Es wirkt geplant, wenn auch zugewachsen. Und doch erkennt Nassun, dass jemand inmitten dieses Durcheinanders einen Garten angelegt hat. Erst kürzlich; auch diese Pflanzen wuchern, neues Wachstum entspringt heruntergefallenen Früchten und aufgeplatzten Ranken, um die sich niemand kümmert, aber angesichts des kaum vorhandenen Unkrauts und der noch ordentlichen Reihen kann dieser Garten nicht länger als ein oder zwei Jahre ungepflegt geblieben sein. Die Fünftzeit ist jetzt beinahe zwei Jahre alt.
Später. Die Tür des Gebäudes bewegt sich von allein, gleitet zur Seite, als Nassun sich nähert. Sie schließt sich auch von allein, nachdem sie Schaffa weit genug ins Innere gezogen hat. Stahl ist ebenfalls dort, deutet nach oben. Sie zieht Schaffa an den Fuß der Treppe und lässt sich dann neben ihn sinken. Sie zittert, zu müde, um zu denken oder noch weiterzugehen.
Schaffas Herz ist immer noch stark, denkt sie, als sie seine Brust als Kopfkissen nutzt. Mit geschlossenen Augen kann sie sich fast vorstellen, dass er sie festhält und es nicht andersherum ist. Es ist ein armseliger Trost, aber er genügt, dass sie traumlos schlafen kann.
Die andere Seite der Welt
ist auf der anderen Seite des Lochs.
O
D
E
R
N
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C
H
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Am Morgen schafft Nassun Schaffa nach oben. Die Wohnung liegt glücklicherweise im zweiten Stock, und von der Treppe aus gelangt man durch eine Tür sofort hinein. In der Wohnung selbst kommt Nassun alles seltsam vor, und doch auch vertraut in der Funktionsweise. Da ist ein Sofa, aber die Rückenlehne befindet sich am einen Ende der langen Sitzfläche und nicht dahinter. Es gibt Stühle, von denen einer mit einer Art großem, geneigtem Tisch verschmolzen ist. Vielleicht dient er zum Zeichnen. Das Bett im angrenzenden Zimmer ist außerordentlich seltsam: eine große breite Halbkugel aus farbenfrohen Kissen ohne Laken oder Kopfkissen. Als Nassun sich zögernd darauflegt, stellt sie fest, dass es überraschend bequem ist. Es ist auch warm – heizt sich von allein unter ihr auf, bis die Schmerzen vom Schlafen auf der kalten Treppe vergehen. Wider Willen fasziniert, untersucht Nassun das Bett und stellt schockiert fest, dass es voller Magie ist und auch sie eingehüllt hat. Fäden aus Silber wandern über Nassun, finden ihre Beschwerden, indem sie ihre Nerven berühren und dann ihre Prellungen und Schrammen heilen; andere Fäden peitschen die Partikel des Bettes, bis die Reibung sie erwärmt; noch mehr Fäden suchen Nassuns Haut nach winzig kleinen trockenen Schuppen und Staubteilchen ab und schrubben sie weg. Es ist so ähnlich wie das, was sie tut, wenn sie das Silber zum Heilen benutzt, oder um etwas zu zerschneiden, aber es geschieht irgendwie von selbst. Sie hat keine Ahnung, wer ein Bett herstellen würde, das Magie ausüben kann. Sie kann sich nicht vorstellen, wieso jemand das tun sollte. Sie kann sich auch nicht vorstellen, wie irgendjemand all dieses Silber davon überzeugt hat, solche netten Dinge zu tun, aber genau das ist passiert. Kein Wunder, dass die Leute, die die Obelisken gebaut haben, so viel Silber gebraucht haben, wenn sie es statt einer Decke benutzt haben, oder statt ein Bad zu nehmen, oder statt ganz normal im Laufe der Zeit zu heilen.
Schaffa hat sich besudelt, stellt Nassun fest. Sie ist beschämt, weil sie ihm die Kleidung ausziehen und ihn waschen muss; sie nimmt dafür Tücher, die sie im Badezimmer findet. Es wäre allerdings schlimmer, ihn in seinem eigenen Dreck liegen zu lassen. Seine Augen sind wieder offen, aber er bewegt sich nicht, während sie sich an ihm zu schaffen macht. Sie haben sich im Laufe des Tages geöffnet, und sie schließen sich nachts, aber obwohl Nassun mit Schaffa redet (ihn anfleht, aufzuwachen; ihn bittet, ihr zu helfen; ihm sagt, dass sie ihn braucht), antwortet er nicht.
Sie schafft es, ihn ins Bett zu befördern, lässt ein Polster aus Stoff unter seinem nackten Hintern liegen und etwas Wasser aus den Feldflaschen in seinen Mund rinnen, und als sie leer sind, versucht sie vorsichtig, Wasser aus der seltsamen Wasserpumpe in der Küche zu bekommen. Es gibt weder Hebel noch Griffe daran, aber als sie ihre Feldflasche unter den Wasserhahn hält, kommt plötzlich Wasser heraus. Sie ist ein gewissenhaftes Mädchen. Zuerst stellt sie mit dem Puder in ihrem Laufsack einen Becher Gewiss her, um nach Verunreinigungen zu suchen. Das Gewiss löst sich auf, bleibt aber trüb und weiß, deshalb trinkt sie selbst einige Schlucke, und dann bringt sie etwas zu Schaffa. Er trinkt bereitwillig, was wahrscheinlich bedeutet, dass er wirklich durstig ist. Sie gibt ihm Rosinen, die sie erst in Wasser tunkt, und er kaut und schluckt, wenn auch langsam und ohne Eifer. Sie war bisher nicht besonders gut darin, sich um ihn zu kümmern.
Sie wird sich bessern, beschließt sie, und eilt nach draußen in den Garten, um für sie beide etwas zu essen zu besorgen.
Syenit hat mir das Datum genannt. Sechs Jahre. Es ist sechs Jahre her? Kein Wunder, dass sie so wütend ist. Hat mir gesagt, ich soll in ein Loch springen, da es so lange her ist. Sie will mich nicht wiedersehen. Wie hartherzig. Hab ihr gesagt, dass es mir leidtut. Mein Fehler, das alles.
Mein Fehler. Mein Mond. Habe heute den Ersatzschlüssel umgedreht. (Sichtlinien, Kraftlinien, drei mal drei mal drei? Würfelförmige Anordnung, wie ein gutes kleines Kristallgitter.) Der Schlüssel schließt das Tor auf. Es ist aber gefährlich, so viele Obelisken nach Yumenes zu bringen; überall sind Wächter. Ich würde nicht die Zeit haben, bevor sie mich kriegen. Besser, einen Ersatzschlüssel aus Orogenen zu machen, und wen kann ich benutzen? Wer ist stark genug? Syen nicht; fast, aber nicht ganz. Innon nicht. Koru ja, aber ich kann ihn nicht finden. Er ist ohnehin noch ein Baby, deshalb ist es nicht richtig. Babys. Viele Babys. Knoten-Arbeiter? Knoten-Arbeiter!
Nein. Die haben genug gelitten. Nutze stattdessen die Erfahrenen des Fulcrums.
Oder die Knoten-Arbeiter.
Warum sollte ich es hier tun? Verstopft das Loch. Mach es dort, a… Hol dir Yumenes. Hol das Fulcrum. Hol eine Menge Wächter.
Hör auf, so an mir rumzunörgeln, Frau. Geh und sag Innon, dass er dich ficken soll, oder irgend so was. Du bist immer so gereizt, wenn du nicht flachgelegt wurdest. Ich werde morgen in das Loch springen.
Routine stellt sich ein.
Morgens kümmert sie sich um Schaffa, geht dann am Nachmittag nach draußen, um die Stadt zu erkunden und brauchbare Dinge zu suchen. Es ist nicht nötig, Schaffa zu baden oder ihn von seinen Ausscheidungen zu säubern. Erstaunlicherweise kümmert sich das Bett auch darum. Also kann Nassun die Zeit nutzen, mit ihm zu sprechen und ihn zu bitten, aufzuwachen. Ihm zu sagen, dass sie nicht weiß, was sie tun soll.
Stahl verschwindet wieder. Es ist ihr gleich.
Andere Steinesser tauchen regelmäßig auf, oder zumindest bekommt sie die Auswirkungen ihrer Anwesenheit mit. So wird sie eines Morgens auf dem Sofa wach, auf dem sie schläft, und findet eine Decke über sich gebreitet. Sie ist schlicht und grau, aber warm, und Nassun ist dankbar dafür. Als sie anfängt, aus einer Wurst das Fett zu entfernen, um Talg herzustellen, weil die Kerzen aus ihrem Laufsack allmählich zur Neige gehen, findet sie einen Steinesser bei der Treppe, dessen Finger zu einer freundlichen, sie heranwinkenden Geste gekrümmt sind. Sie folgt der Geste und findet sich vor einer Tafel wieder, die mit seltsamen Symbolen übersät ist. Der Steinesser deutet auf eines, und als Nassun es berührt, leuchtet es silbern auf, glüht golden und schickt suchende Fäden über ihre Haut. Bevor der Steinesser verschwindet, sagt er noch etwas in einer Sprache, die Nassun nicht versteht, aber als sie in die Wohnung zurückkehrt, ist es dort wärmer, und sanftes, weißes Licht dringt von oben herein. Wenn sie bestimmte Quadrate an der Wand berührt, gehen die Lichter aus.
Eines Nachmittags geht sie in die Wohnung und findet einen Steinesser neben einem Haufen Dinge, die aussehen, als würden sie aus dem Lagerversteck irgendeiner Gem stammen: Leinensäcke voll mit Wurzelgemüse und Pilzen und getrockneten Früchten, ein großes rundes Stück scharfer weißer Käse, Ledertaschen mit Pemmikan, Beutel mit Reis und getrockneten Bohnen und einen kleinen Behälter mit kostbarem Salz. Der Steinesser verschwindet wieder, als Nassun sich den Sachen nähert, daher kann sie ihm nicht einmal danken. Bevor sie die Dinge wegpackt, pustet sie die Asche weg, die sich auf ihnen gesammelt hat.
Nassun hat begriffen, dass sowohl die Wohnung als auch der Garten noch bis vor Kurzem benutzt worden sind. Überall findet sie die Reste vom Leben eines anderen Menschen: In den Schubladen liegen Hosen, die viel zu groß für sie sind, gleich daneben die Unterwäsche eines Mannes. (Eines Tages liegen an dieser Stelle Kleidungsstücke, die Nassun passen. Ein anderer Steinesser? Vielleicht ist aber auch die Magie in dieser Wohnung sehr viel ausgeklügelter, als sie bisher angenommen hat.) In einem der Zimmer sind Bücher aufgestapelt, von denen viele zu Kernpunkt gehören – Nassun erkennt langsam das charakteristische, saubere, nicht ganz natürliche Aussehen der Kernpunkt-Dinge. Ein paar Bücher sehen allerdings normal aus und haben Buchrücken aus aufplatzendem Leder und Seiten, die nach Chemikalien stinken und mit Tinte handschriftlich beschrieben sind. Einige Bücher sind in einer Sprache verfasst, die sie nicht lesen kann. Irgendeine Küstensprache.
Eines allerdings besteht zwar aus Kernpunkt-Material, aber die leeren Seiten sind handschriftlich in Sansilekt beschrieben. Nassun schlägt es auf, setzt sich hin und liest:
BIN
INS LOCH
GEGANGEN
BEGRABE
mich nicht
bitte TU ES NICHT , Syen, ich liebe dich, es tut mir leid, verwahre mich sicher, pass auf mich auf und ich pass auf dich auf, es gibt sonst niemanden, der so stark ist wie du, ich wünschte mir so sehr, du wärst hier, bitte TU ES NICHT
Kernpunkt ist eine Stadt wie in einem Stillleben.
Nassun beginnt, die Zeit aus den Augen zu verlieren. Hin und wieder sprechen die Steinesser mit ihr, aber die meisten kennen ihre Sprache nicht, und sie hört zu wenig von ihrer, um sie lernen zu können. Manchmal sieht sie ihnen zu; es fasziniert sie, als ihr klar wird, dass einige von ihnen bestimmte Aufgaben erfüllen. Sie beobachtet eine malachitgrüne Frau, die inmitten der windgepeitschten Bäume steht, und begreift erst später, dass die Frau einen Ast festhält, um ihn auf eine bestimmte Weise wachsen zu lassen. Sämtliche Bäume, die windgepeitscht aussehen und doch ein bisschen zu dramatisch wirken, sich ein bisschen zu kunstvoll verästeln und krümmen, sind auf diese Weise geformt worden. Es muss Jahre dauern.
Und am Rand der Stadt, bei einem der seltsamen speichenähnlichen Dinger, die vom Rand ins Wasser ragen – keine richtigen Kais, nur gerade Metallstücke, die keinen Sinn ergeben –, steht jeden Tag ein anderer Steinesser und hält eine Hand hoch. Nassun ist gerade zufällig da, als der Steinesser verschwimmt und es platsch macht und er plötzlich mit der erhobenen Hand einen riesigen, zappelnden Fisch am Schwanz hochhält, der so lang wie sein eigener Körper ist. Seine Marmorhaut ist von einem dünnen Wasserfilm überzogen. Nassun hat nichts Besonderes zu tun, deshalb setzt sie sich hin und sieht zu. Nach einiger Zeit kommt ein Meeressäugetier zum Rand der Stadt – sie hat von diesen Kreaturen gelesen, die wie Fische aussehen, aber Luft atmen. Diese Kreatur ist grauhäutig und röhrenförmig; in ihrem Kiefer befinden sich unzählige scharfe, kleine Zähne. Als sie sich aus dem Wasser schiebt, sieht Nassun, dass sie sehr alt ist, und etwas an der tastenden Bewegung des Kopfes lässt sie vermuten, dass sie blind ist. Eine alte Narbe ist auf ihrer Stirn; jemand hat sie schwer am Kopf verletzt. Die Kreatur stupst den Steinesser an, der sich natürlich nicht bewegt, und schnappt dann nach dem Fisch in seiner Hand, reißt Stücke heraus und schluckt sie, bis der Steinesser den Schwanz loslässt. Danach stößt die Kreatur ein komplexes, hohes Geräusch aus, wie ein … Gezwitscher? Oder Lachen. Dann gleitet sie wieder ins Wasser und schwimmt davon.
Der Steinesser zwinkert und sieht Nassun an. Neugierig geworden, steht Nassun auf, um zu ihm zu gehen und mit ihm zu sprechen. Aber als sie steht, ist er verschwunden.
So viel hat sie inzwischen verstanden: dass hier, unter diesen Leuten, Leben herrscht. Es ist nicht das Leben, wie sie es kennt, und auch kein Leben, für das sie sich entscheiden würde, aber trotzdem ist es Leben. Das verschafft ihr Trost, seit Schaffa ihr nicht mehr sagen kann, dass alles in Ordnung und sie in Sicherheit ist. Das und die Stille geben ihr die Zeit zu trauern. Sie hatte nicht gewusst, dass sie das braucht.
Ich habe mich entschieden.
Es ist falsch. Alles ist falsch. Einige Dinge sind so zerbrochen, dass man sie nicht reparieren kann. Man muss sie einfach beenden, ihnen den Gnadenstoß geben, die Trümmer beseitigen und von vorn anfangen. Antimon stimmt mir zu. Einige der anderen SE auch. Manche nicht.
Zum Rost mit denen. Sie haben mir mein Leben genommen, um mich zu ihrer Waffe zu machen, denn das ist es, was ich sein werde. Meine Entscheidung. Mein Gebot. Wir werden es in Yumenes tun. Ein Gebot ist in Stein gemeißelt.
Ich habe heute nach Syen gefragt. Weiß nicht, warum mich das noch interessiert. Antimon behält sie immer noch im Auge. (Für mich?) Syenit lebt in irgendeinem kleinen Dreckloch von einer Gem in den Südmittbreiten, den Namen habe ich vergessen, und spielt dort Krippenlehrerin. Spielt den glücklichen kleinen Stillkopf. Ist verheiratet und hat zwei neue Kinder. Wer hätte das gedacht. Bin mir bei der Tochter nicht sicher, aber der Junge zieht den Aquamarin an.
Erstaunlich. Kein Wunder, dass das Fulcrum dich zur Zucht mit mir zusammengebracht hat. Und wir haben trotz allem ein wunderschönes Kind gemacht, oder? Mein Junge.
Ich lasse nicht zu, dass sie deinen Jungen finden, Syen. Ich lasse nicht zu, dass sie ihn mitnehmen und sein Hirn verbrennen und ihn auf den Drahtstuhl schnallen. Ich lasse auch nicht zu, dass sie deine Tochter finden, wenn sie eine von uns ist, selbst dann nicht, wenn sie Wächter-Potenzial hat. Es wird kein Fulcrum mehr geben, wenn ich fertig bin. Was dann folgt, wird nicht gut sein, aber es wird für alle gleichermaßen schlecht sein – für Reiche und Arme, Äquatoriale und Gemlose, Sansi und Arktische, sie alle werden es dann wissen. Für uns ist jede Jahreszeit wie eine Fünftzeit. Die niemals endende Apokalypse. Wir könnten alle in Sicherheit sein und gemütlich zusammenleben, zusammen überleben, aber das wollten sie nicht. Jetzt wird niemand in Sicherheit sein. Vielleicht ist es nötig, damit sie endlich begreifen, dass die Dinge sich geändert haben.
Dann werde ich es stilllegen und den Mond zurückbringen. (Diese erste Neuausrichtung der Flugbahn sollte mich nicht versteinern. Solange ich nicht unterschätze Sollte sie nicht.) Ist eh das Einzige, für das ich rostverdammt gut bin.
Danach … hängt es an dir, Syen. Mach die Welt besser. Ich weiß, ich habe dir gesagt, dass es unmöglich ist, dass es keine Möglichkeit gibt, die Welt besser zu machen, aber ich habe mich geirrt. Ich zerbreche sie, weil ich mich geirrt habe. Wieder von vorn anfangen, du hattest recht, sie verändern. Mach sie besser für die Kinder, die du noch hast. Mach eine Welt, in der Korund hätte glücklich sein können. Mach eine Welt, in der Leute wie wir, du und ich und Innon und unser süßer Junge, unser wunderschöner Junge, hätten unversehrt bleiben können.
Antimon sagt, ich würde diese Welt vielleicht einmal sehen können. Mal schauen. Rostverdammt. Ich prokrastiniere. Sie wartet. Heute geht es zurück nach Yumenes.
Für dich, Innon. Für dich, Koru. Für dich, Syen.
Nachts kann Nassun den Mond sehen.
Sie hat sich erschrocken, als sie eines Abends zum ersten Mal rausgegangen ist und gemerkt hat, dass ein seltsam fahles weißes Licht den Straßen und Bäumen der Stadt Konturen verlieh, und dann beim Blick zum Himmel eine große, weiße Kugel gesehen hat. Sie kommt ihr gewaltig vor – größer als die Sonne, weit größer als die Sterne, gefolgt von einem schwachen Streifen aus Nachleuchten; sie weiß nicht, dass das von dem Eis stammt, das im Laufe der Mondreisen an seiner Oberfläche haften geblieben ist und teilweise gasförmig wird. Die wahre Überraschung ist das Weiß . Sie weiß gar nichts über den Mond – nur das, was Schaffa ihr erzählt hat. Er ist ein Satellit, hat er gesagt, das verlorene Kind von Vater Erde, ein Ding, dessen Licht die Sonne reflektiert. Deshalb war Nassun davon ausgegangen, dass der Mond gelblich ist. Es beunruhigt sie, dass sie sich so geirrt hat.
Noch mehr beunruhigt sie, dass in dem Ding ein Loch ist, fast direkt in seinem toten Zentrum: eine große, gähnende Dunkelheit wie die stecknadelgroße Pupille eines Auges. Es ist zu klein von hier aus, aber Nassun denkt, wenn sie es lange genug anstarrt, kann sie vielleicht durch dieses Loch hindurch Sterne auf der anderen Seite des Mondes sehen.
Irgendwie passt es. Was auch immer vor etlichen Zeitaltern passiert ist und den Verlust des Mondes bewirkt hat, war sicherlich auf vielen Ebenen eine Katastrophe. Wenn die Erde das Zerschmettern erlitten hat, ist es nur folgerichtig, dass auch der Mond Narben davongetragen hat. Mit einem Daumen reibt Nassun die Innenfläche der Hand, deren Knochen ihre Mutter ihr vor einem ganzen Leben gebrochen hat.
Und wie sie so im Dachgarten steht und den Mond anstarrt, fängt sie an, ihn wunderschön zu finden. Er ist ein eisweißes Auge, und sie hat keinen Grund, von denen schlecht zu denken. Wie das Silber, wenn es in so etwas wie einem Schneckenhaus wirbelt. Es erinnert sie an Schaffa, der auf seine Weise über sie wacht – und dass der Mond dies auch tut, ist eine Vorstellung, bei der sie sich weniger allein fühlt.
Nach und nach findet Nassun heraus, dass sie die Obelisken benutzen kann, um ein Gefühl für den Mond zu bekommen. Der Saphir ist auf der anderen Seite der Welt, aber hier über dem Ozean sind andere, die als Antwort auf ihren Ruf näher gekommen sind, und sie hat sie der Reihe nach einzeln angetippt und gebändigt. Die Obelisken helfen ihr dabei, zu spüren (nicht zu mentasten), dass der Mond schon bald dort sein wird, wo er der Erde am nächsten ist. Wenn sie den Moment verstreichen lässt, wird er vorbeiziehen und rasch kleiner werden, bis er ganz vom Himmel verschwunden sein wird. Oder Nassun öffnet das Tor und zieht an ihm und verändert alles. Die Grausamkeit des bisherigen Zustands, oder der Trost des Vergessens. Die Entscheidung fühlt sich so klar an … abgesehen von einer Sache.
Als sie eines Nachts dasitzt und die große, weiße Kugel anstarrt, fragt sie laut: »Es war Absicht, oder? Du hast mir nicht gesagt, was mit Schaffa passieren wird, damit du ihn loswirst.«
Der Berg, der sich ganz in der Nähe aufgehalten hat, verlagert sich leicht, nimmt eine Position hinter ihr ein. »Ich habe versucht, dich zu warnen.«
Sie dreht sich zu ihm um. Angesichts ihres Gesichtsausdrucks gibt er ein leises Lachen von sich, das selbstironisch klingt. Er hört damit auf, als sie sagt: »Wenn er stirbt, hasse ich dich noch mehr als die Welt.«
Es ist ein Zermürbungskrieg, wie ihr klar geworden ist, und sie wird ihn verlieren. In den Wochen (?) oder Monaten (?), seit sie nach Kernpunkt gekommen sind, hat Schaffas Zustand sich deutlich verschlechtert; seine Haut hat eine hässliche Blässe angenommen, seine Haare sind spröde und matt geworden. Menschen sind nicht dafür gemacht, wochenlang reglos dazuliegen und zu blinzeln, ohne zu denken. Sie hatte ihm früher an diesem Tag die Haare geschnitten. Das Bett zieht zwar den Schmutz heraus, aber sie sind fettig geworden und verhedderten sich andauernd. Am Tag zuvor mussten sich ein paar Strähnen um seinen Arm gewunden haben, als sie ihn auf den Bauch gedreht hat, und die Blutzirkulation abgeschnitten haben, ohne dass sie es bemerkte. (Sie deckt ihn immer mit einem Laken zu, auch wenn sie weiß, dass das Bett warm und es nicht nötig ist. Es stört sie, dass er nackt und würdelos ist.) Als sie diesen Morgen das Problem endlich bemerkt hat, war der Arm blass und ein bisschen grau. Sie hat ihn befreit, ihn gerieben in der Hoffnung, dass die Farbe zurückkehren würde, aber es sieht nicht gut aus. Sie weiß nicht, was sie tun soll, wenn mit seinem Arm wirklich etwas nicht in Ordnung ist. Sie könnte ihn auf diese Weise verlieren, langsam, aber sicher; er könnte stückweise sterben, weil sie fast neun war, als die Fünftzeit begonnen hat, und jetzt fast elf ist, und niemand ihr in der Krippe beigebracht hat, wie man sich um Invaliden kümmert.
»Wenn er lebt«, erwidert Stahl mit seiner ausdruckslosen Stimme, »wird er nie wieder einen Moment ohne Qual haben.« Er macht eine Pause, die grauen Augen sind fest auf ihr Gesicht gerichtet, und seine Worte hallen in Nassun wider wie ihre eigene Leugnung, ihre zunehmende, Übelkeit erregende Furcht, dass Stahl recht hat.
Nassun steht auf. »Ich m-muss wissen, wie ich ihn in Ordnung bringen kann.«
»Das kannst du nicht.«
Sie ballt ihre Hände zu Fäusten. Zum ersten Mal seit gefühlten Jahrhunderten greift ein Teil von ihr nach der Gesteinsschicht um sie herum aus. Nach dem Schildvulkan unter Kernpunkt … aber als sie ihn orogenisch »ergreift«, stellt sie überrascht fest, dass er verankert ist. Dies lenkt sie einen Moment ab, da sie ihre Wahrnehmung ändern und auf das Silber verlagern muss – und dort findet sie feste, funkelnde Säulen aus Magie, die tief in das Fundament des Vulkans getrieben sind, ihn an Ort und Stelle halten. Er ist immer noch aktiv, aber aufgrund dieser Säulen wird er niemals ausbrechen. Er ist so stabil wie Grundgestein, trotz des Lochs in seinem Kern, das bis hinunter zum Herzen der Erde reicht.
Sie schüttelt diese Erkenntnis als unwichtig ab und spricht schließlich den Gedanken aus, der sich in ihrem Geist sammelt, seit sie in dieser Stadt der Steinesser lebt. »Wenn … wenn ich ihn in einen Steinesser verwandle, wird er leben. Und er wird keine Schmerzen mehr haben. Richtig?« Stahl antwortet nicht. In der sich in die Länge ziehenden Stille beißt Nassun sich auf die Lippe. »Dann musst du mir sagen, wie ich ihn … wie ich ihn wie dich machen kann. Ich wette, ich kann es, wenn ich das Tor benutze. Ich kann alles damit tun. Es sei denn …«
Es sei denn. Das Obelisk-Tor kann keine kleinen Dinge tun. So, wie Nassun spürt, mentastet, weiß, dass das Tor sie vorübergehend allmächtig macht, weiß sie auch, dass sie es nicht dazu benutzen kann, nur einen einzigen Menschen zu transformieren. Wenn sie Schaffa zu einem Steinesser macht … wird sich auch jeder andere Mensch auf dem Planeten verwandeln. Jede Gem, jede gemlose Bande, jeder hungernde Wanderer: Zehntausend Stillleben-Städte, nicht nur eine. Die ganze Welt wird wie Kernpunkt werden.
Aber wäre das wirklich so schrecklich? Wenn jeder ein Steinesser ist, wird es keine Orogenen und keine Stillköpfe mehr geben. Dann müssen keine Kinder mehr sterben, keine Väter sie mehr ermorden. Die Fünftzeiten könnten kommen und gehen, und es würde keine Rolle spielen. Niemand würde jemals wieder verhungern. Die Welt zu einem so friedvollen Ort zu machen wie Kernpunkt … wäre das nicht eine Gefälligkeit?
Stahls Gesicht, das dem Mond zugewandt ist, während seine Augen sie beobachten, dreht sich jetzt langsam herum, und er sieht sie richtig an. Es macht sie immer nervös, wenn er sich so langsam bewegt. »Weißt du, wie es sich anfühlt, ewig zu leben?«
Nassun blinzelt irritiert. Sie hat mit einem Kampf gerechnet. »Was?«
Das Mondlicht verwandelt Stahl in etwas, das aus schroffen Schatten besteht, aus Weiß und Tusche vor dem Dämmerlicht des Gartens. »Ich habe gefragt« – seine Stimme klingt beinahe angenehm –, »ob du weißt, wie es sich anfühlt, wenn man ewig lebt. So wie ich. So wie dein Schaffa. Hast du irgendeine Ahnung, wie alt er ist? Interessiert es dich?«
»Ich –« Nassun will sagen, dass es das tut, aber sie gerät ins Stocken. Nein. Sie hat noch nie darüber nachgedacht. »Ich … es ist nicht …«
»Ich würde schätzen«, sagt Stahl, »dass Wächter üblicherweise drei- bis viertausend Jahre fortdauern. Kannst du dir eine so lange Zeit vorstellen? Denk an die letzten zwei Jahre. An dein Leben seit dem Beginn der Fünftzeit. Stell dir noch ein Jahr vor. Das kannst du, oder? Jeder Tag fühlt sich so an wie ein Jahr hier in Kernpunkt, zumindest sagt deine Art mir das. Jetzt nimm all diese drei Jahre zusammen und stell sie dir mal eintausend vor.« Seine Worte sind nachdrücklich und präzise formuliert. Wider Willen zuckt Nassun zusammen.
Aber ebenfalls wider Willen … denkt sie nach. Sie fühlt sich alt, in dem lebensüberdrüssigen Alter von nicht ganz elf Jahren. So viel ist passiert seit dem Tag, als sie nach Hause gekommen ist und ihren kleinen Bruder tot auf dem Boden vorgefunden hat. Sie ist jetzt ein anderer Mensch, kaum noch Nassun; manchmal ist sie überrascht, wenn sie begreift, dass Nassun immer noch ihr Name ist. Wie viel anders wird sie in drei Jahren sein? In zehn? Zwanzig?
Stahl schweigt, bis er eine Veränderung in ihrer Miene bemerkt – einen Hinweis, dass sie ihm zuhört. Dann sagt er: »Ich habe allerdings Grund zu glauben, dass dein Schaffa noch sehr viel älter als die meisten Wächter ist. Er zählt nicht ganz zur ersten Generation; die sind alle seit Langem tot. Konnten es nicht ertragen. Er ist aber einer der sehr frühen. Die Sprachen, verstehst du; daran kann man es immer erkennen. Sie verlernen sie niemals ganz, nicht einmal, wenn sie die Namen vergessen haben, mit denen sie geboren wurden.«
Nassun erinnert sich daran, dass Schaffa die Sprache des Fahrzeugs gekannt hat, mit dem sie durch die Erde gereist sind. Es ist seltsam, sich vorzustellen, dass Schaffa schon geboren worden war, als diese Sprache noch gesprochen wurde. Es würde ihn … sie kann sich nicht vorstellen, zu was es ihn machen würde. Alt-Sansia, so heißt es, ist sieben Fünftzeiten alt, acht, wenn man die gegenwärtige mit einbezieht. Beinahe dreitausend Jahre. Der Mondzyklus von Rückkehr und Rückzug ist noch viel älter, und Schaffa erinnert sich daran, also … ja. Er ist sehr, sehr alt. Sie runzelt die Stirn.
»Es kommt selten vor, dass einer von ihnen einen solchen Zeitraum schafft«, spricht Stahl weiter. Seine Stimme klingt beiläufig, plaudernd, als würde er über Nassuns alte Nachbarn in Jekity reden. »Der Kernstein tut ihnen weh, verstehst du? Sie werden müde, und dann werden sie nachlässig, und dann beginnt die Erde, sie zu vergiften, ihren Willen wegzuessen. Wenn das erst mal angefangen hat, leben sie meistens nicht mehr lange. Die Erde benutzt sie, oder andere Wächter benutzen sie, bis sie ihre Nützlichkeit überlebt haben und die eine oder andere Seite sie tötet. Es ist ein Beweis für die Kraft deines Schaffa, dass er so viel länger durchgehalten hat. Oder ein Beweis für etwas anderes. Was die Übrigen tötet, ist der Verlust von dem, was gewöhnliche Menschen brauchen, um glücklich zu sein. Stell dir vor, wie das ist, Nassun. Zuzusehen, wie alle, die du kennst und aus denen du dir etwas machst, sterben. Zuzusehen, wie dein Zuhause stirbt, und du dir ein neues suchen musst – wieder und wieder und wieder. Stell dir vor, dass du dich niemals mehr traust, einem anderen Menschen nahezukommen. Niemals mehr Freunde hast, weil du sie alle überleben wirst. Bist du einsam, kleine Nassun?«
Sie hat ihre Wut vergessen. »Ja«, gesteht sie, ohne zu zögern.
»Stell dir vor, du bist für immer einsam.« Auf seinen Lippen liegt ein sehr leichtes Lächeln. Es ist schon die ganze Zeit dort. »Stell dir vor, du würdest für immer hier in Kernpunkt leben, ohne jemanden außer mir zum Sprechen zu haben – sofern ich mich dazu herablasse, mit dir zu sprechen. Was denkst du, wie sich das anfühlt, Nassun?«
»Schrecklich«, sagt sie, jetzt ganz leise.
»Ja. Also, das ist meine Theorie: Ich glaube, dein Schaffa hat so lange überlebt, weil er seine Schützlinge geliebt hat. Du und andere wie du haben seine Einsamkeit gemildert. Er liebt dich wirklich; zweifle niemals daran.« Nassun schluckt einen dumpfen Schmerz hinunter. »Aber er braucht dich auch. Du hilfst ihm, glücklich zu bleiben. Du hilfst ihm, menschlich zu bleiben, da er sich ansonsten längst in etwas anderes verwandelt hätte.«
Dann bewegt Stahl sich wieder. Es wirkt unmenschlich, weil es so gleichmäßig ist, begreift Nassun. Menschen machen große Bewegungen schnell und werden bei feinen langsamer. Stahl macht alles in der gleichen Geschwindigkeit. Ihm zuzusehen, ist, als würde sie eine Statue beim Schmelzen beobachten. Aber dann steht er mit ausgebreiteten Armen da, als wollte er sagen: Sieh mich an.
»Ich bin vierzigtausend Jahre alt«, sagt Stahl, »plus/minus ein paar Tausend.«
Nassun starrt ihn an. Die Worte klingen wie das Geschwafel des Vehimals – beinahe unverständlich. Unecht.
Aber wie fühlt es sich an?
»Du wirst sterben, wenn du das Tor öffnest«, sagt Stahl, nachdem er Nassun einen Moment Zeit gelassen hat, seine Worte zu verarbeiten. »Und wenn nicht dabei, dann später. Ein paar Jahrzehnte, ein paar Minuten, es ist egal. Und was immer du tust, Schaffa wird dich verlieren. Er wird das Einzige verlieren, was ihn menschlich gehalten hat, während die Erde versucht, seinen Willen zu verschlingen. Er wird auch niemanden sonst finden, die oder den er lieben könnte – nicht hier. Und er wird nicht zur Stille zurückkehren können, solange er nicht erneut die Fahrt durch die Tiefe Erde riskieren will. Ob er also irgendwie heilt oder du ihn in jemanden von meiner Art verwandelst, er wird keine Wahl haben, als weiterzumachen, allein, sich ewig nach etwas sehnend, das er nie wieder haben wird.« Langsam lässt Stahl die Arme an den Seiten sinken. »Du weißt nicht im Geringsten, wie das ist.«
Und dann, schlagartig und schockierend, steht er direkt vor Nassun. Kein Verschwimmen, keine Warnung, nur ein Flackern, und er ist da, von der Taille an gebeugt, um sein Gesicht direkt vor ihres zu bringen, so nah, dass sie die verdrängte Luft spüren, den Hauch von Lehm riechen kann. Sie sieht sogar die Iriden seiner Augen, die in Schichten aus Grau gestreift sind.
» ABER ICH WEIß ES !«, ruft er.
Nassun stolpert zurück und schreit. Zwischen dem einen Blinzeln und dem nächsten kehrt Stahl zu seiner vorherigen Position zurück, steht aufrecht da, die Arme an den Seiten, ein Lächeln auf den Lippen.
»Denk also genau nach.« Seine Stimme klingt wieder nach leichtem Plauderton, als wäre nichts geschehen. »Denk mit etwas mehr nach als der Selbstsucht eines Kindes, kleine Nassun. Und frage dich: Selbst wenn ich dir helfen könnte, diesen kontrollsüchtigen, sadistischen Sack Scheiße zu retten, der gegenwärtig als dein Adoptivvater durchgeht, warum sollte ich das tun? Nicht einmal mein Feind hat ein solches Schicksal verdient. Niemand hat das.«
Nassun zittert immer noch. Sie platzt mutig heraus: »Sch-Schaffa könnte leben wollen.«
»Das könnte er. Aber sollte er es? Sollte das irgendwer, für immer? Das ist die Frage.«
Sie fühlt das fehlende Gewicht von unzähligen Jahren und ist seltsam beschämt, weil sie ein Kind ist. Aber in ihrem Kern ist sie ein freundliches Kind, und es ist ihr unmöglich, Stahls Geschichte zu hören, und nichts weiter zu empfinden als ihre übliche Wut auf ihn. Sie sieht unruhig zur Seite. »Es … tut mir leid.«
»Mir auch.« Einen Moment lang herrscht Schweigen. Nassun nutzt ihn, um sich zu sammeln. Als sie Stahl schließlich wieder ansieht, ist sein Lächeln verschwunden.
»Ich kann dich nicht aufhalten, wenn du das Tor erst geöffnet hast«, sagt er. »Ich habe dich manipuliert, ja, aber die Entscheidung liegt letztendlich bei dir. Bedenke aber: Ich werde leben, bis die Erde stirbt, Nassun. Das war ihre Bestrafung für uns: Wir wurden ein Teil von ihr, unsere Schicksale sind aneinandergekettet. Die Erde vergisst weder diejenigen, die ihr in den Rücken gestochen haben, noch diejenigen, die uns das Messer in die Hand gaben.«
Nassun blinzelt bei uns . Aber sie verliert diesen Gedanken, als sie unglücklich begreift, dass es keine Möglichkeit gibt, Schaffa in Ordnung zu bringen. Bis jetzt hat irgendein Teil von ihr die irrationale Hoffnung genährt, dass Stahl, als Erwachsener, alle Antworten haben würde, einschließlich irgendeiner Art Heilmittel. Jetzt weiß sie, dass ihre Hoffnung dumm war. Kindisch. Sie ist ein Kind. Und jetzt wird der einzige Erwachsene, auf den sie sich wirklich hat verlassen können, nackt und verletzt und hilflos sterben, ohne eine Möglichkeit, ihr Lebewohl zu sagen.
Es ist zu viel, um es ertragen zu können. Sie sinkt in die Hocke, schlingt einen Arm um die Knie und legt den anderen über den Kopf, damit Stahl sie nicht weinen sieht, auch wenn er genau weiß, dass sie es tut.
Er stößt ein leises Lachen aus. Überraschenderweise klingt es nicht grausam.
»Du erreichst nichts damit, wenn du irgendeinen von uns am Leben hältst«, sagt er, »außer Grausamkeit. Befreie uns gebrochene Monster aus unserem Elend, Nassun. Die Erde, Schaffa, mich, dich … uns alle.«
Dann verschwindet er und lässt Nassun unter dem weißen, wachsenden Mond allein zurück.