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KAPITEL 2

Nicht weit von Hampstead entfernt befand sich der parkähnlich angelegte Highgate Friedhof, dessen westlicher Teil im Mai 1839 durch den Lord Bishop von London eröffnet worden war. Elf Jahre später war schließlich die Osterweiterung des Friedhofs erforderlich geworden. Seine Entstehung beruhte auf dem Plan, sieben große Friedhöfe außerhalb des Stadtzentrums zu schaffen, da auf den innerstädtischen Gottesäckern, die meist an Kirchen angegliedert waren, der Platz nach und nach zu knapp geworden war. Laut Stockworths Freund Dr. Honeywell stellten die überfüllten Friedhöfe im Stadtkern außerdem ein gesundheitliches Risiko für die Einwohner dar, und viele Gläubige hielten die Bestattung auf engstem Raum ohnehin für eine Respektlosigkeit gegenüber den Verstorbenen. Auch Stockworth fand, dass die Würde des Menschen noch im Tod gewahrt werden sollte, und nicht zuletzt deshalb lag ihm seine Arbeit so sehr am Herzen. Dass ihn viele seiner Standesgenossen für den Weg, den er eingeschlagen hatte, argwöhnisch beäugten, daran hatte er sich längst gewöhnt. Scotland Yard genoss nicht den besten Ruf, und als adliger Inspektor erntete er immer wieder verächtliches Naserümpfen.

Stockworth und Sergeant Enoch Bennett stiegen aus der Kutsche und gingen auf das Tor am Eingang des Friedhofs zu. Auf einer Anhöhe mit Blick auf die Stadt gelegen, galt Highgate mittlerweile als einer der schönsten Friedhöfe in der Nähe Londons. Besucher gelangten durch die Swain’s Lane zu seiner im gotischen Stil gestalteten Pforte. Die breiten Kieswege führten zur Kirche St. Michael, und bei schönem Wetter ließ es sich dort gut und gerne eine Weile zwischen den beeindruckenden Grabsteinen flanieren. Besonders angetan war Stockworth stets vom Grabmal des Tierausstellers George Wombwell, der fast fünfzehn Jahre zuvor verstorben war, und dessen letzte Ruhestätte nun von einem großen Löwen bewacht wurde.

An diesem Morgen jedoch bahnten sich der Inspektor, Sergeant Bennett und Constable Hanley ihren Weg durch den Westteil des Friedhofs, ohne die Schönheit des Ortes auf sich wirken zu lassen. Sie erblickten Lady Felicia Fenton, Constable Stevens und den leblosen Körper zu ihren Füßen.

»Basil! Es tut mir sehr leid, dass ich dich bei diesem grässlichen Wetter so früh auf den Friedhof holen muss.« Lady Fenton blickte nach oben, als es zu nieseln begann. Wie immer bot sie einen adretten Anblick. Ihr schwarzes, von vereinzelten grauen Strähnen durchzogenes Haar war kunstvoll nach oben frisiert, und ihre Wangen waren sanft gepudert. Bis auf die attraktiven Lachfältchen war ihre Haut jugendlich und makellos. Lady Henrietta beneidete ihre Freundin um ihre, wie sie es scherzhaft nannte, straffe Elefantenhaut. Der Vergleich mit den grauen Giganten war mehr als nur passend, fand Stockworth, denn Lady Fenton war nach keinem noch so herben Schlag jemals zu Boden gegangen. So war sie nun zwar sichtlich erschüttert, eine Leiche gefunden zu haben, doch sie hielt sich, wie er erwartet hatte, aufrecht. Erleichterung flackerte in ihren blaugrauen Augen auf, kaum dass sie ihn gesehen hatte. Für gewöhnlich begrüßte sie ihre Freunde mit ihrem ansteckenden Lachen, doch an diesem Morgen war Fröhlichkeit unangebracht. Der schwarze Mantel, den sie über ihrem hochgeschlossenen schlichten braunen Kleid trug, unterstrich die düstere Atmosphäre. Sie blinzelte, als ein kühler Windstoß ihr ins Gesicht schnitt.

»Felicia, es tut mir sehr leid, dass es so lange gedauert hat. Du musst mittlerweile ganz durchgefroren sein«, sagte Stockworth. »Aber ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Ich musste Sergeant Bennett noch in Whitehall abholen.« Er stellte die beiden einander vor.

»Trotz der unschönen Umstände freut es mich sehr, Sie kennenzulernen, Lady Fenton.« Sergeant Bennett beugte sich sogleich nach unten, um Madame Blanches leblosen Körper eingehend zu betrachten. Er hielt seinen dunkelbraunen Bowler-Hut fest, der drohte, ihm vom Kopf zu rutschen. Einzelne Strähnen seines schwarzen Haars blitzten unter der Krempe hervor.

»Mich ebenfalls, Sergeant.« Sie schlang zitternd die Arme um sich und deutete auf den reglosen Körper vor ihr auf dem Boden. »Was ich auch von Madame Blanche gehalten haben mag, derart hinterrücks getötet zu werden, hat sie nicht verdient.«

»Da stimme ich dir zu, Felicia. Aber wir werden dafür sorgen, dass ihrem Mörder ebenfalls die Schlinge um den Hals gelegt wird.«

»Ich werde zusammen mit den Constables erst einmal die Umgebung absuchen, Inspektor«, entschied Bennett. »Vielleicht finden wir etwas Aufschlussreiches.« Er gab den beiden Beamten entsprechende Anweisungen.

»Tun Sie das, Sergeant. Der Täter könnte Spuren hinterlassen oder etwas verloren haben«, hoffte Stockworth.

»Wie geht es deiner entzückenden Frau?«, erkundigte sich Lady Fenton, während sich die drei Polizisten an die Arbeit machten. »Es tut mir wirklich leid, dass ich dich ihr so früh am Montagmorgen abspenstig machen muss, aber ich hielt es für besser, dich und keinen deiner Kollegen zu rufen. Das hier riecht förmlich nach Skandal, Basil. Es ist sicher von Vorteil, wenn Madame Blanches illustre Klientel von ihresgleichen und nicht nur von einem einfachen Polizisten befragt wird«, schätzte sie, und Stockworth nickte zustimmend. Die gut betuchte Kundschaft des Mediums würde nicht freimütig aus dem Nähkästchen plaudern.

»Charlotte geht es sehr gut, und sie hat vollstes Verständnis«, versicherte er ihr. »Wie du weißt, habe ich eine Frau gefunden, die meine Arbeit versteht und unterstützt. Außerdem ist ihre Tante gestern Nachmittag aus Berlin angekommen. Die beiden haben sich viel zu erzählen. Sie wird mich also kaum vermissen«, grinste er, bevor er wieder ernst wurde. »Du hast Madame Blanche genau in dieser Position gefunden?«, vergewisserte er sich. Der Hut mit dem schwarzen Schleier war dem Opfer vom Kopf gerutscht, und die toten Augen starrten ins Leere. Er konnte kleine rote Punkte in ihren Augen erkennen. Dr. Honeywell hatte ihm vor einiger Zeit erklärt, dass diese Blutpünktchen typisch seien für Ersticken, Erwürgen oder Strangulation. Das Seil lag noch um ihren Hals und bot einen gespenstischen Anblick. Es war feige, jemanden auf diese Weise zu töten, dachte Stockworth abfällig. Man musste seinem Opfer nicht in die Augen sehen, und wenig Kraft reichte aus, um die Schlinge zuzuziehen. Vermutlich wäre auch eine Frau dazu in der Lage, überlegte er. Er durchsuchte die Taschen von Madame Blanches Mantel, doch es war ernüchternd. Bis auf ein Stofftaschentuch konnten seine Finger nichts ertasten.

»Genau so lag sie auf dem Boden, Basil. Ich habe nichts angefasst oder verändert«, beteuerte Lady Fenton. »Heute ist der Geburtstag meiner Schwiegermutter, und wie du weißt, besuche ich meine Angehörigen an den hohen Festtagen immer«, nannte sie ihm den Grund für ihren Abstecher auf den Friedhof. »Als ich auf das Mausoleum zuging, sah ich sie hier liegen. Ich habe sie sofort erkannt, immerhin bin ich ihr einige Male auf Empfängen begegnet. Sie war eine Schwindlerin, die von der Naivität ihrer Kunden profitiert hat, wenn du mich fragst. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie deshalb irgendjemanden sehr gegen sich aufgebracht hat.«

»Das mag durchaus sein, Felicia«, stimmte Stockworth ihr zu, während er sich wieder aufrichtete.

Bennett und die beiden Constables kamen von ihrer Suche zurück. Ihre Stimmung war gedrückt.

»Sie hatte offenbar nichts weiter bei sich, Inspektor.« Die Enttäuschung war dem Sergeant anzusehen. »Wir konnten weder eine Tasche noch ein Portemonnaie finden. Auch haben wir nichts entdeckt, was auf den Täter hindeuten könnte. Nicht einmal Fußspuren oder dergleichen.«

»Fast so, als hätte ein Geist sie ermordet«, rutschte es aus Constable Hanley heraus, und er schlug sich sogleich die Hand vor den Mund. »Verzeihen Sie, Inspektor, ich wollte damit natürlich nicht andeuten, dass ich glaube, dass …«

»Schon gut, Constable. Ich verstehe genau, was Sie sagen wollten«, beruhigte ihn Stockworth. »Wer auch immer sie getötet hat, könnte ihre Tasche, sofern sie eine bei sich hatte, natürlich an sich genommen haben«, gab er zu bedenken. Mochte es ein Raubmord gewesen sein?, überlegte er. Lady Fentons Einschätzung war richtig. Als Medium hatte sich Madame Blanche mit der Gutgläubigkeit und der Verzweiflung ihrer Klienten eine goldene Nase verdient. Hatte sie womöglich Geld oder Wertsachen bei sich gehabt? Und vor allem: Aus welchem Grund war sie so früh am Morgen auf dem Friedhof? Hatte das angebliche Medium mit verirrten Seelen Kontakt aufnehmen wollen?, fragte er sich kopfschüttelnd. Wie Lady Fenton betrachtete er Madame Blanches Metier als billigen Schwindel.

»Gut möglich, dass ihr Mörder sie bestohlen hat«, stimmte Bennett dem Inspektor zu und ging neben Madame Blanche in die Hocke. »Ihr Mörder muss sich von hinten an sie herangeschlichen haben, hat ihr die Schlinge um den Hals geworfen und zugezogen«, sprach er seine Theorie laut aus und richtete sich wieder auf.

»Wir müssen sie schnellstens zu Dr. Honeywell bringen. Dass er tatsächlich mit den Toten kommunizieren kann, weiß ich«, sagte Stockworth. Er hatte großen Respekt vor der Arbeit seines Freundes, die für seine Ermittlungen von unschätzbarem Wert war. »Außerdem müssen wir umgehend den Coroner benachrichtigen, dass wir es ganz offensichtlich mit einem Mord zu tun haben.« Er fasste einen Entschluss. »Sergeant, ich möchte, dass Sie den Transport von Madame Blanches Leiche überwachen und Coroner Davies informieren, sobald Sie sie Dr. Honeywell übergeben haben. Sie wissen, dass er heute im Krankenhaus arbeitet?«, vergewisserte er sich, und Bennett bejahte. Daraufhin wandte er sich an Lady Fenton. »Felicia, ich möchte deine Hilfsbereitschaft zwar nicht über Gebühr strapazieren, aber würdest du mich bei Madame Blanche absetzen? Ihr Haus ist schließlich nicht allzu weit von hier entfernt. Ich muss Madame Blanches Ehemann von ihrem Tod in Kenntnis setzen.«

»Selbstverständlich, Basil. Es ist doch nur ein Katzensprung.« Die Freundin seiner Mutter seufzte. »Ich beneide dich nicht um diese Aufgabe. Wie schaffst du es nur, Menschen diese schrecklichen Nachrichten zu überbringen?«

»Das gehört nun einmal zu meiner Arbeit, Felicia«, erinnerte er sie und machte eine selbstverständliche Handbewegung. »Ich wusste, worauf ich mich einlasse, wenn ich diesen Beruf ergreife. Sergeant, ich komme so schnell es geht zurück nach Whitehall. Richten Sie bitte Dr. Honeywell aus, dass ich ihn nach meinem Gespräch mit Madame Blanches Ehemann aufsuchen werde.« Mit einem Lächeln klopfte er Constable Hanley im Vorbeigehen auf die Schulter. Der junge Polizist hatte sich mittlerweile wieder gefangen. »Constable, Sie haben sich heute wacker geschlagen. Ich bin mir sicher, dass Sie schon bald ein sehr guter Polizist sein werden.«

»Danke, Inspektor.« Seine Züge erhellten sich, und Farbe schoss in seine Wangen. Mit dem Lob schien er nicht gerechnet zu haben.

»Du bist ein wirklich guter Mensch, Basil«, flüsterte ihm Lady Fenton zu, als sie den Friedhof verließen. »Der arme Junge war vorhin ganz außer sich. Ich hatte schon Angst, er müsse sich zwischen den Grabsteinen übergeben.«

»Du musst bedenken, dass heute erst sein zweiter richtiger Tag im Polizeidienst ist, und schon stolpert er über sein erstes Mordopfer. Und dann handelt es sich auch noch ausgerechnet um ein stadtbekanntes Medium. Das muss man erst einmal verdauen, Felicia. Aber nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, hat er sich äußerst professionell verhalten. So etwas weiß ich zu schätzen.«

Lady Fenton drückte lächelnd seinen Arm und nannte dem Kutscher Madame Blanches Adresse.

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Es dauerte nicht lang, bis die Pferde vor Beauford House in Hampstead wiehernd zum Stehen kamen. Der Inspektor verabschiedete sich von Lady Fenton und ging auf das Eingangstor vor dem roten Backsteinhaus zu. Die meisten wohlhabenden Londoner zogen es zwar vor, in Belgravia oder Mayfair zu leben, da sich diese Stadtviertel näher am Zentrum befanden, aber die Lage von Madame Blanches Domizil war dennoch gut gewählt. Fernab des Trubels der Metropole konnte das Medium in elegantem Ambiente diskret ihre gut betuchte Klientel empfangen. Der Inspektor war davon überzeugt, dass nicht wenige ihrer Kunden die etwas abgeschiedene Lage wertschätzten. Stockworth war zu Ohren gekommen, dass selbst der eine oder andere Wissenschaftler an die Existenz von Geistern glaubte und sich von Übernatürlichem fasziniert zeigte. Oftmals wurden diese Gelehrten deshalb zum Gespött ihrer Kollegen, und sollte einer von ihnen aller Häme zum Trotz doch die Dienste eines Mediums in Anspruch nehmen wollen, konnte er das hier unbehelligt tun, dachte Stockworth, während er darauf wartete, dass ihm Einlass gewährt wurde.

»Was auch immer Ihr Anliegen ist, Sir, Madame Blanche empfängt Hilfesuchende ohne vorherige Anmeldung nicht vor elf Uhr vormittags«, erklärte ihm der Butler ohne Umschweife, als er sich mit raschen Schritten dem Tor näherte. Seine dunklen Augen blickten ihn abweisend an. Mit einer ungehaltenen Geste strich er sich eine ergraute Haarsträhne aus der Stirn, als ein sanfter Wind aufkam. »Ich habe diesbezüglich strikte Anweisungen und möchte Sie daher bitten, entweder eine Nachricht zu hinterlassen oder später wieder …«

»Ich bin Inspektor Basil Stockworth«, fiel er ihm ins Wort, »und ich bin wegen Madame Blanche hier. Ich muss unverzüglich mit ihrem Ehemann sprechen. Es duldet keinen Aufschub. Lassen Sie mich bitte eintreten.«

»Inspektor?« Die Augen des Butlers weiteten sich, und er zog das Tor auf, um ihn einzulassen. »Ist etwas passiert?«

»Das möchte ich mit Madame Blanches Mann unter vier Augen besprechen.«

»Ich bringe Sie zu ihm. Hier entlang, Inspektor.« Furcht zeigte sich in den Gesichtszügen des Butlers.

Stockworth folgte ihm den Kiesweg hinauf zum Haus und durch den holzvertäfelten Eingangsbereich ins Esszimmer. Der Raum war fast noch größer als das Esszimmer seiner Eltern, und dank der hohen Fenster war er an schönen Tagen gewiss sonnendurchflutet. Bis auf die dunklen Möbel bestimmten helle Farben die Atmosphäre. Vorhänge und Teppiche waren farblich auf die hellgrüne Tapete mit dem weißen Blumenmuster abgestimmt, und über dem Esstisch hing ein kristallener Kronleuchter. Die Einrichtung musste ein kleines Vermögen verschlungen haben. Madame Blanches Metier war einträglich.

Der Ehemann des Mediums blickte von seinem Teller auf. Seine fast schwarzen Augen sahen Stockworth mit Erstaunen entgegen, und er erhob sich stirnrunzelnd. Sein schwarzes Haar war an den Schläfen ergraut, doch seine Erscheinung war jugendlich. Er war fast so groß wie der Inspektor und von muskulöser Statur. Seine Wangen waren glattrasiert. Stockworth fiel auf, dass ein Glied am kleinen Finger seiner rechten Hand fehlte. Zwar hätte es den Ermittler in ihm interessiert, zu erfahren, wie es zu dieser Verstümmelung gekommen war, doch er war aus einem anderen Grund hier.

»Sir, das ist Inspektor Stockworth. Er meinte, es gehe um Ihre Frau, und es sei dringend.« Der Butler wirkte angespannt. Das unverhoffte Erscheinen des Inspektors verhieß nichts Gutes.

»Danke, Ludlow. Sie können vorerst gehen. Ich werde Sie rufen, falls ich Sie brauche.« Er wartete, bis der Diener verschwunden war, bevor er zögerlich auf Stockworth zukam, als wäre dieser ein aggressiver Löwe, der sich jeden Moment auf ihn stürzen würde. Seine Nasenflügel blähten sich nervös. »Ich bin Raymond Lorrimer«, stellte er sich vor. »Als die Tür aufging, dachte ich, Sie wären meine Frau. Blanche sollte eigentlich längst zurück sein. Sie erscheint nie zu spät am Frühstückstisch. Auf diese gemeinsame Zeit am Morgen legen wir beide sehr viel Wert. Haben Sie eine Ahnung, wo sie sein könnte?«

»Ich schlage vor, Sie setzen sich, Sir«, bat Stockworth ihn leise.

»Sicher.« Lorrimer fuhr sich nervös mit der Zunge über seine Lippen, und seine Bewegungen wirkten fahrig. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?« Er deutete auf das unberührte Frühstücksgedeck seinem Platz gegenüber. »Wenn meine Frau kommt, lasse ich einfach ein frisches Gedeck für sie bringen, und …« Mit einem Blick in Stockworths Gesicht verstummte Lorrimer und schluckte. »Warum sind Sie hier, Inspektor?« Seine Hände begannen zu zittern.

»Sir, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Frau heute Morgen auf dem Friedhof in Highgate tot aufgefunden worden ist. Es tut mir sehr leid.«

»Was?« Die Farbe wich aus seinem Gesicht, und er sank auf seinen Stuhl. »Sie sagen, Blanche ist … Aber das … Ich meine, wie …«, stammelte Lorrimer, bevor er sich verzweifelt die Faust vor den Mund hielt.

»Allem Anschein nach ist Ihre Frau keines natürlichen Todes gestorben.« Stockworth zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Er ließ Madame Blanches Ehemann nicht aus den Augen. »Ganz offensichtlich ist sie von jemandem erdrosselt worden. Die Schlinge lag noch um ihren Hals, als man sie gefunden hat. Sie muss nun genauestens von einem Arzt untersucht werden.«

»Sie ist erdrosselt worden? Und jetzt wird sie aufgeschnitten?«, entfuhr es Lorrimer entsetzt.

Stockworth überraschte seine Reaktion nicht. Viele Angehörige von Mordopfern hielten es für eine Art von Leichenschändung, wenn Mediziner den Getöteten mithilfe des Skalpells ihre letzten Geheimnisse entlocken wollten.

»In Fällen wie diesem ist eine genaue Untersuchung leider unvermeidlich, Sir. Mein Partner Sergeant Bennett wird außerdem den Coroner benachrichtigen. Es wird also eine Anhörung geben.«

»Ich möchte Blanche sehen, ich … ich muss sie …«, brach es mit zitternder Stimme aus ihm heraus. »Ich kann das nicht glauben«, flüsterte er. »Wer würde denn …«

»Das werden wir herausfinden, Sir«, versprach Stockworth. »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um den Mörder Ihrer Frau zu finden und seiner gerechten Strafe zuzuführen, aber jetzt ist es wichtig, dass Sie mir ein paar Fragen beantworten. Je mehr Sie mir sagen können, desto einfacher gestalten sich unsere Ermittlungen. Verstehen Sie das?«, vergewisserte sich Stockworth.

Der Schock stand Lorrimer ins Gesicht geschrieben, doch er nickte kaum merklich.

»Ich kann das einfach nicht glauben«, wiederholte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich meine Blanche nie wieder sehen werde. Es ist mir unbegreiflich, dass jemand ihr so etwas antun konnte!« Er kniff die Augen zusammen und atmete einige Male tief ein und aus. »Ich werde versuchen, Ihnen so gut es geht zu helfen. Sie müssen denjenigen finden, der sie getötet hat, Inspektor! Sie hat Menschen mit ihrer Gabe doch immer nur helfen wollen!«, betonte er fassungslos. »Das hat sie nicht verdient.«

»Wir werden denjenigen finden, Sir. Der Mörder Ihrer Frau wird nicht davonkommen«, verstieß Stockworth wie schon vorhin gegen seine eigene Regel, niemals Versprechungen zu machen, von denen er nicht wusste, ob er sie würde erfüllen können. »Können Sie mir sagen, ob sie vielleicht irgendwelche Feinde hatte? Gibt es jemanden, der nicht gut auf sie zu sprechen ist?«

»Wo denken Sie hin, Inspektor?« Lorrimer schüttelte fassungslos den Kopf. »Wie ich gerade sagte, wollte sie anderen immer nur helfen! Meine Blanche war ein Engel! Sie hatte diese wundervolle Gabe, mit der sie sowohl den Verstorbenen als auch den Hinterbliebenen Trost spenden konnte. Unzählige gequälte Seelen haben dank ihr Frieden gefunden. Sie hat das Leben vieler nicht nur erträglich gemacht, sondern sogar bereichert! Es ist unvorstellbar, dass auch nur irgendjemand …« Seine Stimme versagte.

»Ich weiß, dass das sehr schwer für Sie sein muss, Sir, aber fällt Ihnen wirklich niemand ein? Gibt es vielleicht doch den einen oder anderen Hilfesuchenden, den sie in irgendeiner Weise verärgert hat? Mit der unerfreulichen Botschaft eines Verstorbenen womöglich?«

Der Witwer senkte den Kopf und schwieg einen Moment. Stockworth konnte sehen, wie er mit sich haderte.

»Sir?«, half er ihm in sanftem Tonfall auf die Sprünge.

»Wissen Sie, Inspektor, wenn jemandem eine solche Gabe in die Wiege gelegt wird, dann bringt das leider auch Neid und Missgunst mit sich«, begann Lorrimer schließlich. »Es gibt Menschen, die Blanche um ihre Fähigkeiten beneidet haben, und manche versuchten, sie schlechtzumachen, indem sie das Gerücht in die Welt gesetzt haben, sie sei eine Schwindlerin. Das ist aber nichts weiter als eine haltlose Unterstellung und Rufmord!« Er schnaubte verächtlich. »Sir Albert Langston hat erst vor Kurzem noch behauptet, dass es mit einer Betrügerin wie ihr eines Tages ein schlimmes Ende nehmen würde.«

Stockworth nickte. Sir Albert Langston war einer der bekanntesten Naturforscher des Landes und scharfer Kritiker der Medien und ihrer angeblich übersinnlichen Fähigkeiten. Seiner Meinung nach gab es für jedes noch so unheimliche Phänomen eine rationale und vor allem irdische Erklärung, und für ihn war der Tod ein endgültiger Zustand. Es gebe keine ruhelosen Seelen, die nur darauf warteten, gehört zu werden. Dass Madame Blanches Arbeit ihm zuwider war, war wenig verwunderlich. Stockworth bezweifelte allerdings, dass der Gelehrte so weit gehen würde, das Medium zu töten. Er war ihm mehrmals begegnet und hatte ihn als grundanständigen Menschen kennengelernt, für den der Schutz jeglichen Lebens oberste Priorität hatte. Langstons Waffe waren wissenschaftliche Untersuchungen und Belege und kein Strick, mit dem er Andersmeinende zum Schweigen brachte.

»Fällt Ihnen sonst noch jemand ein, Sir?«

»Ich möchte nicht schlecht über die Klientel meiner Frau sprechen, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass …«

»Ihre Frau ist auf heimtückische Art und Weise ermordet worden, Sir. Ich muss Sie daher bitten, ganz offen mit mir zu sprechen. Haben Sie einen Verdacht, wer ihr das angetan haben könnte?«

»Na schön.« Lorrimer seufzte und vergrub einen Moment lang das Gesicht in seinen Händen. »Vor drei Tagen ist meine Frau von Lord und Lady Shanton um Hilfe gebeten worden. Die beiden – zumindest Lady Shanton – fürchten, dass ihr Stadthaus heimgesucht wird. Lady Shanton sprach von merkwürdigen Geräuschen und unerklärlichen Vorkommnissen.« Er zuckte die Schultern. »Lord Shanton führt die Angst seiner Frau auf Hirngespinste zurück und hält sie für hysterisch, aber sie konnte ihn dennoch überreden, Blanches Hilfe in Anspruch zu nehmen.«

»Hatte Ihre Frau Erfolg?« Der Inspektor gab sich Mühe, sich seine Skepsis nicht anmerken zu lassen. Lord Shanton lag mit seiner Einschätzung gewiss nicht ganz falsch.

»Allerdings, Inspektor, und Lord Shanton hat darauf nicht gut reagiert«, presste Lorrimer hervor, und er blickte Stockworth fest in die Augen. »Ich schwöre bei Gott, dass ich einen Moment lang echt geglaubt habe, dieser Mensch sei von einem bösen Geist besessen. Ich kann nicht sehen oder fühlen, was meine Frau tagtäglich erlebt … erlebt hat, sollte ich wohl sagen, aber Lord Shanton umgibt etwas sehr Dunkles.«

»Sir, was hat Ihre Frau herausgefunden?« Stockworth hatte keine Ahnung, was er von Lorrimers Worten halten sollte.

»Ich habe Blanche zu Lord und Lady Shanton begleitet, wo sie Kontakt mit Lord Shantons verstorbenem Onkel aufgenommen hat. Er ist, wie Sie vielleicht wissen, durch einen tragischen Treppensturz ums Leben gekommen. So hieß es zumindest offiziell.« Er zog seine Augenbrauen höhnisch nach oben. »Meine Frau aber hat von ihm, also aus erster Hand, erfahren, dass sein jüngerer Bruder, Lord Shantons Vater, ihn in Wirklichkeit gestoßen hat, um an das Erbe der Familie zu gelangen. Lord Shantons Onkel habe deshalb vor, das Haus so lange heimzusuchen, bis sein Tod gesühnt würde.« Lorrimer holte tief Luft. »Lord Shanton hat auf Blanches Enthüllungen hin regelrecht getobt. Er hat sie nicht nur wüst beschimpft, sondern ihr auch gedroht, dass sie es bitter bereuen werde, wenn sie diese schmutzige Lüge in die Welt hinaustragen würde. Dann hat er uns beide wie zwei räudige Straßenhunde aus dem Haus gejagt. Blanche war nach ihrer Rückkehr sehr aufgewühlt, wie Sie sich sicher vorstellen können. Sie wollte den beiden doch nur helfen. Besonders Lady Shanton, die in ihrem eigenen Haus die Hölle durchlebt.«

»Hat sie außer mit Ihnen mit irgendjemandem darüber gesprochen?«

»Ich glaube nicht. Aber natürlich kann ich das nicht mit Bestimmtheit sagen«, antwortete Lorrimer vorsichtig. »Wir haben zwar gemeinsam beschlossen, darüber Stillschweigen zu bewahren, denn Lord Shanton kann sehr aufbrausend sein, und wir wollten nichts riskieren. Jedoch hatte Blanche einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Es lag nicht in ihrer Natur, unerlöste Seelen im Stich zu lassen. Womöglich wusste Lord Shanton das und hat es mit der Angst zu tun bekommen, dass sie doch etwas sagen könnte, und …« Er verstummte und schloss die Augen.

»Es ist eine Möglichkeit, Sir, und ich werde mit Lord und Lady Shanton sprechen, aber wir dürfen keine voreiligen Schlussfolgerungen ziehen.« Auch Stockworth hatte bereits von Lord Shantons jähzornigen Ausbrüchen gehört. Mit konkreten Anschuldigungen würde er sich aber dennoch zurückhalten müssen, bis sie handfeste Beweise in den Händen hielten.

»Natürlich nicht, Inspektor.«

»Sir, haben Sie eine Ahnung, weshalb sich Ihre Frau so früh auf dem Friedhof aufgehalten hat?«

»Blanche steht … stand immer sehr früh auf, und sie unternahm regelmäßig einen ausgedehnten Spaziergang vor dem Frühstück. Bewegung an der frischen Luft sei ihr Lebenselixier, hat sie immer gesagt«, fügte er hinzu, und ein kleines Lächeln umspielte seinen Mund. »Oft ging sie dann auch auf den Friedhof, um nach gequälten Seelen Ausschau zu halten, die ihre Hilfe brauchten. Die Seelen müssen weiterziehen und in ein neues Leben gehen, hat sie mir erklärt, sonst würde das Böse früher oder später von ihnen Besitz ergreifen, und sie könnten den Weg ins Licht nicht mehr finden.«

»Ich verstehe. Fällt Ihnen sonst noch etwas ein, Sir?«

»Beim besten Willen nicht.« Lorrimer seufzte. »Ich weiß überhaupt nicht, wie es jetzt weitergehen soll, Inspektor. Blanche war mein Ein und Alles. Sie war mein Leben.« Seine Augen wurden feucht.

»Vielleicht ist es besser, wenn wir uns ein anderes Mal weiter unterhalten«, schlug Stockworth vor. Lorrimer war am Boden zerstört, und er bezweifelte, dass er zu diesem Zeitpunkt mehr von ihm erfahren würde. »Ruhen Sie sich erst einmal aus.«

»Ich danke Ihnen für Ihr Mitgefühl, Inspektor.« Lorrimer läutete nach dem Butler, der einen Moment später erschien.

»Ludlow, bitte begleiten Sie Inspektor Stockworth hinaus, und dann bringen Sie bitte einen Trauerflor an der Tür an.«

»Sir?« Ludlow blickte alarmiert zwischen Lorrimer und Stockworth hin und her.

»Meine Frau ist tot aufgefunden worden, Ludlow. Mein Leben wird nie wieder so sein, wie es einmal war«, fügte er mit tränenerstickter Stimme hinzu.