»Kinder faszinieren deshalb alle Erwachsenen so sehr, weil sie den Himmel in den Augen tragen. Ältere Menschen machen eher den Eindruck, als sei der Himmel ihnen auf den Kopf gefallen.«
Hildegard Boeder
Der Begriff »Kindergarten« ist zurückzuführen auf Friedrich Fröbel. Dieser Begriff ist sinnbildlich gemeint, denn wie in einem natürlichen Garten sollen sich Kinder entwickeln können. Das deutsche Wort »Kindergarten« hat sich auch im englischen und französischen Sprachraum verbreitet.
Tim saß im grünen Gras und schaute vor sich hin. Käfer krabbelten herum. Tim war vertieft in das, was er da sah. Nach und nach nahm er einen nach dem anderen Käfer auf, riss ihnen ein oder zwei der zappelnden Beine aus und ließ sie wieder fallen. Tim verstand nicht, weshalb alle Erwachsenen um ihn herum entsetzt waren.
Auch Luise war im Garten. Es hatte geregnet und sie staunte: Auf dem Weg waren zwei Nacktschnecken. Ihr wurde erklärt, dass eine Schnecke, die sich – wenn auch langsam – bewegt, lebendig ist. Die andere, die zunehmend verschrumpelte, war tot. Als Luise nach Hause kam, sagte sie: »Mama, in dem Garten waren zwei Schnecken, eine war tot und die andere war noch gut!«
Drei Jahre sind – je nach Alter und Sichtweise – entweder eine ganz kurze oder eine ganz lange Zeit. Für ein drei Jahre altes Kind sind die Jahre, die es schon erlebt hat, eine sehr lange Zeit. Irgendwann taucht es aus einem Nebel auf und dann setzt die erste bewusste Erinnerung ein. Diese ist oftmals mit einem Schrecken verbunden. Einige Erwachsene erinnern sich daran, wie sie mit dem Dreirad einen Unfall gebaut haben, andere haben sich als Kind verletzt und erinnern sich an eine blutende Wunde oder daran, wie sie in eine ungewohnte und völlig neue Umgebung versetzt wurden. Die bewusste Erinnerung scheint in den meisten Fällen mit einer bewegenden Emotion einherzugehen. Auch Wut und Zorn als Auslöser sind dabei möglich. Oftmals sind es später Erinnerungsfragmente, die wie in Momentaufnahmen Erwachsene ihre eigene Kindheit wie Puzzleteile zusammensetzen lassen.
Vieles hat ein Mensch zu lernen, bis er gereift im Garten sitzt und Schnecken oder Käfer beobachtet und Leben und Tod erst entdeckt.
Der Körper ist das Werkzeug, das in den ersten Lebensjahren in Beschlag genommen werden muss. Es dauert viele Monate, bis eine Hand endlich zielgerichtet ausgestreckt werden kann, um einen Gegenstand zu greifen. Der ganze kleine Körper braucht jahrelanges Training, um halbwegs koordiniert zu funktionieren. Das ist mit der Beherrschung des Verdauungssystems nicht anders als mit den Nervenzellen oder dem Immunsystem.
Der Körper eines Menschen ist vergleichbar mit einem Kostüm, das zu Beginn des Lebens angezogenen wird und dessen besondere Funktionen erst beherrscht werden müssen. Dieses Kostüm ist ganz und gar aus Erde hergestellt und wird getragen, bis es am Ende des Lebens wieder ausgezogen wird. Nach dem Leben wird das Kostüm wieder zu Erde. Es wird also an die »Besitzerin« wieder zurückgegeben, denn es war nur für die Zeit als Mensch auf der Erde ausgeliehen. Mittels dieses Kostüms wird alles, was sich auf der Erde befindet, letztlich bearbeitet und verwandelt. Es heißt, es dauere zwölf Jahre, bis alle Funktionen des Organismus in Perfektion erlernt sind und ebenso perfekt gehandhabt werden können (vgl. auch Claudia Cardinal: »Lebe und lerne sterben«: Die Kutsche).
Was sich in diesem undurchdringbaren Nebel in den ersten Lebensjahren oder sogar vor dem Nebel befindet, entzieht sich unserem Wissen. Wir sind auf philosophische, naturwissenschaftliche und esoterische Spekulationen angewiesen, wenn wir uns der Frage nähern, was sich in diesem zeitlichen Mysterium wohl befinden mag. Während unsere Eltern und Großeltern unsere ersten Lebensjahre noch mit Geschichten und Fotos belegen können, wissen wir über die Zeit vor unserer Geburt rein gar nichts.
Es ist dabei ausgesprochen interessant festzustellen, dass wir kaum in der Lage sind, darüber eine sichere Aussage zu geben, wann das Leben beginnt, geschweige denn, wann es aufhört. Die Naturwissenschaft geht heute davon aus, dass ein Fötus im Mutterleib Eindrücke wahrnimmt. Doch die Frage, ob das Leben mit dem Beginn der Zellvermehrung nach der Vereinigung von Samen und Eizelle startet, oder ob es früher oder später anfängt, ist weder naturwissenschaftlich noch geisteswissenschaftlich eindeutig zu beantworten. Medizinische Definitionen (Zeitpunkt der Geburt, Zeitpunkt des Todes), werden unklar, sobald man sich die Frage stellt, ob man als wenige Wochen alter Fötus schon gelebt hat oder nicht, oder ob ein hirntoter Mensch nun tatsächlich tot ist oder nicht. Die Definitionen werden der Dimension der Frage nicht gerecht. Ist ein Mensch tot, wenn er hirntot ist? Ist ein Mensch tot, wenn das Erbe verteilt ist? Ist ein Mensch tot, wenn niemand mehr sich an ihn erinnert? Diese Fragen sind es, die in Trauerzeiten – und angesichts des eigenen Sterbens – immer mehr in den Vordergrund rücken.
Wer geboren wird, taucht langsam in eine bunte Welt ein. Der Nebel, aus dem wir irgendwann einmal gekommen sind, lichtet sich damit zunehmend. Wer immer Säuglinge in diesem Prozess beobachtet, stellt fest, wie viele Wochen es dauert, bis ein Baby einen klaren Blick auf die ihn umgebende Welt werfen kann. Es scheint, als sei es mit allem verbunden. Jedes lodernde Feuer wird ebenso strahlend, neugierig und staunend begrüßt wie das tiefste Wasser. Wenn in den ersten Jahren nicht ununterbrochene Fürsorge das Kind begleiten würde, so hätte es sich sehr schnell in eine Katastrophe gestürzt. Gleichzeitig können Kindern das Motorgeräusch eines Rasenmähers oder ein kleiner Hund große Angst einjagen. Auf dieser Welt ist für lange Zeit im Leben eines Kindes alles völlig neu. Das Auftauchen in dieser Welt kann man nachvollziehbar an den Zeichnungen der Kinder beobachten: Ein Kind, das einen Stift in die Hand nimmt, wird viele Monate mehr oder weniger deutliche Kreise malen, die oftmals wie ein großes buntes Knäuel aussehen. Erst allmählich wird daraus ein Gesicht, erst später kommen Füße und Arme (»Kopffüßler«) hinzu, bis es letztlich die Finger mit abbilden wird. Ein Kind von nur wenigen Jahren kennt kaum ein Oben und Unten, es kennt auch Rechts und Links noch nicht, denn es orientiert sich täglich in einem unbekannten Neuland, in einem neuen Weltall, das noch keine Richtungen erkennen lässt. Vielleicht ist ein kleines Kind noch ganz und gar eins mit der Welt, in der es sich befindet. Alles Neue kommt aus einem Kind heraus, Anregung und Förderung können die Entwicklung eines Kindes erheblich unterstützen und manchmal benötigen Prozesse ihre eigene Zeit der Reifung.
Kinder beobachten sehr genau. Sie orientieren sich an dem gleichgeschlechtlichen Erwachsenen und üben durch Nachahmung alles, was sie in der jeweiligen Kultur im Alltag dringend brauchen. In der einen Kultur wird das etwa bedeuten, Essstäbchen sicher in der Hand zu halten, in einer anderen heißt das, in der Gemeinschaft mit anderen auf die richtige Art mit der Hand aus einer gemeinsamen Schüssel zu essen (was besonderen Regeln unterliegt) und in den westlichen Ländern bedeutet es, mit Messer und Gabel umgehen zu können. Nachahmung scheint dabei wesentlich auf dem Vorhandensein von Spiegelneuronen zu basieren. Dabei handelt es sich um Areale im Gehirn, die bei einem Menschen allein durch die Beobachtung gleiche körperliche Reaktionen hervorrufen lassen, wie bei demjenigen, der beobachtetet wird. Bei den Spiegelneuronen handelt es sich um ein Resonanzsystem im Gehirn, das Gefühle und Stimmungen anderer Menschen beim Empfänger zum Erklingen bringt. Viele Forschungen gehen davon aus, dass es uns durch die Spiegelneuronen möglich ist, die Gefühle anderer Menschen zu erkennen und nachzufühlen. Das Besondere an diesen Nervenzellen ist auch, dass sie schon dann Signale aussenden, wenn jemand eine Handlung nur beobachtet. Die Nervenzellen reagieren genauso, als ob man das Geschehene selbst ausgeführt hätte. Wir werden also körperlich wie emotional »angesteckt«. Das kann beim Gähnen ebenso geschehen wie beim Lachen. Wir bereiten durch diese unwillkürlichen Nachahmungen ein Feld für neue Erfahrungen. Die Forschung geht davon aus, dass die entsprechenden Hirnareale im dritten bis vierten Lebensjahr voll ausgebildet sind.
Einen Umbruch in der Entwicklung stellt der Moment dar, in dem wir zum ersten Mal das Wort »ich« für uns selbst benutzen. Ganz plötzlich haben wir ein Gegenüber zur restlichen Welt gefunden. Das erste Mal »Ich« zu sich selbst zu sagen, ist ein bedeutender Einschnitt. Man betrachtet sich selbst nicht mehr von sich selbst distanziert als »Tim« oder »Luise« und benennt sich mit diesem Namen. Ab dem Zeitpunkt, an dem ein Kind »Ich« zu sich selbst sagt, findet eine Abstraktion statt. Einige Menschen bezeichnen diesen Moment als »Eintauchen in die Welt der Dualität«. Denn das Erkennen des »Ich« zeigt, dass ein »Du« ebenso als solches erkannt wird. Während noch vor wenigen Jahrzehnten davon ausgegangen wurde, dass das erste Mal »Ich« zu sich selbst zu sagen etwa ab dem Alter von drei Jahren stattfindet, ist es heute viel früher bei kleinen Kindern zu hören. Womit diese zeitliche Verschiebung zusammenhängt, ist auch wieder nur Spekulationen und verschiedenen Theoriebildungen unterworfen.
Dieses neue Ich beobachtet die Welt und stellt zunehmend Fragen, um seine Umgebung in all ihren Facetten verstehen und begreifen zu können. Dabei entwickelt sich das zunehmende Verstehen relativ neutral – was auch die beobachtend-staunende Aktion von Tim mit dem Herausreißen der Ameisenbeine betrifft. Ethik- und Moralvorstellungen müssen erst gelernt werden. Was sich dabei für die Zukunft als richtig oder falsch erweist, ist abhängig von der Gesellschaft und seinen spezifischen Vorstellungen, in der ein Kind lebt. Während etwa bei uns in Europa Meerschweinchen als niedliche Haustiere angesehen werden, gelten dieselben Tiere in Peru seit Jahrtausenden als Delikatesse (dort unter dem Namen Cuy). Unabhängig davon, in welche Gesellschaft das Kind hineingeboren wurde, es wird zunehmend lernen, sich in seiner Welt zurechtzufinden. Und wenn es Glück hat, wird ihm ebenso fürsorglich wie geduldig jede Regel beigebracht.
Je kleiner ein Kind ist, desto mehr erlebt es – auch körperlich – die Stimmung in der Umgebung. Meist sind es die Mütter, die zunächst in einer besonderen Intensität mit ihren Kindern zusammenleben. Ihr Befinden stellt für große Teile des Alltags die Welt des Kindes dar. Ein kleines Kind ist abhängig und hat keine andere Wahl, als sich nach dieser Welt zu richten. Es hat weder der Stimmung noch der Umgebung etwas entgegenzusetzen. Je kleiner ein Kind ist, desto mehr taucht es mit seinem ganzen Wesen in diese Welt ein. Das geschieht keineswegs analytisch, sondern wertfrei. Ein Kind nimmt alles als selbstverständlich gegeben an. Insofern sind Erwachsene dafür verantwortlich, was sie einem kleinen Kind präsentieren. In dieser Zeit findet eine nonverbale Kommunikation mit der Hauptbezugsperson und dem kleinen Kind statt. Ein Säugling kann noch nicht genau benennen, was es braucht und weshalb ihm unwohl ist. Das haben die Bezugspersonen wahrzunehmen und den Säuglingen aus den Augen und ihrem Verhalten abzulesen. Das klappt erstaunlich gut. Viele Mütter wissen genau, ob ihr Kind Schmerzen hat oder nur Aufmerksamkeit möchte. Auch diese Verbindung zwischen Hauptbezugsperson und Säugling bzw. kleinem Kind ist nur schwer analytisch zu erklären. Die Loslösung von der Bezugsperson setzt sich erst in einer langsamen und schrittweisen jahrelangen Entwicklung durch. Es scheint, als verbinde eine unsichtbare Nabelschnur ein Kind und die wichtigste Bezugsperson noch für Jahre. Jede traditionelle Heilkunde weiß um diesen Umstand und geht davon aus, dass, auch wenn nur die Mutter medizinisch behandelt wird, positive Veränderungen für das Kind mit eintreten. Das geschieht durchaus mit großem Erfolg.
Ein dreijähriges Kind hat seinen Körper halbwegs in Besitz genommen. Es lernt erste Zusammenhänge zu verstehen und es ist bei seinem Eintauchen in die Gesellschaft auf die umgebenden Vorbilder angewiesen. Denn in dieser Zeit wird das Kind beginnen, alles nachzuahmen, was ihm vorgemacht wird. Das geschieht völlig wertfrei. Ein Kind in diesem Alter unterscheidet nicht selbstständig, was richtig und falsch ist, es lernt ab jetzt schrittweise, welches Recht und welche Ordnung in seiner Umgebung bestehen. Und wenn die ersten Regeln erfasst sind, vertritt ein solches Kind das bestehende Recht vehement. So kann es geschehen, dass Sie beim Autofahren aufgefordert werden, nach vorne zu sehen, oder dass Sie nicht mit dem Handy telefonieren dürfen, während Sie fahren. Rote Ampeln stellen eine dringende Anweisung dar, die auch eingehalten werden muss. Wahrscheinlich wären Kinder ab dem Alter von drei Jahren die besten und gehorsamsten Vertreter ihrer Kultur und deren juristischen Regeln – wenn die Kinder sich nicht verändern würden.
Erst ab dem Alter von drei Jahren werden die Begriffe Tod und Sterben von den Kindern verwendet. Dass der Tod dabei etwas Schmerzhaftes und Endgültiges ist, ist ihnen meist nicht klar, doch die Kinder wissen sehr wohl, dass damit etwas Großes verbunden ist. Möglicherweise umfasst dieser Begriff »Tod« für ein Kind die befürchtete und nicht wieder reparierbare Trennung von den Eltern oder Bezugspersonen. Vielleicht aber ist das auch ihr eigener Ausdruck dafür, dass etwas Großes und Unabwendbares geschieht, dass sich vor ihnen ein schwarzes Loch der Einsamkeit öffnen könnte. Diese Angst scheint wie eine Urangst in uns Menschen zu wohnen. Es kann sein, dass diese Urangst viel größer ist, als es die Pädagogik mit dem Begriff »Trennungsangst bei Kindern« sachlich formuliert und definiert. Und da Kinder von Anbeginn an unterschiedlich sind, ist auch die Empfindung von Ängsten unterschiedlicher Natur. Es gibt Kinder, die größere Sorgen und Ängste haben als andere.
Meist wird gesagt, dass ein kleines Kind ab dem Alter von drei Jahren die ganze Welt für beseelt hält, was bedeutet, dass in seinen Augen alles lebendig ist. Der Teddy und die Puppe haben intensive Gefühle, mit Bäumen kann man sprechen, alles ist wahr und ein Bauklotz, der ihm auf den Fuß fällt, ist doof, weil sich das Kind daran weh getan hat. Man kann mit allen Gegenständen schimpfen, wenn sie nicht funktionieren.
Kindern in diesem Alter wird deshalb ein so genanntes »Magisches Denken« bescheinigt. Kinder gehen davon aus, dass Phänomene von höheren Kräften gesteuert sind. Ihre »Lügen« entsprechen eher ihrer Einbildung als einem bewussten Verschleiern. Sie könnten ihre Wunschvorstellung nicht von der Realität unterscheiden, heißt es. Wir haben es also bei kleinen Kindern mit einem ganz anderen Realitätsbegriff und einer ganz anders gearteten Wahrheit zu tun als in der an Logik orientierten Erwachsenenwelt.
Ein dreijähriges Kind ist in der Lage, mit imaginären Spielkameraden zu spielen. Es kann Namen erfinden, es kann wahrhaftig zaubern! Möglicherweise sind Erwachsene deshalb so fasziniert von kleinen Kindern, weil sie sich mit einer unverstellten Selbstverständlichkeit in einer Welt bewegen, die uns abhanden gekommen ist. Das, was Dreijährige erzählen, stellt unsere pragmatisch-realistische Weltsicht auf den Kopf. Daher ist es kein Wunder, wenn wir ihre Aussagen als Fantasiegebilde bezeichnen.
Wenn die ganze Welt beseelt ist, dann kann ein Auto ebenso sterben wie eine Fledermaus. Dann geht es dem zerbrochenen Teller nicht anders als einem verstorbenen Großvater. In diesem Falle hätte sich nur die Form verändert. Und das würde heißen, dass der Tod für ein dreijähriges Kind eine Formveränderung bedeutet, die mit der Angst vor dem Alleinsein einhergeht.
Im Alter von drei Jahren kann ein Kind etwas vermissen, was plötzlich nicht mehr da ist. Es wird auch nachfragen, wo etwas abgeblieben ist, immer in der Hoffnung, dass es doch wieder auftauchen wird. Nur wenige Monate später kann es passieren, dass ein Kind von vier Jahren nach einem Todesfall in der Umgebung damit beginnt, einen Zaubertrank zu brauen, der den Verstorbenen wieder lebendig machen soll. Es kann auch sein, dass in der Folge ein Zauberstab eine große Rolle spielt, um das wiederzubringen, was weg ist. Endgültigkeit ist ein Fremdwort für ein kleines Kind. Da der Zeitbegriff für ein so kleines Kind noch Unendlichkeit bedeutet, ist es auch unendlich lang, bis der Kindergartentag vorbei ist oder bis es einen Elternteil begrüßt, der auf einer Geschäftsreise war. Jeder gefühlte Schmerz, sei es durch das aufgeschlagene Knie oder durch das Fehlen der Puppe, ist daher auch ein unendlicher Schmerz. Und da das Kind der absolute Mittelpunkt seines eigenen Lebens ist, ist jeder erlebte Schmerz der Schmerz der ganzen Welt. Kleine Kinder lernen erst allmählich, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und zu erleben, was Mitgefühl bedeutet. Allerdings bedeutet das auch, dass sie davon ausgehen, dass ihr eigener Schmerz der restlichen Welt die gleiche Wunde zufügt wie ihnen selbst.
Stirbt ein Elternteil eines Kindes in diesem Alter, ist auch dieser in die Unendlichkeit verschwunden. Die damit verbundenen Auswirkungen ahnt das Kind noch nicht. Es wird diese erst erfahren müssen. Ein kleines Kind ist mit seiner Welt auf das Natürlichste verbunden, es stellt diese Welt keineswegs in Frage – auch dann nicht, wenn tiefgreifende Veränderungen geschehen. In einem Leben, in dem alles neu entdeckt wird, ist jede Veränderung ebenso neu wie der Alltag. Allerdings können tiefe Narben zurückbleiben und seelische Traumata ihren fatalen Anfang nehmen (vgl. Kapitel 4).
Sicherheit und Halt in Zeiten des Abschieds sind daher von großer Bedeutung. Einen Halt kann man nur dann finden, wenn regelmäßige Orientierung möglich ist. Wiederkehrende Geschichten und Routinen im Alltag können diese vermitteln, denn das Kind kennt sie schon. Der Wiedererkennungswert ist es, der den Kindern ermöglicht, ihren Platz zu finden und zu halten, besonders, wenn große Umwälzungen stattfinden. Während Erwachsene auf der Suche nach Neuem, nach Abenteuern und Unbekanntem sind, sind es jedoch die Kinder, die aus sich selbst heraus ununterbrochen Neues entdecken, Unbekanntes finden und Abenteuer erleben. Sie jedoch finden die Sicherheit erst, wenn sie Altbekanntes wiederentdecken können.
Ein Todesfall verändert die Welt eines kleinen Kindes. Die Folgen sind – noch – nicht absehbar. Weil die eigene Welt unendlich ist, staunt ein kleines Kind eher, als dass es trauert. Es wird das Vermisste suchen. Die Reaktionen der Umgebung sind prägend für die weitere Zukunft. Wenn Erwachsene weinen, wird ein Kind Trost in der Form bringen, die ihm selbst bei Schmerzen zuteilwurde (Taschentücher, Tränen trocknen). Wenn Erwachsene hoffnungslos sind, werden die Kinder allerdings ihren Halt verlieren. Auch wenn unsere Authentizität für jedes Kind ungemein wichtig ist, so kann einem Kind die Hoffnung verloren gehen, wenn es seine Eltern, die den wichtigsten Bezug zum Leben darstellen, fast ausschließlich weinend erlebt. Wenn Erwachsene weinen, aber handlungsfähig bleiben, wird das Kind die Schwere leichter überwinden. Es ist anzunehmen, dass ein Kind die prägende Haltung für sein weiteres Leben übernimmt.
In der Welt von kleinen Kindern gibt es unendliche Möglichkeiten. So kann es passieren, dass Erwachsene, bei denen im Kleinkindalter ein Elternteil starb, später berichten, dass ihr »Vater sie Zeit ihres Lebens begleitet hat« und keineswegs fremd war. Kinder können auch die Verbindung zu verstorbenen Geschwistern für den Rest ihres Lebens aufrecht erhalten – selbst wenn sie diese nicht kannten. Diese erstaunliche Tatsache ist immer wieder in Familienzusammenhängen zu erleben, auch wenn den Verstorbenen keineswegs ein Platz bei den Lebenden eingeräumt wurde.
Die Welt eines kleinen Kindes ist geprägt von Unsicherheit. Die Zusammenhänge des Lebens müssen erst begriffen und erforscht werden, ebenso wie das Spektrum der Gefühle und Gedanken erst in eine funktionierende Ordnung gebracht werden muss. Jedes Einbrechen der gewohnten Welt ist deshalb eine schwere Herausforderung für ein kleines Kind. Ein Problem kann dann auftreten, wenn Begleitende davon ausgehen, dass das kleine Kind »das alles noch gar nicht mitbekommt«. Das kleine Kind versteht es auch nicht in unserer analytischen und vermeintlich vernünftigen Weise, aber es ist der Situation ausgeliefert und bekommt sehr wohl mit, dass etwas Schwerwiegendes vor sich geht. Es wird vielleicht erst nach vielen Jahren verstehen, was geschehen ist. Dann nämlich, wenn es selbst in der Lage ist zu reflektieren. Viele Menschen, die im Kindesalter sexueller Gewalt ausgesetzt waren, berichten davon, dass sie es meist als Kind nicht schlimm fanden, was geschah (das gilt allerdings nur für die Fälle, in denen ohne Druck oder Anwendung massiver Gewalt vorgegangen wurde). Erst als sie später erkannten, was ihnen angetan wurde, und sie reflektieren konnten, wurde der Schmerz, der ihnen zugefügt wurde, übergroß. Das ist der Hintergrund dafür, dass es problemlos möglich ist, Kindersoldaten heranzuziehen, deren Alltag aus Töten besteht. Erst wenn die Kinder älter geworden sind, wird auf sie die ganze Wucht des Erlebten einstürzen und ihnen das Leben unendlich schwer machen. Um die ganze Verantwortung, die Erwachsene in der Erziehung und der Fürsorge für Kinder haben, verstehen zu können, ist es wichtig, diesen Umstand zu beachten. Besondere Fürsorge und das Verständnis der Welt der kleinen und großen Kinder ist die Grundlage für die Begleitung von Kindern, auch wenn diese sich nicht in einer Krise befinden.
Die Annahme, dass es für das Kind gut sein könnte, ihm alles genauestens und detailliert zu erklären, ist ebenfalls falsch, denn das würde eine massive Überforderung für das Kind bedeuten. Das Kind braucht verlässliche und präsente Versorgung durch ihm nahestehende Bezugspersonen, keine Erklärungen, die es vielleicht noch gar nicht nachvollziehen kann. Ein Kind kann also auf die eine oder andere Weise erheblich überfordert werden.
Der folgende Rat richtet sich an Eltern und Großeltern sowie an alle Erwachsenen, die Kinder im Kindergartenalter betreuen. Sollten Kinder im Kindergartenalter mit dem Tod konfrontiert werden, besprechen Sie mit den Eltern, was Sie als Betreuende (Erzieherin/Tagesmutter/-vater) zur Unterstützung der Familie beitragen können.
Tims Vater starb überraschend auf einer Urlaubsreise. Er wurde in seinen Heimatort überführt und Luise, Tims Mutter und die Großeltern nahmen einen letzten Abschied von ihm, als er vor der Bestattung noch einmal aufgebahrt wurde. Tim und sein Vater hatten ein sehr gutes Verhältnis zueinander. In den Wochen nach seinem Tod malte Tim viele Bilder. Auf jedem Bild waren Kreuze und Gräber zu erkennen. Tim weinte jeden Abend vor dem Schlafengehen viel. Im Kindergarten und an den Nachmittagen spielte Tim mit seinen Freunden immer wieder Beerdigung. Die Kinder legten Teddys und Puppen in liebevoll mit Tüchern ausgekleidete Pappkartons und gruben diese in die Erde ein, legten Blumen auf die zugeschaufelte Erde und stellten selbst gebastelte Kreuze auf. Tim gab sich Mühe damit, die Blumen hübsch auf dem Grab anzurichten. Das tägliche Spiel von Tim und Luise im Kindergarten bestand auch darin, dass sie sich als Außerirdische verkleideten und sich gegenseitig erschossen. Sie lagen immer einmal für einen Moment regungslos am Boden, wurden wieder »lebendig« und sprangen auf und spielten weiter. Luise hatte viele Fragen. Sie sprach Tims Mutter an und fragte sie ganz direkt, woran sie gesehen habe, dass Tims Vater tot war, wie er aussah, wie er sich angefühlt hatte und was er anhatte. Luise bekam die Fragen bereitwillig beantwortet.
Tims Mutter sorgte sich insgeheim darum, ob Tim auch sterben wollte.
Noch vor etwa hundert Jahren wussten die Menschen, dass ein Tod für jede Gemeinschaft gefährlich werden konnte. Ein Tod könnte einen weiteren nach sich ziehen, wenn nicht bestimmte Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden. Die Menschen wussten also, dass am Anfang des Lebens und am Ende des Lebens eine Tür in eine andere Welt offenstand, durch die leicht jemand Weiteres abhanden kommen konnte. Das mag der Hintergrund dafür gewesen sein, dass in früheren Zeiten nach einem Todesfall alle Schlafenden in einem Hause geweckt wurden. Der Schlaf wurde als der »kleine Bruder« des Todes angesehen. Früher waren die Verstorbenen als »Nachholer« gefürchtet, die ihre Lieben auch in den Tod holen wollten oder die sich als »Wiedergänger« weiter in der Welt der Lebenden bewegen wollten. Beide stören die Welt der Lebenden erheblich und sind für den zukünftigen Bestand der alltäglichen Welt gefährlich.
Für Kinder kann ein Todesfall eines nahestehenden Menschen eine tiefe Sehnsucht in die andere Welt, in einen anderen Zustand bedeuten. Dann besteht für Kinder tatsächlich die Gefahr, dass sie sich dorthin wünschen, wohin ein Verstorbener seinen Weg angetreten ist. So ein Wunsch kann tatsächlich gefährlich werden. Eltern wie Tims Mutter fühlen diese Gefahr oftmals, ohne klare Anzeichen dafür benennen zu können.
Fünfjährige setzen schon um, was sie vorher ebenso staunend wie taumelnd in dieser Welt entdeckt haben. Und Fünfjährige haben durch ihre wachsende Übersicht durchaus einen Zeitbegriff und wissen, dass das, was tot ist, auch tot bleiben wird. Sie wissen, dass ein toter Vogel nicht wieder auffliegen wird und dass ein Verstorbener in der Erde begraben wird. Ihre Neugier lässt sie auch schnell erfahren, dass Tote anfangen zu stinken. Kinder haben eine ebenso schnelle Auffassungsgabe wie auch besondere Hellhörigkeit bezüglich der Tatsachen des profanen Lebens. Tim liebt seinen Vater und er will zu ihm. Damit kann nach einem Todesfall die »Ausgangstür« auch für ein Kind sehr reizvoll werden. Weil sich auch Fünfjährige noch in einer annähernd unendlichen Zeit bewegen und ihre Übersicht über Zusammenhänge des Lebens ungeübt sind, kann die »andere Welt« interessanter sein als die Welt der Familie und des Kindergartens. Dies gilt besonders in dem Fall, wenn sich in der anderen Welt jemand befindet, den ein Kind vermisst und den es bei sich haben möchte.
Dass ein trauerndes Kind in diesen Momenten in die Welt der Lebenden eingebunden werden muss und »geerdet« werden sollte, ist leicht nachzuvollziehen. Die Sinne zu erleben, übt zugleich die Bindung an die Erde und das Leben ein. Sinnesübungen können durch Lieblingsessen, Tastübungen und Riechübungen trainiert werden. Auch lauthals zu singen, kann ein Kind sehr unterstützen, sich in dieser Welt zu fühlen. In der Praxis kann das auf verschiedene Weise umgesetzt werden. In der Begleitung können dabei alle Beobachtungen und Hinweise auf die Schönheit der Erde und des Lebens eine Rolle spielen, so etwa auch, dass ein Kind häufiger barfuß läuft und damit den direkten Kontakt zur Erde hat. Das Begreifen und Ergreifen der Welt in allen Facetten findet auch über die Hände statt. Kinder sollten entsprechend die Welt mit ihren Händen erleben. Mit Händen in der Erde zu graben, ist dabei ebenso wichtig, wie mit verschiedenen Materialien umgehen zu lernen. Wechselnde Wasseranwendungen von warm bis kalt geben einen zusätzlichen Reiz, dass ein Kind seinen Körper ganz und gar ausfüllt, sogar bis in die Zehenspitzen hinein. Auch die Anregung, immer wieder laut und deutlich den eigenen Namen zu nennen, hat eine stärkende Wirkung auf Kinder. Jeder Mensch hat einen Bezug zu seinem Namen; ob dieser einem nun gefällt oder nicht, tut dem keinen Abbruch. Wir alle horchen auf und werden aufmerksam, wenn unser Name gerufen wird. Alles, was ein Kind tut, geschieht mit voller Begeisterung und Konzentration. Es geht auf in dem, was es tut. In Trauerzeiten und der damit verbundenen Krise wird das Kind lernen, dass Trauer und Freude nebeneinander bestehen können. Auch diese Tatsache ist nur wenigen Erwachsenen vollständig bewusst und wird erst noch von ihnen gelernt werden müssen.
Im Alter von fünf Jahren ist ein Junge, der sich in die Rolle als Pirat begibt, ganz und gar Pirat. Ein Mädchen, dass eine Prinzessin abgibt, ist durch und durch Prinzessin. Kinder spielen ihre Rollen nicht, sie sind das, was sie tun, und erfüllen diese Aufgabe mit allem, was ihnen ernst ist. Insofern ist das Spiel gar kein Spiel, sondern Training und Übung – oder aber unsere Konzeption des Wortes »Spiel« ist grundsätzlich falsch. Die Verschiebung in stereotyp anmutende gesellschaftliche Muster findet – gleich welche Absicht das Elternhaus verfolgt – statt. Mädchen betrachten die Spiele der Jungen meistens abfällig und diese stehen manchmal verwundert da, wenn sie im gemeinsamen Spiel nicht die Funktion der rüschenbesetzten Glitzerfee übernehmen dürfen. Hintergründe dafür sind vielfältig und verwickelt.
Fünfjährige spielen stundenlang und vertieft ihr ernstes Spiel. Ihrer Fantasie scheint kaum eine Grenze gesetzt. Sie bewegen sich zunehmend sicher in der Welt, die sie einige Jahre staunend betrachtet haben. Was sie tun, basiert wesentlich auf Nachahmung. Die Zusammenhänge werden klarer und die Kinder trainieren in diesem Spiel, das Beobachtete für sich zu erobern. Das ist die praktische Umsetzung dessen, was sie vorher gesehen oder aus der Welt der Erwachsenen mitbekommen haben. Deshalb spielen sie auch lange und intensiv »totsein«, sie töten sich gegenseitig und stehen wieder auf. In diesem Alter werden auch mit allem notwendigen Ernst und der entsprechenden Kleidung sowohl Hochzeiten zelebriert als auch Beerdigungen. Friedhöfe üben auf viele Kinder eine geheimnisvolle Faszination aus.
Gleichzeitig haben die Kinder schon einige Jahre ihre sozialen Bindungen zu anderen Kindern und Erwachsenen aufgenommen und gefestigt. Ihr Radius, mit dem sie sich in ihrem eigenen sozialen Gefüge bewegen, wird größer. Feste Freundschaften werden geschlossen und besiegelt. Sie haben Freunde und Freundinnen und wissen zunehmend genau, was sie schön finden und was nicht. Sie üben dabei auch die praktische Darstellung der ganzen Bandbreite von Gefühlen, die in ihnen möglich sind. Stimmungsschwankungen sind normal. Gleichzeitig lösen sie sich schrittweise von den ersten und wichtigsten Bezugspersonen ihres Lebens und beziehen sich mehr und mehr auf andere Menschen. Sie werden zusehends selbstständiger. Die Geschichten, die sie hören und verstehen, werden länger, das Verständnis von Zusammenhängen wächst erheblich. In diesem Alter kann es sein, dass Kinder die Erwachsenenwelt nachahmen und erste Buchstaben schreiben wollen. Doch jetzt und manchmal noch bis einige Jahre ins Schulalter hinein werden Buchstaben oft seitenverkehrt geschrieben.
Sie haben auch gelernt und geübt, was richtig und falsch ist, und sie haben seither im Leben viele Regeln ihrer Kultur gelernt. Von daher wissen sie auch, dass auf eine falsche Handlung eine mehr oder weniger unangenehme Reaktion folgen kann. Das kann der Hintergrund dafür sein, dass sie auch den Tod als eine Folge von etwas Falschem ansehen. Der Tod bildet von daher die Strafe dafür, dass jemand sich »falsch« oder »böse« verhalten hat.
Ihre Neugierde ist groß und keine Benimmregel hindert sie daran, offene und direkte Fragen zu stellen. Sie fragen und sagen, was ihnen »auf der Zunge liegt«. Es wird den Kindern auch nach einem Unfall oder einem Suizid keine Probleme bereiten, akribisch nachzufragen, was daran besonders auffällig war. Die Fragen, die Ältere vermeiden, stellen für Kinder kein Tabu dar. Das kann für erwachsene Trauernde eine Herausforderung darstellen. Die Fragen können aber auch eine Erlösung sein, insbesondere dann, wenn sich das soziale Umfeld der Trauernden (entweder rücksichtsvoll oder ohnmächtig) zurückgezogen hat und sich nicht traut, diese Fragen zu stellen.
Kinder wollen bei ihrer Eroberung der Welt genau wissen, wie diese sich verhält. Das ist bei der Frage nach der Funktion einer Rolltreppe nicht anders als bei den Fragen nach Krankheit und Tod. Kinder sind in diesem Alter auf dem »Höhepunkt der Frage an sich« angelangt. Sie wollen die Welt verstehen und sie haben auch das Recht darauf. Und obwohl sie viele Fragen haben, fehlen ihnen noch die Worte, um die ganze Bandbreite ihrer Gefühle ausdrücken zu können. Eine Möglichkeit besteht für sie darin, dass sie durch Taten ausdrücken, was sie innerlich bewegt. Kinder drücken darin auch ihre Fragen und ihren Schmerz, ihre Neugier und ihre innere Suche aus. Das ist die sicherste Methode, um eine drohende Ohnmacht zu erlösen. Fünfjährige vermeiden damit nichts, sondern haben jene besondere Fähigkeit, um mutig Probleme zu verwandeln. Damit könnten Kinder in diesem Alter Lehrmeister der Erwachsenenwelt sein, wenn wir sie in ihrem Wesen und ihrem Tun ernst nähmen. In diesem Alter kann es leicht geschehen, dass ein weinender Mensch von einem Kind wortlos ein Taschentuch gereicht bekommt. Es kann auch geschehen, dass einem traurigen Menschen plötzlich ein besonderes Lied gesungen wird oder ihm ein sorgfältig gemaltes Bild Trost geben soll.
Die Wissbegierde von Kindern braucht Antworten. Die Fragen von Kindern dehnen sich – besonders nach Todesfällen – auf das Totenreich aus. Es ist nicht ganz einfach, die Welt des Unsichtbaren in der Welt der Materie zu umschreiben (vgl. auch Kapitel 7). Das fällt schwerer, je mehr wir nur noch an das glauben, was wir sehen, anfassen oder messen können. Die Welt von Fünfjährigen ist in der Regel vielfältiger, als wir es uns vorstellen können. Auch ihre Welt ist normalerweise noch beseelt und es kann sein, dass sie noch viel mehr erkennen können als wir. Viele Kinder haben zudem imaginäre Spielkameraden. Diese können Fabelwesen sein, sie können auch männliche oder weibliche Personen darstellen. Meist wird dies als Einbildung und Fantasiereichtum bei kleinen Kindern bezeichnet. Diese imaginären Begleiter von Kindern sprechen mit den Kindern, sie spielen mit ihnen und sollen nach modernen Forschungsergebnissen eine Stärkung der betreffenden Kinder bewirken. Offenkundig nehmen Kinder Phänomene wahr, für die unsere Sinnesorgane blind geworden sind. Die meisten Erwachsenen, denen Ähnliches im Alltag begegnet, erfahren psychiatrische Diagnosen und schweben in der direkten Gefahr, für krank erklärt zu werden. Diese Phänomene können ganz leicht als Halluzinationen und Wahrnehmungsstörungen bezeichnet werden. Erklärt werden können sie nicht. Was wäre, wenn das, was kleine Kinder wahrnehmen, genauso wahr wäre, wie das, was wir als beweisbare Realität annehmen? Es kann sein, dass Kinder schlichtweg eine andere Realität erleben, die neben unserer materiellen Welt existiert. Es kann sein, dass Kinder sich in beiden Realitäten gleichzeitig befinden können. Vielleicht spielen lang Verstorbene mit den Kindern und bereiten sie auf das Leben vor, indem sie diese beraten? Beweisbar ist nur die Materie, denn nur sie kann gemessen und gewogen werden. Sollte aber auch stimmen, was uns die Kinder erzählen, es würde unser aufgeklärtes Weltbild, das von Vernunft und Rationalität geprägt ist, ganz erheblich durcheinander bringen.
Fünfjährige können in erheblichem Maße – und durch ihre ihnen eigene Neugierde – Zusammenhänge der Gemeinschaft erkennen. Ihre Fragen und ihre Wachheit lassen sie zunehmend in die jeweilige Gesellschaft eintauchen. Ihre Welt ist noch verzaubert und ihr Spiel wegbereitend. Jede Frage hat das Recht auf eine Antwort. Jedes Ausgrenzen eines Kindes aus einem Abschiedsgeschehen kann ein Kind dabei erheblich irritieren. Wer die Kinder in ihrem Wissensdurst und in ihrer Zauberwelt nicht ernst nimmt, kann bewirken, dass sie sich in hohem Maße unverstanden fühlen. Gleichzeitig lassen sich alle Erwachsenen die Möglichkeit entgehen, einen Schritt in eine Zauberwelt mit den dazugehörigen Fragestellungen und Vorstellungen tun zu dürfen. Möglicherweise können wir von den Kindern lernen.
Der folgende Rat richtet sich an Eltern und Großeltern sowie alle anderen Erwachsenen, die Kinder im Kindergartenalter betreuen. Sollten Kinder im Kindergartenalter mit dem Tod konfrontiert werden, sprechen Sie mit den Eltern ab, was Sie als Betreuende (Erzieher oder Erzieherin, Tagesmutter oder -vater) zur Unterstützung der Familie beitragen können.
Ein kleines Kind ist Mittelpunkt seines eigenen Lebens. Das ist höchst bewunderungswürdig und nachahmenswert. Ein kleines Kind weiß noch, dass es besonders und einzigartig ist. Und das ist auch gut so. (Foto: Claudia Cardinal)