Warnke hatte Gerber vorgeschlagen, gemeinsam den Tatort zu besichtigen, und so gingen sie durch Nieselregen zu Gerbers Opel Kapitän.
«Ein guter Wagen, ich hatte auch mal einen», sagte Warnke, als er sich auf den Beifahrersitz sinken ließ.
Gerber startete den Motor. «Warum hast du ihn nicht mehr?»
«Kleiner Zusammenstoß mit der Tram, weil ich es bei einer Beschattung etwas eilig hatte. Ich habe mir dann eine Isabella gekauft, mit Polizistenrabatt.»
«Polizistenrabatt?», wiederholte Gerber, während er den Wagen aus der Parklücke rangierte.
«Die Frankfurter Polizei setzt die Isabella als Streifenwagen ein. Seitdem sind Prozente drin, wenn man den richtigen Autohändler fragt.»
«Und du kennst den richtigen Händler?»
«Selbstverständlich.» Warnke begleitete seine Worte mit einem verschwörerischen Blinzeln. «Sag mir Bescheid, falls du auch mal einen Rabatt möchtest.»
«Du bist bei deinem Händler wohl am Umsatz beteiligt.»
«Die Vorteile sind rein privater Natur. Ich gehe hin und wieder mit seiner kleinen Schwester aus. Stiftstraße 36.»
«Die Adresse deiner Freundin?»
«Die der Nitribitt. Du fährst am besten …»
«Ich kenne mich hier noch gut genug aus, danke.»
Gerber steuerte den Opel auf die Mainzer Landstraße und ließ sich von Warnke eine Zigarette geben.
Warnke zog an seiner Senoussi und klopfte mit der Holzhand aufs Armaturenbrett. «Weißt du, dass man die Nitribitt auch Lady Käpt’n genannt hat?»
«Nein, klär mich auf.»
«Sie hat ihren Kunden auf Wunsch auch mit dem Rohrstock den nackten Arsch versohlt, aber ihre zuchtmeisterliche Strenge war nicht der Grund. Der Spitzname rührt daher, dass sie auch mal einen Kapitän gefahren hat, ebenfalls einen schwarzen. Sie hat schnell rausbekommen, dass man als Nutte nicht reich wird, wenn man sich in einer Gasse vorm Bahnhof rumdrückt und auf versoffene Nachtschwärmer hofft. Sie wollte Kunden mit Stil und eben mit Geld, mit viel Geld. Also hat sie sich unabhängig vom Rotlichtmilieu gemacht, hat sich gute Wagen besorgt und den Männern dadurch gezeigt, dass sie was Besonderes kriegen. Erst hatte sie einen gebrauchten Taunus, den sie recht schnell zu Schrott gefahren hat. Dann kam der Kapitän, schon ein Neuwagen, für den sie zehntausend hingeblättert hat.»
«Respekt», brummte Gerber. «Meinen habe ich gebraucht gekauft.»
«Da hast du wohl den falschen Beruf ergriffen», lachte Warnke. «Die Nitribitt hat schnell aufgerüstet und sich einen neuen Mercedes zugelegt, einen 190 SL , schwarz mit weißem Hardtop und roten Lederpolstern. Der hat sie schlappe siebzehneinhalb gekostet. Damit kurvte sie vor den besten Hotels herum und sammelte Verehrer mit dicken Brieftaschen wie Onkel Hugo Briefmarken. Ist übrigens so ein Ding mit dem SL . Seit ihrem Tod ist er verschwunden.»
«Geklaut?»
«Das ist eine Theorie: Der Mörder hat ihn mitgehen lassen, um ihn zu verscherbeln. Falls man an einen Raubmord glaubt.»
Gerber warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. «Was du nicht tust?»
«Wenn der Mörder unter ihren wohlhabenden Verehrern zu finden ist, dann ist ein Raubmord nicht gerade ein bombiges Motiv.»
«Aber ein Verehrer könnte einen Raubmord vorgetäuscht haben, damit die Polizei nicht nach einem Mörder mit dickem Geldbeutel sucht.»
Warnke zog zufrieden an seiner Zigarette. «Es ist wie in alten Zeiten, wir sind einer Meinung. Nur eins verstehe ich nicht: Wie passen Dieter Kroos, der Flinke Freddy und der Dumme Bruno in diese Geschichte?»
«Vielleicht haben sie gar nichts damit zu tun.»
«Guter Witz. Vielleicht hatte der größte Feldherr aller Zeiten auch nichts mit Stalingrad zu tun, wie?»
«Es könnte immerhin sein, dass die drei Galgenvögel June und mich vor dem Club tatsächlich nur um die Barschaft erleichtern wollten.»
«Würdest du das glauben, hättest du dir nicht die Zeit genommen, mich im Präsidium aufzusuchen, mein guter alter Freund vom CIC .»
«Sicherungsgruppe», korrigierte Gerber. «Ich bin jetzt bei der Sicherungsgruppe.»
«Und ganz zufällig verschlägt es dich nach Frankfurt, wo du gute Kontakte zum CIC hast.»
«Du sagst es.» Gerber bog beim alten Eschenheimer Turm, dem die neuen Hochhäuser alles Beeindruckende, das einmal von dem fast fünfzig Meter hohen mittelalterlichen Stadttor ausgegangen war, genommen hatten, nach rechts und dann schnell wieder nach links auf die Stiftstraße ab. Die Nummer 36 war ein modernes Apartmenthaus, und er klemmte den Kapitän in eine Parklücke, aus der ein paar Sekunden zuvor der Lieferwagen einer Großwäscherei ausgeschert war. «Wie für uns gemacht.»
Sie stiegen aus, und ihre aufgerauchten Zigaretten landeten im Gully. Warnkes gesunde Hand deutete zu dem Apartmenthaus. «Die Wohnung der Nitribitt liegt ganz oben im vierten Stock, Apartment 41.»
«Wohnen hier weitere Damen aus dem Milieu?»
«Ganz bestimmt nicht. Das sind alles respektable Leute hier, und sie haben auch erst mit der Zeit gemerkt, welcher Art der häufige Herrenbesuch bei dem blonden Fräulein Nitribitt gewesen ist. Wie ich schon sagte, das Mädchen hat alles getan, um sich vom Milieu abzugrenzen.» Das Haus verfügte über eine moderne Gegensprechanlage, und Warnke erklärte: «Freier, die sich nicht mit dem Codewort meldeten, hat die Nitribitt nicht vorgelassen. Das Codewort war so etwas wie ihr Pseudonym.»
«Rebecca.»
«Alle Achtung, Philipp!»
Mit einem Schlüssel, den er aus der Manteltasche zog, öffnete Warnke die Tür, und sie traten in ein Treppenhaus, das nach Scheuermittel roch. Ein enger Lift brachte sie in den vierten Stock, und der Kriminaloberkommissar schloss die Tür zum Apartment 41 auf.
Gerber lachte. «Du führst mich ganz schön an der Nase rum.»
«Wieso?»
«Du bist nicht nur erstaunlich gut über den Fall Nitribitt informiert, Harry, du hast auch die Schlüssel der Ermordeten in deiner Tasche. Was bedeutet, dass du ganz tief in dem Fall drinsteckst.»
«Wusstest du das nicht?»
«Nein. Ich dachte, das sei ein Fall für die Mordkommission. Was hat deine Abteilung für Sonderaufgaben damit zu tun?»
«So viel wie das CIC oder die Sicherungsgruppe.»
«Geht es etwas präziser?»
«Die Kunden der Nitribitt, die aus höheren Kreisen stammen, aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus der Politik und dem auch nicht ganz niederen Adel, verlangen bei den Ermittlungen größte Diskretion.» Warnke hob die Holzhand und grinste. «Da ist Fingerspitzengefühl gefragt. Um das zu gewährleisten, stehe ich den Kollegen vom Mord beratend zur Seite.»
«Dann ist es nicht deine Aufgabe, den Mörder zu finden, sondern du sollst die Hautevolee unter den Verdächtigen davor bewahren, ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt zu werden.»
«Sagen wir lieber, ich sorge dafür, dass das Blitzlicht der sensationslüsternen Presse nicht die falschen Augen blendet.»
«Woher weißt du, ob die falschen nicht die richtigen sind?»
«Ach, Philipp, du stellst immer Fragen und gibst selbst keine Antworten. Bin ich nicht überaus kooperativ?»
«Ja, aber mit einer ganz großen Schippe voller Sand, den du mir ganz nebenbei in die Augen streust.»
«Schauen wir uns erst mal um», schlug Warnke vor und führte Gerber in einen Flur mit Garderobe, in dem es abgestanden roch. Durch die offene Tür zur Rechten konnte man in die Küche blicken, und gegenüber der Wohnungstür lag das Bad. Links schloss sich ein grünes Schlafzimmer mit einem französischen Bett an und schließlich ein auffallend plüschiges Wohnzimmer mit einer Musiktruhe, einem Sofa und vier Sesseln, ausgelegt mit mehreren Teppichen.
«Hier hat man die Ermordete gefunden, schon einige Zeit tot und so verwest, dass sie gar nicht mehr hübsch aussah, eher wie aus einem dieser amerikanischen Gruselfilme. Die Fußbodenheizung war aufgedreht, und die starke Wärme hat die Verwesung beschleunigt. Vielleicht war es der Mörder, der uns damit die Arbeit erschweren wollte. Hitze und Gestank waren wohl kaum auszuhalten, und irgendein Idiot unter den Kollegen hat daher das Fenster aufgerissen.» Bei der letzten Bemerkung verzog sich das hagere Gesicht des Oberkommissars zu einer Grimasse, in der sich Verachtung mit Missbilligung mischte.
«Also wurde vorher die Raumtemperatur nicht gemessen?»
«Nein.»
«Weshalb auch kein genauer Todeszeitpunkt festzustellen war.»
«So ist es.» Warnke hob in stiller Verzweiflung beide Arme zum Himmel. «Manchmal lässt der liebe Gott halt nicht genug Hirn vom Himmel fallen. Es gab noch ein paar andere Schnitzer bei den Ermittlungen. Hätte man mich früher hinzugezogen, wäre das nicht passiert.»
«Von welchem Todeszeitpunkt geht ihr aus?»
«Irgendwann am Nachmittag des 29. Oktober, aufgrund der Zeugenaussagen. Gefunden wurde sie erst zwei Tage später, als Nachbarn und ihrer Zugehfrau auffiel, dass mehrere Brötchentüten vor der Apartmenttür standen. Ein unangenehmer Geruch drang nach draußen, und drinnen bellte der Zwergpudel der Toten. Deshalb wurde eine Funkstreife hergeschickt.» Warnke deutete auf den großen Teppich in der Zimmermitte, auf eine Stelle zwischen dem Sofa und einem der Sessel. «Hier hat sie gelegen, rücklings auf dem Teppich, ein Bein unter dem Sofa und eins darauf.»
Gerber bemerkte einen dunklen Fleck an der Stelle, wo die Leiche gelegen hatte. «Gibt es Hinweise auf ein Sexualdelikt?»
«Das war angesichts der Tätigkeit, die Fräulein Nitribitt in dieser Wohnung ausübte, auch mein erster Gedanke. Aber nein, darauf deutet nichts hin. Sie war ungeschminkt und trug ein Kostüm. Das Blut, das du hier auf dem Teppich siehst, stammt von einem Schlag mit einem stumpfen Gegenstand auf ihren Hinterkopf, aber daran ist sie nicht gestorben. Sie wurde erwürgt. Allerdings …»
Gerber drehte sich zu Warnke um. «Allerdings was?»
«Eine merkwürdige Sache. Jemand, vermutlich der Täter, wer auch sonst, hat ihr ein Handtuch unter den Hinterkopf geschoben, wie um die Blutung zu stillen.»
«Du meinst, er hat nach dem Schlag auf den Hinterkopf versucht, seinem Opfer zu helfen?»
«Sieht so aus, oder? Irgendetwas hat ihn dann umgestimmt, und er hat sie erwürgt.»
«Wirklich merkwürdig. Du sprachst von einem Raubmord, Harry, aber es wirkt nicht so, als wäre die Wohnung durchsucht worden.»
«Gut beobachtet. Wir gehen davon aus, dass der Mörder ein Bekannter der Nitribitt war, der sich hier auskennt. Der Wagenschlüssel war wohl leicht zu finden. Außerdem nehmen wir an, dass der Täter dreißigtausend in bar hat mitgehen lassen.»
«So viel?»
«Sie hatte immer viel Bargeld im Haus, weil sie alles bar bezahlte. Da sie sich bei einem Juwelier einen dreikarätigen Brillantring reservieren ließ, gehen wir davon aus, dass sich zusätzlich die achtzehntausend für den Ring hier befanden. Vielleicht wusste das der Täter. Vielleicht hat er ihr nach dem Schlag auf den Hinterkopf auch nur geholfen, damit sie ihm verrät, wo das Geld ist. Als er es wusste, hat er der gefährlichen Zeugin die Luft abgedreht.»
«Ja, vielleicht», sagte Gerber, machte sich dabei aber seine eigenen Gedanken.
Orte, an denen Menschen gewaltsam zu Tode gekommen waren, hatten immer etwas Deprimierendes an sich, weshalb sie ihr Gespräch in einem nahen Lokal bei Tafelspitz und Bratkartoffeln fortsetzten. Gerber ließ sich tiefer in den Stand der Ermittlungen einweihen, hielt selbst aber mit allem hinter dem Berg, was er nicht herausrücken musste.
Bis Warnke wie beiläufig sagte: «Du stehst wie ein schützender Schild vor deinem ehemaligen Vorgesetzten, Philipp. Ist General Anderson so tief in den Fall verstrickt?»
«Das weißt du also auch?»
«Ich sagte doch, man hat meine Abteilung für Sonderaufgaben wegen der Prominenten hinzugezogen, die in den Fall verwickelt sind. Aber US -Soldaten sind für uns leider tabu. Ich hoffe da auf eine enge Zusammenarbeit mit dir.»
Gerber war nicht autorisiert, seinen alten Freund ins Vertrauen zu ziehen. Andererseits war dessen Unterstützung hier in Frankfurt überaus wertvoll, vielleicht sogar unerlässlich. Auf der Suche nach einer Antwort, die Warnke nicht vor den Kopf stoßen würde, blickte er durch das große Fenster der Gaststätte hinüber zum Eschenheimer Turm, den Autos, Trambahnen und Passanten mit Einkaufstaschen umströmten wie geschäftige Ameisen ihren Bau. Nein, irgendeine Romantik ging von dem jahrhundertealten Gebäude wirklich nicht mehr aus. In seiner Frankfurter Zeit hatte er zwei- oder dreimal an einem der Tische vor dem Turm gesessen, um etwas zu essen oder einfach nur ein Bier zu trinken. Heute würde ihm das nicht mehr einfallen.
«Ich sage dir alles, was ich dir sagen darf, Harry», versicherte er schließlich. Kaum hatte er das ausgesprochen, da war ihm auch schon bewusst, wie lahm und nichtssagend sich das anhörte.
Ein bitteres Grinsen auf Warnkes länglichem Gesicht zeigte deutlich, was er davon hielt. «Aber du darfst mir nichts sagen, richtig?»
Gerbers Frustration mündete in einen zu hektischen Stoß mit seiner Gabel, und eine empörte Kartoffel sprang über den Tellerrand, um über den halben Tisch zu rollen. «Ich werde versuchen, dich ins Boot zu holen, aber dazu muss ich erst telefonieren.»
Das tat er zwei Stunden später, nachdem er Warnke zurück zum Präsidium gebracht hatte. Er ging in die nächste Telefonzelle, um Dr. Brückner anzurufen. Doch er landete bei Fräulein Senft, und da war auch Schluss.
«Herr Dr. Brückner ist außer Haus, und ich kann Ihnen auch nicht sagen, wann er zurückkommt, Herr Hauptkommissar.»
«Wieder einmal», brummte er in die Sprechmuschel.
«Soll ich dem Herrn Doktor ausrichten, dass Sie um seinen Rückruf bitten?»
«Nein, schon gut, ich melde mich wieder.»
Er ging durch den leichten Regen zu der Villa, in der auch schon im Krieg ein General gewohnt hatte, allerdings ein deutscher. Kyle Brodie öffnete ihm, und ein Blick in das sonst so abgeklärte Gesicht des Staff Sergeant verriet Gerber, dass sich etwas Schlimmes ereignet hatte.