// Kapitel 10 //

Bill Ramseys Anruf kam Gerber gerade recht, erlaubte er ihm doch, der bedrückenden Atmosphäre im Haus der Andersons zu entkommen. Der Regen hatte aufgehört, und die Sonne lugte vorsichtig durch die aufgerissene Wolkendecke. Gerber entschied sich, zu Fuß in die Innenstadt zu gehen, auf demselben Weg, den er gestern mit June genommen hatte. Den Kapitän zu nehmen, wäre angesichts des Frankfurter Straßenverkehrs kaum schneller gewesen.

Am Rand des Teiches blieb er stehen, zündete sich eine Camel an und dachte an die Frau, deren Sterbeort er heute besichtigt hatte. Bei ihrem Mittagessen hatte Warnke ihn mit einem Lebenslauf vertraut gemacht, den sein Freund zu Recht als wechselhaft bezeichnet hatte.

1933 war sie in Düsseldorf auf die Welt gekommen, und das war zweifellos ein «Scheißjahr» gewesen, wie Warnke es ausgedrückt hatte, um ausgerechnet in Deutschland den Pfad des Lebens zu beschreiten. Und «beschissen» waren laut Warnke auch die Verhältnisse gewesen, in die sie hineingeboren wurde. Die Mutter war minderjährig und unverheiratet, der Vater nicht bekannt oder zumindest von der Mutter nicht angegeben. Weil diese unfähig und vielleicht auch unwillig war, für die Tochter anständig zu sorgen, kam die Kleine ins Kinderheim, zu Pflegeeltern und immer wieder ins Erziehungsheim, in Klosterhaft oder in den Jugendknast. Eine Vergewaltigung im Alter von elf Jahren blieb strafrechtlich ungeahndet, den jungen Mann steckte man lieber in die Wehrmacht.

Aber Rosemarie hatte früh gelernt, was den Männern gefiel, und kurz nach dem Krieg, erst dreizehn Jahre alt, begann sie auf einem französischen Militärflugplatz damit, ihren Körper zu Geld zu machen. Nachdem sie einen Rechtsanwalt dafür angeheuert hatte, sich vorzeitig für volljährig erklären zu lassen, war Frankfurt kaum eine zufällige Wahl, um an Geld zu kommen. Hier schlug das finanzielle Herz der Bundesrepublik, und hier arbeitete sie mit einer fast militärischen Disziplin an ihrem Aufstieg. Sie besuchte Benimmkurse, um ihre Umgangsformen aufzupolieren, lernte Englisch und Französisch, kaufte sich teure Autos und mietete sich eine teure Wohnung, um sich vom Heer der Bahnhofsnutten abzusetzen. Sie bot ihren Kunden Qualität, und Qualität hatte ihren Preis. Gerber hatte in ihrer Wohnung Bücher von Marcel Proust und Stefan Zweig gesehen. «Keine Ahnung, ob sie die gelesen hat», hatte Warnke gesagt. «Aber nicht viele aus dem horizontalen Gewerbe dürften überhaupt die Namen kennen.»

Gerber warf die halb aufgerauchte Camel, die ihm plötzlich nicht mehr schmeckte, in eine Pfütze. Was immer das Geheimnis von Rosemarie Nitribitt war, mit vierundzwanzig Jahren war sie auf jeden Fall zu früh aus dem Leben gerissen worden. Der Aufwand, den sie betrieben hatte, um etwas aus sich zu machen, hatte sich nicht ausgezahlt.

Vor ihm lag die Innenstadt. Das Fernmeldehochhaus, ein erst kürzlich errichteter Neubau, war ein gewaltiger Komplex, der sich aus mehreren Gebäuden, Türmen und Parabolantennen zusammensetzte und schon von Weitem sichtbar war, das moderne Wahrzeichen Frankfurts. Die Sonne spiegelte sich in seinen Fenstern, was den funktionalen Riesenkasten aber nicht ansehnlicher machte. Hier schlug das fernmeldetechnische Herz Frankfurts und ganz Westdeutschlands, da Berlin durch seine Lage in der Ostzone dafür nicht länger infrage kam. Unter der Erde liefen die Fernmeldekabel aus ganz Europa zusammen. Tausende von Menschen arbeiteten im Fernwahlamt, im Telegrafenamt, im Postamt 1, in der Sendezentrale des Deutschen Wetterdienstes und in der Rundfunk- und Fernsehübertragungsstelle. Ein gigantischer Ameisenhügel aus Stahl, Beton und Glas, der in einer Tiefgarage unter dem Innenhof seine Fortsetzung fand. Gerber war mit dem Bau einigermaßen vertraut, weil er in einer frühen Bauphase der CIC -Verbindungsmann im Sicherheitsstab der Bauleitung gewesen war. Natürlich hatte die US Army ein großes Interesse daran gehabt, die westdeutsche Kommunikation gegen jede Art von Sabotage abzusichern. Außerdem war es um den Sicherheitskomplex F1 gegangen.

Mit einer Fläche von siebzehntausend Quadratmetern grenzte das Fernmeldezentrum gleich an mehrere große Straßen, darunter auch die Stiftstraße, in der er heute schon gewesen war. Die Zeil, von der Ramsey sich gemeldet hatte, war die Einkaufsstraße Frankfurts, wo ein großes Kaufhaus an das nächste grenzte. Hier ergoss sich das viel beschworene deutsche Wirtschaftswunder mit vollgepackten Taschen und Tüten, in Autos und Trambahnen von der Hauptwache im Westen bis zur Konstablerwache im Osten und wieder zurück, und Gerber überlegte schon, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, mit Ramsey einen genaueren Treffpunkt festzulegen, als ihm auf der Höhe der Hauptpost jemand auf die Schulter klopfte. Er drehte sich um und blickte in das breite Gesicht des Sängers, der ein zusammengeschnürtes Päckchen unter dem Arm trug.

«Hallo, Mister Gerber. Sie wären fast an mir vorbeigelaufen.»

«Kein Wunder bei dem Gewusel. Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen, aber es freut mich.»

«Mich ebenfalls. Jetzt, wo der Schock verflogen ist, kriege ich plötzlich mächtigen Hunger. Da hinten kenne ich einen Imbiss, der verkauft leckere Heringsbrötchen. Hätten Sie Lust?»

«Warum nicht», sagte Gerber und dachte daran, dass Tafelspitz und Bratkartoffeln mittlerweile ein paar Stunden zurücklagen.

Sie kämpften sich durch den Menschenstrom zu einem eher unauffälligen kleinen Lokal, wo Ramsey ihn zu einem Heringsbrötchen und einer Sinalco einlud. Der Sänger biss mit Heißhunger ein großes Stück aus seinem Brötchen, kaute schnell, spülte es mit einem Schluck Limonade hinunter und wirkte danach deutlich ruhiger.

Er rieb über seinen Bauch. «Das habe ich nach dem Schreck gebraucht. Essen beruhigt die Nerven, nicht war, Mister Gerber?»

«Sagen Sie einfach Phil zu mir, okay?»

Ramsey nickte und sagte mit einem Grinsen: «Bill und Phil, das klingt wie eine komische Nummer aus dem Varieté.» Er klopfte auf sein gut verschnürtes Päckchen. «Apropos, ich hatte mir gerade ein neues Sakko für meine Auftritte gekauft, grob kariert, damit es auf der Bühne auffällt. Als ich aus dem Bekleidungsgeschäft kam, habe ich sie gesehen.»

«Wen?»

«Rosie! Ich meine Rosemarie Nitribitt. Nach der haben Sie sich doch gestern so ausgiebig erkundigt. Und heute sehe ich sie!»

«Als Foto an einem Zeitungskiosk oder wie?»

«Quatsch! In Person. Sie fuhr im Auto auf der Zeil an mir vorbei.»

«Aber sie ist tot!»

Ramsey machte ein unglückliches Gesicht. «Deshalb habe ich mich ja so aufgeregt. Ich glaube nicht an Geister und so ein Zeug. Unser Gespräch gestern hat meine Fantasie wohl zu stark angeregt, und ich habe mir das Ganze nur eingebildet. Tut mir leid, wenn ich Ihre Zeit verschwendet habe, Phil. Aber es hat mich so verwirrt, dass ich in die nächste Telefonzelle gelaufen bin, um Sie anzurufen.»

«Erzählen Sie mal genau, was Sie gesehen haben.»

«Ich kam gerade aus dem Laden, als sie an mir vorbeifuhr. Sie saß am Steuer eines schwarzen Wagens und trug einen breitkrempigen Hut. Das Verdeck war zu, es hatte ja auch kurz vorher geregnet. Für mich sah sie aus wie die Rosie. Vielleicht lag es auch an dem Auto, das so ähnlich war.»

Gerber dachte an den verschwundenen Wagen der Ermordeten. «Nur so ähnlich? Oder war es ihr Fahrzeug?»

«Das weiß ich nicht. Ich kenne diesen schwarzen Mercedes, den die Rosie gefahren haben soll, nur aus der Zeitung.»

«Beschreiben Sie den Wagen so gut, wie Sie können, bitte.»

«Schwarz, ein Mercedes.»

«Sie sagten etwas von einem Verdeck. Also war es ein Cabrio?»

«Ja, stimmt.»

«Ein 190 SL

Ramsey überlegte kurz und nickte. «Ja, so einer.»

«Welche Farbe hatten die Reifen?»

«Die waren nicht schwarz, sondern hell, an den Seiten wenigstens.»

«Weißwandreifen?»

«Ja, genau.»

«Und die Farbe der Polster?»

Wieder stieß der andere die Luft aus. «Schwierig, vielleicht Braun oder etwas in der Art. Da kann ich mich nicht festlegen.»

Braun oder Dunkelrot, das konnte man beim flüchtigen Betrachten eines vorbeifahrenden Autos schon einmal verwechseln. Bis jetzt stimmte alles – oder hätte stimmen können.

«Ich habe noch eine Frage, Bill.»

«Die ich Ihnen leider nicht beantworten kann.»

«Sie wissen, wonach ich Sie fragen will?»

Ramsey schob den Rest seines Brötchens in den Mund und sagte beim Kauen: «Ich gehe zwar nicht jede Nacht mit einem Krimi ins Bett, aber ein bisschen kenne ich mich doch aus. Sie wollen mich nach dem Kennzeichen fragen, richtig?»

«Richtig.»

«Ich Idiot war so perplex, dass ich nicht darauf geachtet habe. Für den Polizeidienst ungeeignet, was?»

Gerber war zwar enttäuscht, schüttelte aber den Kopf. «Ganz ehrlich, Bill: Sähe ich gerade einen Geist im Wagen an mir vorbeirauschen, wäre das Nummernschild das Letzte, woran ich dächte. Wohin ist der Wagen gefahren?»

«Die Zeil entlang Richtung Konsti. Irgendwann schob sich eine Tram davor, und ich habe ihn aus den Augen verloren.»