Eigentlich war Gerber ganz zufrieden, als er mit der Tram vom Polizeipräsidium zur Bockenheimer Anlage fuhr. Der Plan für den morgigen Einsatz gegen die Bahnspringer war geschmiedet, und das stimmte ihn zuversichtlich, endlich einen Schritt voranzukommen. Die Kriminaltechniker hatten auf dem von Gerber sichergestellten Springmesser tatsächlich Dieter Kroos’ Fingerabdrücke gefunden, was ein gutes Druckmittel gegen Kroos sein würde.
Das letzte Stück zur Anderson-Villa ging er zu Fuß, und seine Laune verschlechterte sich mit jedem Schritt. Er dachte daran, dass er den General endlich zur Rede stellen musste. Freunde im Hause Anderson würde er sich damit kaum machen, aber es war unumgänglich.
«Schläft der General noch?», fragte Gerber, als Brodie ihm öffnete.
«Er ist eben aufgewacht, und ich habe ihm einen Tee gebracht.» Brodie half ihm aus dem Mantel. «Miss June ist bei ihm.»
Gerber klopfte leise an die Schlafzimmertür und trat ein, nachdem June ihn dazu aufgefordert hatte. Sie saß wieder auf der Bettkante und hielt die Untertasse, während ihr Vater einen Schluck Tee trank.
Er bedachte Gerber mit einem unsicheren Lächeln. «Ihr kümmert euch alle rührend um mich. Ich komme mir vor wie auf einer Kur.»
«Ich habe gar nichts für Sie getan, Sir, ich war unterwegs.»
«Aber doch sicher in der Angelegenheit, die … uns alle beschäftigt.»
«Ja, Sir.»
Anderson zeigte auf den Stuhl, auf dem Gerber heute bereits gesessen hatte, und er nahm Platz.
«Gibt es Neuigkeiten, Phil?», fragte der General in einem Ton, der ungezwungen klingen sollte.
«Ich habe ausführlich mit der Frankfurter Polizei gesprochen und mir auch Fräulein Nitribitts Wohnung angesehen. Dabei ist die eine oder andere Frage aufgetaucht, die Sie mir vielleicht beantworten können, Sir.»
June warf Gerber einen irritierten Blick zu. Sie war nicht damit einverstanden, dass er ihren Vater auf den Mordfall ansprach, aber für Gerber war es genau der richtige Moment. Anderson war noch angegriffen und in seinem gegenwärtigen Zustand am besten zu knacken.
Der General gab sich jovial. «Was willst du wissen, Phil?»
«Mich interessiert brennend, weshalb Sie mich angelogen haben, General.»
«Phil!», herrschte June ihn an. «Wie kannst du es wagen! Dad geht es nicht gut, du solltest besser gehen!»
«Du solltest besser das Zimmer verlassen, June», erwiderte Gerber gelassen. «Damit ich in Ruhe mit deinem Vater sprechen kann.»
«Ich werde dich keinesfalls mit Dad allein lassen!»
«Nur die Ruhe, Kinder.» Anderson stellte die Tasse zurück auf den Unterteller, und seine Hand zitterte dabei leicht. «Wahrscheinlich hat Phil nur etwas falsch verstanden.»
«Ich denke, ich habe Sie sehr gut verstanden, Sir. Sie haben mir erzählt, nach dem Streit mit Fräulein Nitribitt am Nachmittag des 29. hätten Sie das Apartment in der Stiftstraße verlassen. Ihre Freundin habe sich da bester Gesundheit erfreut, und Sie hätten sie danach nicht noch einmal gesehen.»
«Ja, so war es.»
«Nein, so war es nicht. Sie sind später noch einmal in der Wohnung gewesen. Da war Ihre geliebte Rebecca gar nicht mehr bei guter Gesundheit, oder? Vielleicht war sie da sogar schon tot!»
Gerber achtete nicht auf Junes erneute Proteste. Sein Ton war scharf geworden, und sein Blick war fest auf den Mann im Bett gerichtet.
Ein kurzes Klopfen an der Tür, und Brodie schaute ins Zimmer. «Kann ich etwas tun?»
Anderson winkte ab. «Alles in Ordnung, Sergeant. Sie können den Tee mitnehmen.» Als Brodie mit der Tasse gegangen war, wandte sich der General wieder Gerber zu. «Was bringt dich zu deiner Annahme?»
«Das Handtuch», sagte Gerber und erntete von den beiden anderen nur fragende Blicke. «Rosemarie Nitribitt wurde erwürgt, aber sie hatte auch eine blutende Wunde am Hinterkopf. Jemand hatte ein Handtuch daruntergeschoben, wie um die Blutung zu stillen und ihr die Lage bequemer zu machen. Wer tut so etwas?»
«Vermutlich der Mörder», antwortete June harsch.
«Um sie anschließend zu erwürgen?» Gerber schüttelte den Kopf, während starker Regen einsetzte und laut gegen das Fenster trommelte. Er konzentrierte sich ganz auf General Anderson. «Ich glaube nicht daran, dass es der Mörder war. Ich denke, wir haben es mit zwei Personen zu tun. Eine hatte Mitleid mit der Frau, die andere nicht. Aber ich war nicht dabei. Nur einer hier im Raum kennt die Wahrheit.»
Andersons kantiges Soldatengesicht nahm einen gequälten Ausdruck an, und er seufzte: «Die Wahrheit …»