»Bei Jugendlichen ist es wie bei Eisbergen: Ein Siebtel schaut aus dem Wasser hervor und die sechs anderen Siebtel haben sich unter der Wasseroberfläche versteckt«.
Elli Oberstenfeld
»Gibt es denn niemand, der glücklich ist?«, rief der Jugendliche, nachdem er die Welt durchgegoogelt hatte …
Wolfgang J. Reus
Tim langweilte sich. Seine Eltern hatten sich gerade getrennt und er wunderte sich, dass seine Freunde scheinbar unbeschwert lebten. Diese trafen sich abends, um gemeinsam Computerspiele zu spielen und Filme anzusehen. Tim hatte dazu keine Lust. Er saß zu Hause vor seinem Computer, spielte stundenlang die neuesten Spiele, die es auf dem Markt gab und redete immer weniger. Auch die Schule machte ihm keinen Spaß mehr. Völlig ungerecht hatte ein Lehrer ihn angeraunzt, weil er öfter zu spät in den Unterricht kam und seine Vorliebe für Geografie schwand zunehmend. Früher hatte er Landkarten abgemalt, hatte Berichte aus anderen Ländern begeistert aufgesogen, alles das kam ihm öde vor.
Eines Tages saß er gemeinsam mit einigen Mädchen aus seiner Klasse im Kunstunterricht. Dann stellte er ihnen seine Frage: »Sagt mal, was soll das eigentlich, dass ich hier tagtäglich herumlaufe?« Die Mädchen schauten auf und antworteten, was die meisten Menschen antworten würden: »Na, du hast hier eine Aufgabe zu erledigen. Deshalb bist du wohl hier!« – »Das kann nicht angehen«, erwiderte Tim, »was denn, wenn ich diese Aufgabe schon erledigt habe? Es gibt keinen Grund, hier zu sein. Seht euch doch um: Umweltverschmutzung, Kriege, alle Welt trennt sich voneinander. Dann heißt es noch: Wir lernen für das Leben. Nein, das ist kein guter Platz hier«, sagte Tim den Mädchen. Jetzt horchten sie auf. »Und was, wenn du die Welt schöner machen sollst? Dann tu doch was gegen die Umweltverschmutzung. Du kannst locker bei Greenpeace in eine bestehende Gruppe gehen und da mitarbeiten!« – »Da werden die gerade begeistert sein, wenn wir da ankämen. Das bringt ja doch nichts!«, sagte Tim, »ich kann diesen ganzen Small Talk nicht mehr ertragen und die ganze verlogene Gesellschaft auch nicht. Von wegen die Welt schöner machen! Sollen wir jetzt alle mit rosa Pferdchen spielen? Kommt, sagt mir einen Grund, weshalb ich hier bin!«
Tims Schulkameradinnen sorgten sich um ihn. Sie sprachen über Tims Fragen mit ihrem Lehrer. Dieser hatte den Mut, das Thema vor der ganzen Klasse anzusprechen. Und als er die Frage stellte, wer von den Schülern und Schülerinnen aus der Klasse sich diese Fragen auch schon gestellt hatte, erhoben sich alle Finger.
Betrachtet man Tims Entwicklung »nur« unter biologischen Gesichtspunkten, so ist Folgendes passiert: Tims Hormone haben den Umbruch vollzogen (bei Jungen wird in erster Linie Testosteron gebildet). Er ist im Stimmbruch, sein Körper ist darauf ausgerichtet, die Geschlechtsreife zu erreichen. Seine sekundären Geschlechtsmerkmale (Schamhaare, Gesichtshaare) bilden sich aus und Spermien werden in den Hoden produziert. Der erste Samenerguss findet statt. Der steigende Testosteronspiegel führt zu erhöhter sexueller Erregbarkeit. Beobachtungen haben gezeigt, dass früh entwickelte Jungen in der Gemeinschaft eher eine Führungsposition einnehmen.
Bei Mädchen ist es die Östrogenproduktion, die zur Reifung befruchtungsfähiger Eier in den Eierstöcken führt. Die erste Menstruation ist ein Zeichen dafür. Auch bei den Mädchen wachsen Schamhaare und die Brust bildet sich aus. Bei ihnen hat sich gezeigt, dass spät entwickelte Mädchen in der Gemeinschaft eher eine Führungsrolle einnehmen.
Früher wurde vermutet, dass die extremen Stimmungsschwankungen, die sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen mit der Pubertät einhergehen, auf die gesteigerte Hormonproduktion zurückzuführen sei. Heute geht man jedoch davon aus, dass zwar ein Zusammenhang besteht, die Ursache jedoch nicht maßgeblich an dem Hormonwechsel liegt, sondern in der Kombination mit verschiedenen Lebenssituationen, die in diesem Alter ganz anders erkannt und eingeschätzt werden können als noch im Kindesalter. Mit der Pubertät ist der Zeitpunkt gekommen, in dem die weibliche und die männliche Rolle zur eigenen Realität werden. Diese Rolle muss ausgefüllt, eingenommen und verteidigt werden. Gleichzeitig sind Jugendliche, die sich in diesem körperlichen und seelischen Umbruch befinden, ungeübt. Auch das Ausfüllen einer Rolle muss trainiert werden und bringt aufwühlende Zweifel an sich selbst, seinem Umfeld und der Gesellschaft mit sich.
Die ersten differenzierten Betrachtungen und die Erkenntnis von Unzulänglichkeiten in der Erwachsenenwelt aus der Vorpubertät fördern in der weiteren Entwicklung ein ausgeprägtes Individuum zutage. Jugendliche sind weit davon entfernt, wie ein kleines Kind »Eins mit der Welt« zu sein, ganz im Gegenteil: In diesen Jahren des Umbruchs erlebt sich ein Mensch auf dem Höhepunkt des »Fremdfühlens« in der Welt. Seine Neugierde kann schwinden und den permanenten Zweifel an sich selbst und an der Welt mitbringen. Es scheint, als seien die Kinderjahre eine notwendige Voraussetzung gewesen, um einen neuen Menschen ganz langsam und unwiderruflich auszuwickeln, bis er für alle sichtbar ist. Das ist für jugendliche Jungen und Mädchen nicht nur mit körperlichem, sondern auch mit erheblichem seelischem Stress verbunden. Jugendliche werden quasi von sich aufbäumenden Emotionen überrannt, die ihnen von einem Moment zum nächsten das Leben in Hölle oder Himmel verwandeln können.
Jugendliche ziehen sich mehr und mehr von den Eltern zurück, die jetzt inhaltlichen Diskussionen standhalten müssen und – in den Augen der Jugendlichen – zunehmend »peinlich« werden. Der Freundeskreis nimmt einen wichtigen Platz im Leben von Jugendlichen ein. Sie suchen sich Ideale und teilen die Welt ein. Das bedeutet auch, dass sie die Welt mit klaren Grenzen in Schwarz und Weiß – auch im übertragenen Sinne – einteilen. Kinder gliedern sich in die Welt ein, Jugendliche aber machen sie zu ihrer eigenen Aufgabe und ihrem Eigentum. Es scheint, als fände manchmal ein heimliches Ringen der Jugendlichen mit den Erwachsenen darüber statt, wer der eigentliche Besitzer der Welt ist und das Sagen hat. Umso mehr brauchen Jugendliche in der Vorpubertät jetzt Erwachsene, die ihnen dadurch Halt vermitteln, dass sie authentisch sind und Regeln geben. In Zeiten des Umbruchs gibt Orientierung Sicherheit.
Jugendliche probieren viele von der Norm abweichende Verhaltensweisen und setzen sich bewusst über gestellte Grenzen hinweg. Sie haben in Kinderzeiten die Regeln der Gesellschaft gelernt. Jetzt werden die Regeln in Frage gestellt und durch die eigene Erfahrung überprüft. Sie werden zunehmend zu den Eroberern ihrer neuen Welt. Jede Hochachtung vor der Welt der Erwachsenen schwindet.
In diesen – für alle Beteiligten – schweren Jahren stellen sich Jugendliche zunehmend die Frage nach dem Sinn des Lebens. Erwachsene stehen als Gestalter der bestehenden Gesellschaft auf einem besonderen Prüfstand. Als die Pubertät sich anbahnte, waren die jugendlich werdenden Kinder in ihrem Erkennen Enttäuschungen ausgesetzt. Jetzt aber setzt die Kritikfähigkeit ein und die Gesellschaft wird mit offener und kritischer Beurteilung eingeschätzt.
Jugendliche können nur schwer jene Sachzwänge nachvollziehen und anerkennen, die das freie Leben in der Welt der Erwachsenen eingrenzt. Jede Freiheit ist auch Freiheit des Denkens und ermöglicht das Spiel mit vielen Variablen. Jugendliche spielen mit vielen verschiedenen Denkansätzen, die sie kennenlernen. Fast jeder und jede Jugendliche hat im Alter von zwölf Jahren bereits erste okkulte Praktiken (meist Tische- oder Gläserrücken, Pendeln, Tarot-Karten) geübt und dadurch oftmals schreckhafte Erfahrungen gemacht. Durch die heutige Medienvielfalt und Informationsflut im Internet haben alle Jugendlichen Zugang zu den tiefsten, oberflächlichsten und abgründigsten Themen, die die Welt bietet. Erwachsene müssen sich darüber im Klaren sein, dass Jugendliche neugierig jede Information aufsaugen und vielleicht ausprobieren oder nutzen werden. Eine Kontrolle über den Zugang gibt es nicht. Jugendliche erobern sich zunehmend ihren Freiraum und die Verantwortung über ihr eigenes Leben.
Deshalb liegen Jugendlichen oftmals die Fragen nach dem Sinn in allem, nach dem Leben und nach dem Tod offen auf den Lippen. Viele Erwachsene haben sich mit ihrem Alltagsleben pflichtbewusst arrangiert und erstarren, wenn eines Tages der Tod in ihrem Leben auftritt und sie mit Fragen konfrontiert, die sie vorher nur allzu gern weggeschoben haben. Ihre Fragen, die sie in sich trugen, als sie noch jung waren, haben sie dabei schon lange weggelegt.
Der Wunsch nach Freiheit und dem tiefen Sinn im Leben zu einem Zeitpunkt, der sowohl körperlich wie auch seelisch einen großen Umbruch in sich birgt, ist eine gefährliche Gratwanderung. Meistens tritt bei Jugendlichen erstmals die Möglichkeit des Freitods in den Raum. Da der Umbruch ins Jugendalter mit emotionalen Achterbahnfahrten einhergeht, sind Jugendliche enorm gefährdet, sich von der Gesellschaft zu entfremden und abzuwenden.
Ihre Sichtweisen zum Tod gleichen sich immer mehr denen der Erwachsenen an. Jugendliche wissen um ihre eigene Sterblichkeit und erleben gleichzeitig ihre eigene Einsamkeit in einem Maße wie niemals zuvor. Es ist die empfundene Fremdheit, die das Wesen einer Depression ausmacht.
Trauernde Jugendliche stecken in ihrem Gefühlschaos, das sich mit einem Blick auf das Leben und Sterben der Sichtweise von Erwachsenen nähert. Jugendliche reagieren häufig mit scheinbarer »Coolheit« auf sich verändernde Situationen. Sie verstecken sich, obwohl sie erkennen, dass jeder Halt verloren geht. Sie zeigen sich tapfer, obwohl sie wissen, dass das ganze bisherige System in sich zusammenbricht. Es kann sein, dass sie handlungsfähig sind, obwohl alle Erwachsenen in ihrer Umgebung gelähmt in ihrem Alltag verharren. Es ist dabei sehr schwer für Jugendliche, sich in dem ganzen Ausmaß ihrer Befindlichkeit offen zu zeigen.
Jugendliche sind schnell bereit zu lachen. Ihre Bereitschaft, sich untereinander auszutauschen, gaukelt vielen Erwachsenen erstrebenswerte Unbeschwertheit vor. Jugendliche verstecken ihre eigenen Gefühle sehr geschickt vor der Außenwelt. Ihre Zweifel geben sie nur schwer preis. Diese Umstände machen es Erwachsenen schwer, in junge Menschen »hineinzusehen« und mehr zu erkennen, was hinter einem offenen Gesicht stecken kann. Auch wenn größere Kinder und Jugendliche noch kindlich wirken mögen, so ist deren tiefe Suche nach einem Sinn dennoch vorhanden. Es gilt also, hinter einem Lächeln und einer Aussage eine tiefe Frage an das Leben wahrzunehmen und Jugendliche keineswegs zu unterschätzen.
Gleichzeitig nehmen es Jugendliche Erwachsenen übel, wenn diese nach einem Todesfall zur Tagesordnung übergehen. Sie haben den Einschnitt in ihrem Leben erlebt und wollen sowohl Gedenken als auch Erinnerung daran wachhalten. Das bedeutet, dass sie erkennen, dass die Welt durch den Tod aus den Angeln gehoben wurde.
Einst sandte der Mond den Hasen auf die Erde nieder, um den Menschen zu verkünden, dass er (nämlich der Mond) hinstürbe und wieder lebendig würde. So sollte auch ein jedes Menschenkind sterben und wieder lebendig werden. Anstatt aber die Botschaft genau auszurichten, sagte der Hase, sei es nun aus Vergesslichkeit oder aus Böswilligkeit, den Menschen, dass, wie der Mond erschiene und hinstürbe, so sollten auch die Menschen sterben und nicht wieder lebendig werden. Als der Hase dann zum Monde zurückgekehrt war, wurde er von demselben befragt, ob er seine Botschaft ausgerichtet habe. Wie nun der Mond erfuhr, was jener getan, ward er so zornig, dass er ein Beil ergriff, um dem Hasen den Kopf zu spalten. Da der Schlag aber zu kurz geführt wurde, so fiel das Beil auf die Oberlippe des Hasen nieder und verletzte dieselbe nicht unbedeutend. Daher stammt nun die so genannte Hasenscharte, welche noch jetzt zu sehen ist. Da der Hase nun über eine solche Behandlung höchst empört war, so nahm er seine Nägel zu Hilfe und zerkratzte damit des Mondes Antlitz. Die dunkeln Partien nun, die wir noch jetzt an der Oberfläche des Mondes wahrnehmen, sind die Schrammen, die er bei dieser Gelegenheit erhielt.
Das größte Problem von Emma war nicht die Lernschwäche in Mathe oder der dauernde, abendliche Streit ihrer Eltern. An diesen Zustand hatte sie sich gewöhnt und fand regelmäßige Auszeiten durch ausdauerndes Handballspielen. Hier traf sie ihre Freundinnen, die sie verstanden.
Nein, Emma hatte einen schweren Verlust erlebt. Ihr bester Freund hatte sich umgebracht. Und das ausgerechnet an Emmas Geburtstag. Sie hatte sich an diesem Abend gewünscht, nur mit den Eltern und Großeltern essen zu gehen. Sie wollte keine Feier haben. Deshalb hatte sie auch niemanden eingeladen. Und jetzt kam die Todesnachricht von Jacob. Jacob hatte sich mitten an einem Sommertag erhängt. Niemand wusste, weshalb er diesen Schritt getan hatte. Mehrere Jahre lang litt Emma danach unter Schuldgefühlen. »Wenn ich jetzt eine Feier gemacht hätte, dann hätte Jacob das niemals getan!« Ihren zermürbenden Gedanken wurde auch durch den Austausch mit Freundinnen kein Einhalt geboten.
Die Grenzen vom »Kind« bis zur Anerkennung als »jugendlich« sind fließend. Manchmal werden Jugendliche, die unter 15 Jahre alt sind, als »Kinder« bezeichnet, ab 15 bis 18 Jahren gelten sie als »Jugendliche«. Diese fließenden Grenzen zeigen, dass junge Menschen auch juristisch gesehen einen besonderen Schutzraum haben. Dazu werden ihnen zunehmend Rechte gegeben. Ob es um Besuche öffentlicher Veranstaltungen geht oder um den Genuss von Alkohol, um Filmvorführungen oder Autofahren: Junge Menschen, die noch nicht volljährig sind, können mit zunehmender Bewegungsfreiheit rechnen. Diese Spanne mag noch zu eng gefasst sein, denn auch ältere Jugendliche erobern sich die Welt dadurch, dass sie ihre eigenen Regeln aufstellen und austesten. Mit einem »Jugendlichen-Bonus« können sie in der Welt der Erwachsenen allemal rechnen.
Körperlich sind Jugendliche etwa in diesem Alter ausgereift. Der Herzschlag, der auch bei Zwölfjährigen noch der Frequenz von Kindern entspricht, verlangsamt sich und gleicht sich dem der Erwachsenen an. Damit verbunden ist die Entwicklung einer neuen Qualität im Denken. Die zunehmend selbstständige Urteilskraft bildet sich heraus. Ab jetzt können Vor- und Nachteile miteinander abgewogen werden, um eine Entscheidung fällen zu können.
Am Ende der Zeit als Jugendliche oder Jugendlicher zeigt sich mit Glück auch eine zielgerichtete Begeisterung für ein Spezialgebiet (Sport, Musik, Handwerk etc.), das geübt und zunehmend gemeistert wird. Daraus resultiert auch, dass Jugendliche verstärkt ihre eigene Gruppenzugehörigkeit finden und ganz und gar in ihrer »Szene« aufgehen. Das bedeutet auch, dass sie – unabhängig von Gefallen oder Missfallen der Eltern – ein fester und loyaler Teil von Freundeskreisen sind. Der Anschluss an andere Gruppen kann dabei auch zu einem völligen Bruch mit ihrem bisherigen Zuhause führen. Dann werden Eltern nicht mehr ernst genommen und die Jugendlichen entziehen sich konsequent und unbeirrt sowohl jeder Auseinandersetzung als auch ihren Pflichten.
Jugendliche leben große Werte mit ganzer Leidenschaft, ob es sich um Treue handelt oder um politische Aktivitäten. Der manchmal gezeigte »Fanatismus« ist Ausdruck ihrer Begeisterungsfähigkeit und Loyalität. Diese »überschießenden« Reaktionen sind auch bei Problementwicklungen zu sehen: Jugendliche durchleben intensiv Süchte, Liebe, Aggressivität und Traurigkeit. Vielleicht lebt kaum ein Mensch mehr im »Hier und Jetzt«, als es Jugendliche tun. Mit Haut und Haar verschreiben sie sich einer Idee und gehen in ihr auf oder sie tragen die jahrelange verzweifelte Suche danach in sich, wofür die Welt sie brauchen könnte. Möglicherweise ist es diese Leidenschaft, die Erwachsene beneiden, wenn sie junge Menschen mit ihrer Mischung aus Wehmut und Lächeln betrachten. Ältere wissen, dass nur große Gedanken die Welt verändern, nicht die kleinen. Und obwohl Ältere das Wissen haben, fürchten sie die großen Gedanken, denn diese werden die Welt verändern. Möglicherweise hat das Leben so lange an Erwachsenen gefeilt, bis die Fähigkeit zu großen Gedankensprüngen erloschen ist. Während für junge Menschen der Jahreskreislauf zunehmend überschaubar ist und auch die Zukunft anvisiert werden kann, so ist dennoch jeder Tag ein neues Abenteuer, das große Entwicklungen in sich birgt. Sie haben ihren eigenen Tagesablauf und ihren eigenen Kalender in den Händen und entscheiden sich selbstständig, welchen Plan sie verfolgen. Alles das ist neu für sie. Und alles, was neu ist, ist ungewohnt und mit Ängsten verbunden.
Junge Menschen befinden sich mitten in einem Abenteuer. Es gibt zwei Kriterien, die für jedes Abenteuer gelten:
1) Ich freue mich auf das, was ich vorhabe.
2) Mir wird mulmig, wenn ich nur daran denke, was ich vorhabe.
Jugendliche erleben ihr Leben als viel größeres Abenteuer, als es Erwachsene tun. Das ist ihre Gabe und ihre große Herausforderung.
Viele Jugendliche empfinden sich selbst als »erwachsen« und wollen auch so behandelt werden. Die Unsicherheit der ersten Jugendjahre weicht einer zunehmenden Souveränität, die sich auch dadurch zeigt, dass Jugendliche sich offen von anderen Gruppenzugehörigkeiten abgrenzen und ihre Meinung vehement vertreten. Erst viel später wird ihre Haltung, die sie einmal eingenommen haben, von ihnen selbst differenziert. Der Ernsthaftigkeit, mit der die Welt eingenommen wird und ihre Probleme Stück für Stück bearbeitet werden, tut das keinen Abbruch.
Im besten Falle blitzen die Augen von Jugendlichen vor Begeisterung, doch die Kehrseite ist auch jetzt noch die tiefe Traurigkeit und Sinnlosigkeit, die sie überfallen kann. Es ist die Gratwanderung zwischen Hoffen und Ängsten, die ihnen – und der Umgebung – das Leben anstrengend werden lassen kann. Junge Menschen neigen manchmal in ihrer Vehemenz dazu, nur noch sich selbst ernst zu nehmen und dem Rest der Menschheit ihre eigenen Regeln aufdrücken zu wollen. Dazu gehört auch, dass sie ihr Gegenüber – gleich welchen Alters – überprüfen. Wer dabei in Ungnade gefallen ist, wird kaum Chancen haben, daraus wieder herauszukommen.
Jugendliche erleben tiefe Probleme, ob es familiäre Umbrüche, Liebeskummer, Sinnsuche oder Todesfälle in der Umgebung sind. Sie leiden dabei mit der gleichen Vehemenz, in der sie ihre Begeisterung für ein Spezialgebiet leben. Sie können dadurch sehr leicht in dauerhafte Traurigkeit versinken, die nur schwer von außen zu erlösen ist. Jugendlichen ist klar geworden, dass der Tod ein ständiger Begleiter ihres Lebens sein wird. Sie haben sich viele Jahre diesem Thema angenähert und stellen jetzt die Kernfrage angesichts von Leid und Elend, die alle Erwachsenen verbindet. Es ist das »Warum?«, das in einem Moment den Schrei nach einer geistigen Dimension ebenso in sich birgt, wie es den tiefsten Zwiespalt zwischen Sinn und Sinnlosigkeit darstellt. In diesem Wort verbindet sich die Welt von Jugendlichen und Erwachsenen, denn sie tragen sowohl die gleiche Hoffnung wie auch den gleichen Zweifel in sich. Trauernde Jugendliche klagen mit dem ganzen Recht eines Menschen an. Diese Klage geht an die Menschheit und an jede geistige Dimension – gleich welchen Namen sie trägt. Ihre gesunde Skepsis und die Eroberung ihrer eigenen Welt führen sehr häufig dazu, dass sich Jugendliche in den gewohnten Trauerbräuchen kaum wiederfinden können. Möglicherweise sind es auch die jungen Menschen, die eine Neubelebung unserer Trauerkultur mitgestalten können.
»Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen!« Dieser Satz stammt von Aristoteles, der vor mehr als 2300 Jahren lebte. Die Probleme von Erwachsenen mit den Jugendlichen und umgekehrt sind also ein immerwährendes Thema. Jugendliche brauchen das Vertrauen in die Flügel, die sie gerade ausfahren. Und Erwachsene brauchen die Engelsgeduld, mit der sie beobachten, was sie verständnislos miterleben müssen. Gleichzeitig brauchen Erwachsene ihre eigene Authentizität, um vor der Macht der Kritikfähigkeit bestehen zu können. Schwierigkeiten können insbesondere dann auftauchen, wenn Erwachsene in der vermeintlich besten Absicht Jugendliche ausfragen, wie es ihnen ginge, ohne sich selbst preiszugeben. In diesem Fall werden Jugendliche sich ausgehorcht und nicht ernst genommen fühlen. Auch ist jeder präsentierte Dogmatismus für Jugendliche – die ihr Leben selbst mehr oder weniger dogmatisch gestalten – wie geschaffen, sich dem Dogmatismus entweder anzuschließen und jene Richtung intensiv zu vertreten oder sich von ihr endgültig abzuwenden. Jugendliche in ihrem Lebensplan zu unterstützen, bedeutet, ihnen mit der Bandbreite an verschiedenen Sichtweisen und Möglichkeiten entgegenzukommen, um die Freiheit ihres Denkens und Handelns mit ethischen Grundsätzen zusammenkommen zu lassen.
Es war einmal ein kleines Mädchen. Es sprang und hüpfte begeistert auf der Wiese herum, es roch an jedem Klee, pflückte ihn und verzierte damit die schönsten Torten aus klebrigem Sand, die es zu backen vermochte. Es spielte »Sahneberg« mit Seifenschaum und sammelte alle Papierschirmchen, die ehemals einen Eisbecher verziert hatten und die es bekommen konnte. Fasziniert steuerte das Mädchen auf alles zu, was glitzerte. Das Mädchen fand, es hatte keinen »Arbeitstag« wie große Leute, es hatte einen ganz langen »Spieltag«. Irgendwo neben dem kleinen Mädchen spielten lustige Wesen mit ihm, die unsichtbar neben ihm umhertollten. Sie lockten: »schau mal!«, sie riefen: »lach mal!« und diese Wesen spielten mit allen Ideen die sie dem Mädchen locker in den Schoß warfen.
Als das Mädchen größer wurde, lernte es, Regeln einzuhalten und es lernte Lesen und Scheiben, Rechnen und Aufräumen. Das Mädchen bemühte sich sehr. Und es freute sich, wenn Erwachsene sagten: »Das hast du aber schön gemacht!«. Ja, sie wollte den Großen gut gefallen. Und sie strengte sich an, alles zu lernen, was ihr angeboten wurde. Und wann immer jemand sie abfällig betrachtete und sagte: »Das kannst du nicht!«, strengte sie sich noch mehr an. Immer wieder erinnerte sie sich daran, dass sie etwas Besonderes war, denn das wusste sie irgendwo ganz tief in sich. Und sie hörte in sich den Satz: »Denen werde ich zeigen, was ich bin und was ich kann!« Sie lachte! Und irgendwo neben dem Mädchen waren unsichtbare Wesen, die ihr zuriefen: »Genau, du hast ganz Recht! Du kannst das! Streng dich an, du bist ganz toll!«
Dann wurde das Mädchen eine junge Frau. Sie verglich sich mit anderen, die ihr viel berauschender und klüger, viel schöner und geschickter vorkamen, als sie selbst es war. Irgendwo, tief in ihr selbst, da war es noch, das Wissen, dass sie etwas Besonderes war, aber sie hörte es kaum mehr und vergaß es fast. Und neben ihr, da waren unsichtbare Wesen, die flatterten um sie herum und riefen ihr zu: »Schau mal, die hat viel tollere Haare als du!« und »Na, wenn du das mal schaffst!« und »Wieder nicht, wieder nicht, wieder nicht gelungen …!« Und die junge Frau wurde immer kleiner, aber das zeigte sie niemandem. Sie strengte sich an wie früher, sie wollte, dass irgendwer erkannte, dass sie etwas anderes war, als alle anderen Menschen auf der Welt, doch die Flatterwesen wurden hämischer und immer lauter: »Sei mal bescheiden!« und »Benimm dich anständig!« und »Wir haben immer gewusst, dass du das nicht kannst, wer bist du denn schon?«
Und eines Tages, als das Mädchen auf dem Weg nach Hause war und den Boden vor sich musterte (nach oben schaute sie schon lange nicht mehr), fiel ihr etwas ein: »Ich kann diese nörgeligen Stimmen nicht mehr ertragen. Den ganzen Tag die gleiche Leier! Immer nur demütigen, immer nur Stänkerei. Was kann ich nur tun?« Sie seufzte. Dann dachte sie weiter: »Wie wäre es denn, wenn ich einen Trainer hätte? So einen, wie ein Fußballverein. Wenn ich mich dann anstrenge, dann ruft der mir zu: »Du kannst das! Los, weiter, schneller! Ich weiß genau, dass du es schaffst! Du bist begabt!«. Und wenn ich dann einmal verliere, dann würde der mich aufbauen. Er würde zu mir kommen, mir auf die Schulter klopfen und mir sagen: »Los, morgen trainieren wir weiter!« Ein richtiger Trainer, der glaubt an mich. Der jagt mich auch. Er vertraut mir und möchte mich noch größer und toller haben, als ich sowieso schon bin.«
Plötzlich lachte sie. »Und wenn der Trainer nicht gut ist, dann entlasse ich ihn und suche mir einen neuen! Wenn das beim Fußball geht, dann kann ich das auch!« Das Mädchen freute sich an dem Gedanken.
Und irgendwo neben ihr waren unsichtbare Wesen. Die fingen heimlich an, sie zu trainieren. Diese hatten alles, was ein guter Trainer braucht: Sie glaubten an das Mädchen, sie spornten sie an und sie flüsterten ihr, wenn sie stolperte, immer wieder ein: »Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen …!«
Dann lachte sie, rappelte sich hoch und ging weiter …
Claudia Cardinal
Bei Jugendlichen, die ihr Leben weitgehend selbst bestimmen, ist es wie mit Eisbergen: Ein Siebtel ist sichtbar, doch sieben Siebtel befinden sich unter einer Wasseroberfläche. Die Dimension des Ausmaßes ist nur zu erahnen. (Foto: Uwe Kils, Wiska Bodo – WikiCommons)