Neun Tage zuvor: Dienstag, 29. Oktober 1957

Hiram C. Anderson saß in der schummrigen Bar an der Stiftstraße und nippte lustlos an seinem Whiskey Sour. Aus der Jukebox kam ein Song von diesem Hampelmann, der glaubte, unbedingt wie ein Schwarzer singen zu müssen, Elvis Presley. Wenn etwas Andersons Stimmung noch verschlechtern konnte, dann dessen Gegröle. Ihm war zu Ohren gekommen, Presley solle demnächst zum Militärdienst eingezogen werden. Bei dem Gedanken schnaubte er verächtlich. Wahrscheinlich würde der Kerl irgendeinen Arzt mit einem Riesenhaufen Geld zuscheißen, um den Rock-’n’-Roll-Sänger durch ein Attest dienstunfähig zu schreiben. Oder er würde sich zu einem dieser verlotterten Haufen von der Truppenbetreuung versetzen lassen, wo er sein Neger-Gejodel einfach fortsetzen konnte und von der Army noch dafür bezahlt wurde. In Anderson stieg der fast unbezwingbare Wunsch auf, diesen Elvis-the-Pelvis als Ausbilder in die Finger zu kriegen. Er hätte das Bürschchen so lange durch die Landschaft gescheucht, bis ihm das Wasser in seinem Wackelarsch kochte.

Frustriert stürzte er den Rest in seinem Glas auf einen Zug hinunter, wandte sich zur Bar um und orderte lauthals Nachschub. Draußen war die Nachmittagssonne hervorgekommen und schien durch die große Fensterscheibe auf seinen Tisch, ließ das leere Glas einen länglichen Schatten auf das billige Furnier werfen. Er stützte das Kinn auf eine Hand und fuhr mit der anderen durch sein kurzgeschorenes Haar. Erleuchtung, dachte er voller Sarkasmus, konnte er jetzt gut gebrauchen.

Hatte Rebecca wirklich nichts mit dem Verschwinden der Unterlagen zu tun? Er wollte es ihr gern glauben, alles in ihm drängte danach, weil es ihm geholfen hätte, sein Bild von ihr zu bewahren. Sie war nicht auf Geld aus, nicht vordringlich, nicht bei ihm. Sie fühlte mehr für ihn, ganz so wie er für sie. Diese Wunschvorstellung war heute zerplatzt wie eine Seifenblase. Er lachte bitter in sich hinein, als der Barmann ein neues Glas vor ihm abstellte und das alte mitnahm. Rebecca war wirklich nicht auf sein Geld aus gewesen, sondern auf seine Geheimnisse. An jenem Tag vor dem Frankfurter Hof, als er ihr Lächeln erwidert hatte, war er in eine der ältesten Fallen der Welt getappt, die Honigfalle.

Er beugte sich vor und blickte hinüber zu dem Apartmenthaus, mit dem er so viele glückliche Stunden verknüpfte. Er hätte vorhin nicht einfach weggehen dürfen. Den Rückzug antreten! Bei jedem oder jeder anderen hätte er das nicht getan, aber bei ihr wurde er weich, zum Teufel!

Voller Zorn auf die junge Frau in Apartment  41 und ebenso auf sich selbst und seine Dummheit kippte er den zweiten Whiskey Sour hinunter wie einen Schluck Wasser und knallte das Glas mit solcher Wucht auf den Tisch, dass es umstürzte, über die Platte rollte und auf den Boden fiel, wo es mit einem leisen Klirren zersprang. Nur die halbe Zitronenscheibe lag noch auf dem Tisch. Ein paar Gäste und auch der Barmann sahen zu ihm herüber. Er hatte schon zu lange in dem miesen Schuppen gesessen und sich dämliche Musik angehört. Im Augenblick dudelte die Jukebox Perry Como mit Papa Loves Mambo. Schwachsinn! Niemand, der bei Verstand war, mochte Mambo. Er zog genug Geld aus einer Tasche, um die beiden Drinks und das kaputte Glas zu bezahlen, legte es achtlos auf den Tisch, stemmte sich hoch und verließ mit schnellen Schritten die Bar.

Vor der Tür war ihm plötzlich schwindelig, und er musste sich abstützen. Schweiß stand auf seiner Stirn, und er wischte mit einem Ärmel seiner Uniform achtlos darüber. Zwei lächerliche Drinks konnten ihn doch nicht aus den Latschen hauen, so ein Blödsinn. Es musste die komische Luft sein, die unangenehm warm und feucht war. Natürlich war es die Luft! Das redete er sich auf dem Weg zu dem Apartmenthaus ein, aber tief in sich kannte er die Wahrheit: Die Erkenntnis über sich selbst und über das, was er sich über Rebecca vorgemacht hatte, hatte ihn schwer getroffen.

Anderson rempelte mehrere Passanten an, was ihm gleichgültig war. Niemand beschwerte sich über den kräftigen Mann in der Uniform eines hohen amerikanischen Offiziers. Die Amerikaner hatten dieses Land von seinem selbsternannten «Führer» befreit, hatten es wieder aufgebaut, und sie hatten hier immer noch das Sagen, Bundeskanzler Adenauer hin und Pariser Verträge her. Und jetzt öffnete ihm Rebecca nicht einmal die Tür, obwohl er den Daumen fest auf den Klingelknopf presste und ihren Namen in die Gegensprechanlage rief, ihren Kosenamen und ihr Kennwort für ihre … ja, für ihre Kunden.

Aber er war keiner von den anderen, war nicht nur ein Kunde. Das Besondere, was ihn mit Rebecca verband, zeigte sich in dem Schlüssel, den sie ihm anvertraut hatte. Er lächelte grimmig, als er ihn aus der Tasche zog. Damit hatte sie sich der Möglichkeit beraubt, sich vor ihm zu verstecken, die tote Maus zu spielen.

«Warte nur, du führst mich nicht länger an der Nase herum!», knurrte er, als er die Haustür öffnete und das Treppenhaus betrat.

Als er mit dem Lift in den vierten Stock fuhr, malte er sich aus, wie er sie zum Sprechen bringen würde. Bisher war er davor zurückgeschreckt, Rebecca hart anzufassen. Aber wenn sie nur mit ihm gespielt hatte, war er ihr keine Rücksichtnahme schuldig. Sie war der Köder in der Honigfalle und er der dumme Bär, der hineingetappt war. Das würde sich jetzt ändern!

Er klingelte gar nicht erst an ihrer Tür, sondern benutzte gleich den Schlüssel. Erst beim Betreten der Wohnung kam ihm der Gedanke, dass Rebecca tatsächlich nicht zu Hause sein mochte. Aber ihr Duft hing in der Luft, und er glaubte, ein Geräusch aus dem Wohnzimmer zu hören. Also doch, sie hielt sich vor ihm versteckt!

Schnurstracks ging er ins Wohnzimmer – und erstarrte. Ja, Rebecca war da, aber sie lag auf dem Boden und rührte sich nicht. Das blonde Haar hing wirr um den Kopf und wies hinten einen dunklen Fleck auf.

Blut!

Der Zorn auf sie, eben noch übermächtig, war verflogen, vertrieben von der Sorge um sie.

«Rebecca!»

Sie antwortete nicht, aber Gott sei Dank lebte sie! Ihr Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus ihres schweren Atmens.

Er wollte zu ihr eilen, aber der Soldat in ihm gewann die Oberhand und brachte ihn dazu, etwas zur Erleichterung ihrer Lage zu tun. Er lief ins Badezimmer und schnappte sich ein Handtuch. Damit kniete er sich neben Rebecca, hob vorsichtig ihren Kopf an und legte das Tuch darunter. Jetzt lag sie nicht mehr so hart auf dem Teppich, und das Tuch sollte auch helfen, die Blutung zu stillen.

Aber das reichte nicht aus. Sie benötigte Hilfe, Sanitäter, einen Arzt. Dort auf der Anrichte stand das Telefon, und er wollte sich erheben, als er den Schatten bemerkte. Der Schatten sprang ihn an, ein heftiger Schmerz fuhr durch seinen Kopf, und das Letzte, was er sah, war das schöne, reglose Gesicht von Rebecca.

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Anderson atmete schwer, der Schweiß perlte auf seiner Stirn.

«Wie ging es weiter, Sir?», fragte Gerber.

«Es ist jetzt wirklich genug, Phil!», kam es scharf von June. «Du siehst doch, wie es Dad mitnimmt.»

«Schon gut, June, es gibt nicht mehr viel zu erzählen. Als ich wieder zu mir kam, war eine halbe Stunde vergangen, vielleicht auch mehr. Ich weiß es nicht mehr genau. Aber es war zu spät für Rebecca. Sie war tot. Erwürgt.»

Der General sprach jetzt abgehackt, als müsse er sich jedes Wort abringen, und seine Stimme wurde zu einem Krächzen. Gerber bemerkte Junes flehenden Blick.

«Sie sind nicht zum Telefon gegangen, Sir, haben keine Hilfe geholt», stellte er fest, sachlich, ohne einen erkennbaren Vorwurf.

«Wozu auch? Es war zu spät!»

«Haben Sie noch einmal nach den verschwundenen Unterlagen gesucht?»

«Nein. Es erschien mir sinnlos. Außerdem wollte ich einfach nur weg aus dem Apartment. Wenn man mich dort erwischt hätte …»

«Hätte man Sie für den Mörder gehalten», beendete Gerber den Satz. «Waren Sie stark verletzt?»

«Nein, nur eine Beule am Kopf. Offenkundig hatte es der … der …»

«Schatten, belassen wir es dabei.»

Anderson nickte schwach. «Der Schatten hatte es nicht auf mich abgesehen. Aber Rebecca musste sterben. Warum nur?»

«Vielleicht, weil sie wusste, wer sie dazu angestiftet hatte, die Geheimpapiere zu stehlen. Vielleicht auch, weil sie die Dokumente nicht an ihren Auftraggeber herausgeben wollte.»

In Andersons müden Augen glomm ein Schimmer auf. «Glaubst du, sie hatte es bereut und wollte mir die Dokumente zurückgeben?»

«Ich glaube nicht an den Weihnachtsmann», sagte Gerber kalt. «Eher daran, dass sie den Preis in die Höhe treiben wollte, um ihren aufwendigen Lebensstil zu finanzieren. Das dürfte ihrem Auftraggeber nicht gefallen haben.»

Anderson sah aus, als wolle er widersprechen, überlegte es sich dann aber anders. Wahrscheinlich musste er einsehen, dass die Fakten gegen Rosemarie Nitribitt sprachen, gegen seine geliebte Rebecca.

«Was haben Sie mit dem Schlüssel gemacht, den Ihre Geliebte Ihnen anvertraut hat?», erkundigte sich Gerber.

«Ich habe ihn weggeworfen, als ich das Haus verlassen habe. Ich weiß gar nicht mehr, wo. Er ist in einem Mülleimer oder in einem Gully gelandet, irgendwo.»

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«Du bist ein Scheusal, Phil», fauchte June ihn an, als sie unten im Salon saßen und auf das Abendessen warteten. «So, wie du Dad behandelt hast, wäre nicht einmal einer seiner Feinde mit ihm umgesprungen. Da ist ja der KGB rücksichtsvoller!»

Gerber, der seine Erfahrungen als Gefangener des sowjetischen Geheimdienstes gemacht hatte, blieb ruhig und sagte durch den Rauch seiner Camel: «Sei mir nicht böse, aber von den Methoden des KGB hast du nicht die geringste Ahnung.»

«Für Dad bist du immer ein guter Freund gewesen, beinah ein Sohn.»

«Ein Freund? Wenn ja, dann einer, den er kräftig angelogen hat.»

«Und du? Bist du immer offen und ehrlich zu allen gewesen, die dich mögen und vielleicht sogar lieben?»

Gerber antwortete nicht. June hatte ins Schwarze getroffen, und das wusste sie auch. Sie hatte von sich und ihrem Vater gesprochen. Vor vier Jahren, kurz nach seinem Wechsel zur Sicherungsgruppe, war Gerber in die Anderson-Villa eingedrungen und hatte eine Akte über Konrad Adenauer aus dem Tresor entwendet. Und privat hatte er auch kein reines Gewissen. Er war bereits mit Eva liiert gewesen, als er seiner Verlobten June den Laufpass gegeben hatte. Dafür, wie er mit ihr umgegangen war, schämte er sich bis heute. Aber er konnte – und wollte – das alles nicht mehr rückgängig machen, und für irgendwelche lauwarmen Entschuldigungen war es längst zu spät.

Niemand von ihnen sprach ein Wort. Als Brodie den Salon betrat, um ihnen ein amerikanisches Gulasch zu servieren, fühlte sich Gerber regelrecht erleichtert.

«Ich habe dem General eine Suppe und ein paar Sandwiches ans Bett gestellt und hoffe, er kommt bald wieder zu Kräften», sagte der Staff Sergeant und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: «Nicht nur körperlich.»

Beim Essen kam die Unterhaltung zwischen Gerber und June wieder in Gang, und sie sprachen wohlweislich nicht über die Vergangenheit. Gerber erzählte, dass er am kommenden Tag früh das Haus verlassen müsse, um dabei zu sein, wenn die Frankfurter Polizei die drei Schläger vom Fun Spot festnahm.

June blickte ihn zweifelnd an. «Du glaubst wirklich, der Überfall auf uns war kein Zufall?»

«Als Junge habe ich viel Karl May gelesen. Das ist ein deutscher Schriftsteller, der Winne…»

«Ich weiß, wer das ist. Und?»

«Karl May sagte immer, es gibt keinen Zufall.»

«Und was sagst du, Phil?»

«Mir fehlt Mays unbedingter Glaube an die göttliche Ordnung der Dinge, aber in diesem Fall glaube ich auch nicht an einen Zufall. Ein paar Leute willkürlich vor einem Jazzclub zu überfallen, das passt so gar nicht zu dem sonstigen Vorgehen dieser schrägen Vögel. Irgendjemand hat sie beauftragt, und an den müssen wir rankommen.»

«Vorausgesetzt, dieser Auftraggeber hat etwas mit Dads … misslicher Lage zu tun.»

«Davon gehe ich aus, June. Wie ich eben schon sagte, ich glaube nicht an Zufälle.»

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June fühlte sich erschöpft und verließ den Salon kurz nach dem Essen. Sie wollte noch einmal nach ihrem Vater sehen und dann früh zu Bett gehen. Gerber gönnte sich eine weitere Zigarette und las einen längeren Zeitungsartikel über die Hündin Laika, die ein paar Tage zuvor von den Sowjets mit dem Sputnik 2 in die Erdumlaufbahn geschossen worden war. Der militärischen Bedrohung, die mit den sowjetischen Erfolgen im Weltraum verbunden sein mochte, maß der Artikelschreiber kaum Bedeutung bei. Er machte sich weniger Sorgen um das Wohl der freien Welt als um das der Hündin im Erdorbit.

Gerber beschloss, es June nachzumachen und früh in die Federn zu gehen, um am nächsten Tag fit zu sein, wenn es gegen Dieter Kroos und Konsorten ging. Auf dem Weg zu seinem Zimmer hörte er, wie June leise nach ihm rief. «Phil?»

Er blieb vor ihrer Tür stehen und fragte ebenso leise: «Ist etwas nicht in Ordnung, June?»

Die Tür wurde aufgezogen, und June stand vor ihm. Sie war schon im Bett gewesen und hatte ein weißes Nachthemd mit dünnen Trägern an, das oben mit Spitzen besetzt war und unten in Rüschen auslief. Im Zimmer brannte nur ein schummriges Licht, die Lampe auf dem Nachttisch. Als sie zu ihm aufblickte, das blonde Haar in Unordnung und die Lippen halb geöffnet, wirkte sie verängstigt und verführerisch zugleich.

«Nichts ist in Ordnung, Phil, und das weißt du.»

Er kämpfte gegen den Impuls an, June an sich zu ziehen. «Dein Harvard-Beau sollte jetzt hier sein.»

«Er ist aber nicht hier. Du bist hier. Komm doch herein.»

June fasste ihn an den Unterarmen und zog ihn ins Zimmer. Er ließ es geschehen. Kaum hatte sie die Tür hinter ihm zugezogen, fielen alle Bedenken von ihm ab. Er legte die Arme um sie und küsste sie. Sie erwiderte den Kuss, lange und voller Leidenschaft. Der Mann im Anzug und die Frau im dünnen Nachthemd schienen nur darauf gewartet zu haben, und keiner von ihnen störte sich daran, dass sie nicht zusammengehörten, schon lange nicht mehr. Die Jahre, die sie trennten, waren in diesem Augenblick wie weggewischt, fortgeschwemmt von dem heftigen Regen, der unentwegt gegen das Fenster klatschte. Er war wieder der junge CIC -Agent und sie die Tochter seines Colonels, die kleine Schwester seines Kollegen und besten Freundes Jim. Ihre wechselseitige Leidenschaft wurde dadurch noch intimer, war umweht vom Hauch des Verbotenen.

Das Bett, aus dem June eben gestiegen war, stand nur drei Meter entfernt, aber sie schafften es nicht bis dahin. June sank rücklings auf den Teppich und zog ihn mit sich. Mit Mühe konnte er sich des Jacketts entledigen und schleuderte es achtlos von sich.

Irgendwie konnte er Schuhe und Hose ablegen, aber er trug noch sein Hemd und seine Waffe, als sie zueinanderfanden.

Es blieb nicht bei dem einen Mal und fand seine Fortsetzung, diesmal ohne Hemd und Dienstpistole, in Junes Bett. Von beiden fiel die Spannung ab, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, seit June in Bonn so unerwartet an seine Tür geklopft hatte.