«Wohin fahren wir?», fragte Gerber zwei Stunden später den Mann, der neben ihm im Fond der schwarzen Mercedes-Limousine saß.
Dr. Ernst Brückner war ins Hauptquartier zurückgekehrt und hatte Gerber überraschend aufgefordert, ihn zu begleiten. Kriminalobersekretär Müller steuerte den Wagen aus Bad Godesberg heraus in Richtung Bonn. Die Scheibenwischer kratzten monoton über die Windschutzscheibe. Der Regen wurde stärker, trommelte unentwegt aufs Dach, und die Welt jenseits der Autofenster versank hinter einem Vorhang aus Schlieren.
«Ins Kanzleramt, alles Weitere erfahren Sie dort», sagte der Leiter der Sicherungsgruppe und fuhr darin fort, Gerber über die Ereignisse der Nacht, über General Anderson und über Gerbers Verhältnis zu June auszufragen.
Gerber antwortete einsilbig und ertappte sich dabei, dass seine Gedanken immer wieder um das Ziel ihrer Fahrt kreisten. Sie waren unterwegs zu Adenauer, so viel stand fest. Offenbar zog die Affäre, in die Hiram Anderson geschlittert war, so große Kreise, dass sie dem Alten die Freude über seinen glänzenden Wahlsieg vom September zu verderben drohte, den er mit 50,2 Prozent der Stimmen errungen hatte. Die absolute Mehrheit der Deutschen hatte für ihn gestimmt, den Bundeskanzler, der das Land seit acht Jahren führte. «Keine Experimente» war der Slogan gewesen, mit dem die CDU in den Wahlkampf gezogen war. Das Volk wollte beruhigt werden, was die SPD mit ihrem Motto «Es ist schon wieder fünf Minuten vor zwölf! Gegen Atomrüstung, für Frieden und Wiedervereinigung» nicht verstanden hatte. Die Menschen wollten die Atombomben nicht sehen, die ihnen von den Wahlplakaten der SPD geradewegs vor die Füße fielen. Viel zu bedrohlich, viel zu kompliziert, viel zu anstrengend. Nein, sie wollten eben keine Experimente, sondern dass alles weiter seinen Gang nahm mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und der Aufnahme Westdeutschlands in die Gemeinschaft der westlichen Demokratien. Sie wählten ihren Adenauer, und der würde schon alles für sie regeln. Die Wiederaufrüstung, mit oder ohne Atomwaffen, hielt doch immerhin die Russen auf Distanz. So einfach war das für die Wähler, und deshalb hatten sie dem SPD -Spitzenkandidaten Erich Ollenhauer fast zwanzig Prozent weniger Stimmen gegeben als Konrad Adenauer.
Auch Gerber hatte für Adenauer gestimmt, aber nicht aus Bequemlichkeit. Er hielt den konsequenten Westkurs des alten und neuen Kanzlers für den einzigen Weg, um die junge Bundesrepublik davor zu bewahren, von Moskau in die Phalanx der sowjetischen Vasallenstaaten eingereiht zu werden.
Längst waren sie in das Sperrgebiet der Bannmeile eingefahren, und Gerber nahm die verstärkte Präsenz der uniformierten Polizei wahr. Sie passierten den schmucklosen Neubau des Bundespresseamts, auf dessen Gelände Gerber am Anfang seiner Bonner Zeit noch Kühe hatte weiden sehen, und vor ihnen schälte sich das Palais Schaumburg aus dem regengrauen Einerlei. Die schlossähnliche Villa, einst von Prinzessin Viktoria bewohnt, einer Schwester Kaiser Wilhelms II ., und jetzt Dienstsitz des Bundeskanzlers, konnte mit ihren weißen Mauern inmitten des grünen Parks märchenhaft anmuten, wie es sich für das Schlösschen einer Prinzessin geziemte, wenn die Sonne darauf herabschien. Jetzt war es nur ein trister, großer Kasten, in dem Gerber und Brückner nach Verlassen des Wagens eilig Zuflucht suchten.
«Kein Kanzlerwetter», machte Gerber einen verunglückten Scherz, als sie endlich ein Dach über den Köpfen hatten.
Brückner schlug seinen Mantelkragen wieder nach unten. «Wem sagen Sie das. Ich bin heute schon zum zweiten Mal hier.»
Womit seine geheimnisvolle Abwesenheit am Morgen erklärt war, dachte Gerber.
Überrascht war er, als Brückner ihn keineswegs zum Bundeskanzler führte. Sie betraten das große Büro eines bebrillten Endfünfzigers mit straff nach hinten gekämmtem Haar, der seelenruhig mit dem Füllfederhalter eine Notiz in eine rote Kladde schrieb, bevor er endlich geruhte, seine beiden Besucher anzusehen.
«Ah, da sind Sie ja», sagte ohne jede Wärme Dr. Hans Globke, Chef des Bundeskanzleramts und engster Vertrauter Adenauers. «Der Bundeskanzler erwartet – und ich schließe mich dieser Erwartung ausdrücklich an –, dass unser Gespräch höchst vertraulich behandelt wird.»
«Das habe ich Ihnen bei unserem ersten Termin heute bereits zugesichert, Herr Staatssekretär», erwiderte Brückner.
Globke klappte die Kladde zu und heftete seinen Blick auf Gerber. «Ich hoffe, auch Herr Gerber ist sich dessen bewusst. Das sage ich besonders in Anbetracht der Tatsache, dass er mit einer Journalistin befreundet ist, die, zurückhaltend ausgedrückt, unserer Politik nicht gerade wohlwollend gegenübersteht.» Er lächelte dünn, unecht. «Weniger zurückhaltend ausgedrückt: Dieses Fräulein Herden, so heißt sie wohl, gilt als ausgewiesene Kommunistin, nicht wahr? Ich hoffe, sie hat ihre Nase nicht schon in diese Sache gesteckt.»
«Davon dürfte sie nichts wissen», entgegnete Gerber. «Sie ist derzeit in Paris, um über den neuen Premier zu berichten.»
«Ach ja, Monsieur Gaillard.» Globke winkte ab. «Schon wieder so ein Radikalsozialist als Premierminister. Nun ja, die Franzosen müssen wissen, was sie tun. Wichtig für uns ist, dass Sie, Gerber, Ihrer eifrigen Freundin nichts über diesen Fall erzählen.»
«Also haben wir einen offiziellen Fall?», hakte Gerber augenblicklich nach.
«Einen Fall ja, aber keinen offiziellen», zeigte sich Globke so glatt wie sein nass gekämmtes Haar.
«Verzeihung, aber wir dürfen doch sicher Platz nehmen.»
Brückner deutete bei diesen Worten auf die Besucherstühle vor dem Schreibtisch und setzte sich, gefolgt von Gerber, ohne eine Antwort abzuwarten. Es gehörte zu Globkes Eigenarten, Besucher einfach stehen zu lassen, auch Frauen gegenüber machte er da keine Ausnahme. Wahrscheinlich glaubte er, andere dadurch leichter gefügig zu machen oder, wie er es genannt hätte, seinen Argumenten zugänglich.
Der Chef des Bundeskanzleramts schien alles dafür zu tun, bei anderen keine Sympathien zu erwecken. Als Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze stand er ohnehin in der Kritik, einer jener alten Nazis zu sein, die sich ohne größere Blessuren in die junge Bundesrepublik hinübergerettet hatten. An Adenauer prallte das alles ab. Der Kanzler brauchte fähige Leute in seinen Reihen, und die waren nun mal in der braunen Zeit ausgebildet worden. Gerber glaubte fest, dass Adenauer keinen anderen Beweggrund hatte, schon gar nicht jenen, Sympathien für die Nazis zu empfinden. Der Kanzler und seine Frau waren von ihnen verfolgt und zeitweilig inhaftiert worden, und der frühe Tod von Auguste Adenauer im Jahr 1948 war letztlich diesen Ereignissen geschuldet. Und doch beschlich Gerber in Globkes Anwesenheit stets ein unbehagliches Gefühl.
Der Staatssekretär legte angesichts der Eigenmächtigkeit seiner Besucher die Stirn über den buschigen Brauen in Falten, besann sich aber schnell und zwang sich sogar zu einem Lächeln, das ein geschulter Beobachter wie Gerber als einstudiert enttarnte.
«Die ganze Affäre um General Anderson und dieses Freudenmädchen ist höchst unerquicklich. Sie könnte uns weitgehend egal sein, hätte der General als ausgewiesener Deutschlandkenner in den vergangenen Wochen nicht die Rolle eines Sonderkuriers zwischen Washington und Bonn eingenommen. Es geht um wichtige Fragen unserer Wiederaufrüstung, wenn Sie verstehen.»
«Sie sprechen von Atomwaffen für die Bundeswehr», brachte Gerber die vorsichtige Ausdrucksweise ihres Gegenübers auf den Punkt.
War die Aufstellung einer westdeutschen Armee, Bundeswehr genannt, schon bei den eher links orientierten Teilen der Bevölkerung auf große Kritik gestoßen, traf dies auf Adenauers Bestreben, diese Armee mit atomaren Waffen aufzurüsten, noch mehr zu. Kampf dem Atomtod – so nannte sich eine Bewegung, die von linksgerichteten Intellektuellen und Studenten ausging und die zahlreiche Proteste hervorgebracht hatte. Eine Strömung, auf die im Wahlkampf auch die SPD gesetzt hatte, jedoch mit wenig Erfolg.
Bei Gerbers Worten erstarb das einstudierte Lächeln des Generalsekretärs. «Wenn Sie ohnehin wissen, worum es geht, Gerber, müssen wir nicht weiter darüber sprechen.»
«Aber wohl über die Unterlagen, die General Anderson seit seinem letzten Besuch bei Fräulein Nitribitt vermisst.»
«Ja», sagte Globke gedehnt. «Das ist ein Punkt, der uns zu schaffen macht. Und den Amerikanern. Wenn diese Unterlagen in die Hände der Roten fallen, könnten sie eine verheerende propagandistische Wirkung entfalten und damit die Bestrebungen unserer Regierung, eine Einigung mit den Amerikanern zu erzielen, torpedieren.»
Was weniger verklausuliert hieß: keine Atomwaffen für die Bundesrepublik.
Brückner beugte sich auf seinem Stuhl vor. «Heißt das, diese ermordete Dirne hat die Papiere im Auftrag der Kommunisten an sich gebracht?»
«Wir wissen nur, dass die Papiere verschwunden sind. Ob die Frau eine Agentin der Roten war, darüber liegen uns keine Erkenntnisse vor.»
Während der Staatssekretär sprach, blickte er wie zufällig an die hohe Decke seines Büros. Für Gerber war es kein Zufall, weil er wusste, dass im obersten Stock des Gebäudes, im engen und niedrigen Dachgeschoss, die Bonner Dependance des Bundesnachrichtendienstes untergebracht war. Die immer noch von Reinhard Gehlen geführte Nachfolgeorganisation der einst von den Amerikanern finanzierten Organisation Gehlen, jetzt der offizielle Auslandsnachrichtendienst der Bundesrepublik, hatte also nichts Definitives über die ermordete Prostituierte und deren mögliche Verbindungen zu den Kommunisten herausfinden können.
Gerber wollte die ganze Geschichte abkürzen und fragte rundheraus: «Wenn schon der BND in der Sache nicht weiterkommt, wozu brauchen Sie dann mich?»
Globke breitete seine Hände mit den Flächen nach oben aus. «Aber das liegt doch auf der Hand. Zu wem ist Miss Anderson denn gekommen, um Hilfe für ihren Vater zu suchen? Zu Ihnen, Herr Hauptkommissar. Sie sind ihr ehemaliger Verlobter, und jetzt, wo sich ihre Familie in Schwierigkeiten befindet, kommen Sie beide sich wieder näher.»
«Das kann man nicht sagen. Wir beide …»
«Doch, das kann man und das werden wir sagen», fiel Globke ihm ins Wort. «Wir können Sie nämlich nicht in offizieller Mission nach Frankfurt schicken, das würde nur unnötige Aufmerksamkeit erregen und die Frage aufwerfen, weshalb ein deutscher Polizist gegen einen amerikanischen General ermittelt. Aber als Andersons zukünftiger Schwiegersohn haben Sie eine Verbindung zu ihm, die nicht hinterfragt wird.»
«Die Sache hat einen kleinen Schönheitsfehler», warf Gerber ein. «June ist mit einem anderen verlobt.»
Mit einer knappen Geste gab Globke das Wort an Brückner weiter.
«Da sind die Kollegen vom CIC bereits dran», sagte der Leiter der Sicherungsgruppe. «Sie werden Miss Andersons Verlobten kontaktieren und ihn dahingehend informieren, dass seine Verbindung mit der Tochter des Generals als beendet gilt. Zumindest offiziell und für einen gewissen Zeitraum.»
«Aha», machte Gerber und gab sich keine Mühe, seinen Mangel an Begeisterung zu verbergen. «Und aus welchem Grund, wenn ich fragen darf?»
«Sie sind der Grund», antwortete Brückner. «Miss Anderson hat die Verlobung gelöst, weil sie zu ihrer wahren Liebe zurückgefunden hat.»
Globke setzte wieder sein professionelles Lächeln auf. «Ein Sieg der Romantik über die Kontinente hinweg.»
Missmutig seufzte Gerber: «Wenn Sie mit Ihrem Gehalt als Staatssekretär mal nicht auskommen sollten, Herr Dr. Globke, können Sie leicht etwas hinzuverdienen – mit dem Schreiben von Liebesschmonzetten.»