// Kapitel 13 //

Freitag, 8. November 1957

Gerber saß neben Harald Warnke in dem zivilen Borgward der Frankfurter Kripo und wartete. Sie tranken Kaffee aus einer Thermoskanne, Hanisch und ein weiterer Kollege vom Raubdezernat hockten auf der Rückbank. Die vier Männer schwiegen und lauschten dem leisen Klopfen des Regens. Eigentlich war es Zeit für den Sonnenaufgang, aber der junge Morgen blieb diffus. Die Wolken erlaubten nicht mehr als ein graues Einerlei am Himmel über den herbstlichen Bäumen. Nur unbefestigte Wege führten an diese Stelle südlich von Sachsenhausen, wo die Eisenbahntrasse ein ausgedehntes Waldgebiet durchschnitt. Warnke hatte den Borgward zwischen ein paar alte Buchen gefahren, die einen passablen Sichtschutz boten. Weitere Polizeifahrzeuge warteten in der Nähe auf den Einsatz, und die uniformierten Kräfte der Bereitschaftspolizei waren mit Karabinern und Maschinenpistolen bewaffnet.

Die Hände um den wärmenden Kaffeebecher gelegt, hoffte Gerber, dass es bald losging, damit er von seinen Gedanken an die vergangene Nacht erlöst wurde – und von seinen Schuldgefühlen. Kaum hatte er Junes Bett verlassen, meldete sich sein schlechtes Gewissen. Eva schob sich in den Vordergrund, beherrschte seine Gedanken und Gefühle. Eva, die er betrogen hatte. Warum er sich nach all den Jahren wieder mit June eingelassen hatte, darauf fand er trotz aller Grübelei keine Antwort. Verband sie mehr, als er geglaubt hatte? War es die Laune eines Augenblicks gewesen? War er einfach schwach geworden? Wahrscheinlich war es eine Mischung aus alldem, er wusste es nicht genau. Er wusste nur eins: Es durfte sich nicht wiederholen, wollte er das, was ihn und Eva verband, nicht gefährden.

Ein Knacken und Rauschen kam aus dem Walkie-Talkie, das Hanischs junger Kollege, ein Kriminalsekretär Dunkert, mit sich führte. «Hier Posten Süd. Auf der Straße am Bahndamm nähern sich ein Pritschenwagen und ein Motorrad.»

Warnke hob sein Fernglas an die Augen und spähte auf die Straße, die nicht viel mehr war als ein Feldweg.

«Da kommen sie!»

Zwei Lichtarme, die durch das monotone Grau stießen. Die Umrisse des Wagens wurden deutlicher, es schien ein Opel Blitz zu sein. Eine Plane war über die Ladefläche gespannt. Ein dritter Lichtarm wurde hinter dem Opel sichtbar, der Scheinwerfer eines Motorrads. Der Lastwagen und das Motorrad verringerten ihre Geschwindigkeit und hielten nicht weit von der Baumgruppe mit dem versteckten Borgward an.

«Hoffentlich bemerken sie uns nicht», sagte Hanisch. «Dann wäre unsere ganze Mühe für die Katz gewesen.»

«Hätten wir uns weiter zurückgezogen, hätten wir sie kaum sehen können.» Warnke legte das Fernglas zurück ins Handschuhfach. «Wir rechnen mit ihnen, sie aber nicht mit uns. Das ist unser Vorteil.»

Der Fahrer des Motorrads bockte seine Maschine auf, dann streifte er seine Schutzbrille und den dünnen Mantel ab, den er einfach über sein Fahrzeug hängte. Gerber erkannte die durchtrainierte Gestalt von Dieter Kroos, der einen dunklen Overall und um die Hüften einen breiten Werkzeuggürtel trug. Seine Hände steckten in Handschuhen. Aus dem Führerhaus des Lastwagens stiegen Friedrich Hardegen und Bruno Slama, die sich angeregt mit Kroos unterhielten. Auch sie trugen Handschuhe und ähnliche Overalls wie ihr Anführer. Slamas kahler Schädel wurde von einer Prinz-Heinrich-Mütze vor dem Regen geschützt.

«Die Frühschicht auf dem Weg zur Arbeit», witzelte Warnke. «Fehlt nur noch, dass sie ihre belegten Brote auspacken.» Er wandte sich nach hinten zu Hanisch um. «Vielleicht solltest du ihnen einen Kaffee anbieten, Klaus.»

«Den kriegen sie später, wenn wir ihnen ein trockenes und vergittertes Plätzchen verschafft haben.»

Durch Dunkerts Walkie-Talkie meldete sich wieder der Beobachter: «Achtung, der Zug kommt!»

«Kroos und seine Leute haben ihren Auftritt knapp kalkuliert», stellte Gerber fest.

Warnke trank seinen Kaffee aus und reichte den leeren Becher nach hinten zu Dunkert. «Profis halt. Die verlassen sich auf den Zugfahrplan und stehen keine Minute zu früh auf. Wir waren vermutlich eher auf den Beinen als sie.»

Die beiden Scheinwerfer der Dampflok kündigten den Güterzug an, der aufgrund der Gleisarbeiten nur langsam näher kam. Ein scheinbar endloser Riesenwurm, der ihnen müde entgegenkroch und vor Anstrengung seinen heftigen Atem ausstieß. Das Bahnspringer-Trio machte sich bereit, und Kroos mit seinen Dehnübungen wirkte wie ein Sportler, der sich auf den Wettkampf vorbereitete. Der Güterzug rumpelte an ihnen vorbei, und plötzlich legte Kroos einen Spurt hin, der für ein Sportabzeichen geeignet schien. Er lief neben dem Zug her, sprang wie von unsichtbaren Fäden gezogen in die Luft und krallte sich an einem Waggon fest, der ausgesehen hätte wie alle anderen, hätte nicht jemand mit weißer Kreide ein großes X auf die Seite gemalt.

«Sieh an, ein Zeichen», brummte Hanisch. «Die Kerle haben einen Helfershelfer auf dem Verladebahnhof, der den Waggon gekennzeichnet hat.»

Kroos zog einen Bolzenschneider aus seinem Werkzeuggürtel und knackte damit das Schloss des Waggons. Ein katzenhafter Sprung brachte ihn ins Innere, und schon begann er damit, eine Kiste nach der anderen hinauszuwerfen. Die Beute wurde abwechselnd von seinen Komplizen aufgefangen, die neben dem Zug herliefen.

«Wirklich flink, alle Achtung», meinte Warnke.

«Wollen wir eingreifen?», fragte Hanisch.

«Lasst uns warten, bis Kroos wieder runterspringt», erwiderte Gerber. «Dann haben wir die ganze Bande auf einen Schlag.»

«Gute Idee», sagte Warnke. «Wenn man schon im Autokino ist, sollte man sich den Film zu Ende ansehen. Happy End und Abblende.»

Der Film ging recht schnell zu Ende, als Kroos aus dem offenen Güterwaggon sprang, sich elegant über den Bahndamm abrollte und federnd wieder auf die Beine kam wie ein Turner nach vollendeter Bodenübung.

«Junge, du hättest beim Zirkus bleiben sollen», seufzte Warnke. «Dann hättest du jetzt Applaus bekommen.»

Hardegen war bereits zurück zum Pritschenwagen gelaufen und setzte ihn in Gang, um ein kurzes Stück bis zu den ersten Kisten vorzurollen. Kroos und Slama eilten zu dem Lkw und begannen, die Kisten mit den Messgeräten aufzuladen, während die hinteren Waggons des Güterzugs an ihnen vorbeirollten.

«Zugriff?», fragte Hanisch auf der Rückbank.

Warnke warf Gerber einen Seitenblick zu. «Was denkst du, Philipp?»

«Okay. Beenden wir die Vorstellung, bevor uns das Popcorn ausgeht.»

Hanisch nahm das Walkie-Talkie und drückte die Sprechtaste. «Einsatzleitung an alle: Zugriff jetzt!»

Gerber und Warnke stießen gleichzeitig die Wagentüren auf und sprangen ins Freie. Durch den Regen war der Boden rutschig geworden, und Gerber konnte sich gerade noch rechtzeitig an einem Baumstamm abstützen. Der Kollege Hanisch war nicht so erfolgreich und landete im Schlamm. Dunkert half dem heftig Fluchenden wieder auf.

Aus ihren Verstecken im Unterholz liefen die Männer von der Bereitschaftspolizei auf den Lkw zu. Der Mannschaftstransporter der Polizei rumpelte aus seinem Versteck im Wald und stellte sich quer vor den Laster der Bahnspringer. Bevor der Flinke Freddy noch den Rückwärtsgang einlegen konnte, hatte ein Uniformierter schon die Fahrertür aufgerissen und ihn nach draußen gezerrt.

Bruno Slama schlug sich mit mehreren Polizisten herum, wehrte sich mit Händen und Füßen, hatte gegen die Übermacht aber keine Chance. Der Kolben einer Maschinenpistole krachte schwer auf seinen Hinterkopf und schickte ihn bäuchlings zu Boden. Augenblicklich saß ein Polizist auf seinem Rücken und hinderte ihn daran, wieder aufzustehen. Ein anderer kniete sich neben Slama, riss die muskulösen Arme des Mannes nach hinten und legte ihm Handschellen an.

Die Männer aus dem Borgward hatten das Getümmel erreicht, und Gerber hielt Ausschau nach Dieter Kroos. Der hatte sich nicht an der Auseinandersetzung beteiligt; er war zu der Stelle zurückgelaufen, wo sein aufgebocktes Motorrad stand. Ein Uniformierter nahm Aufstellung wie auf dem Schießstand und legte ruhig seinen Karabiner auf den Fliehenden an. Mit einem Sprung war Gerber neben dem Polizisten und schlug von unten gegen den Lauf der Waffe. Der Schuss ging in die Luft.

«Wir wollen hier keine Toten», rief er dem uniformierten Kollegen zu. «Die können nicht mehr aussagen.»

Er lief Kroos nach, ohne nach seiner Browning zu greifen. Hanisch hatte vorhin erzählt, bei dem Trio seien noch nie Schusswaffen gefunden worden.

Gerber geriet auf dem schlammigen Untergrund erneut ins Rutschen. Als er sich wieder gefangen hatte, war Kroos schon bei seinem Motorrad, fegte mit einer schnellen Bewegung den zusammengelegten Mantel in den Dreck und schwang sich auf die Maschine. Es war ein tschechoslowakisches Modell, eine rote Jawa, wie Gerber beiläufig registrierte. Mit einem breiten Grinsen in Richtung Gerber ließ der Bahnspringer das Motorrad an und wendete es.

Ein letzter Spurt Gerbers war sein verzweifelter Versuch, den Fliehenden noch zu erreichen. Aber er brachte Gerber nichts weiter ein als eine Landung im Schlamm. Die Maschine röhrte auf, aber dann rutschte sie zur Seite weg und beförderte den Fahrer ebenfalls in den Schlamm. Gerber war schon wieder auf den Beinen und hastete zu Kroos, der verzweifelt versuchte, seine Jawa wieder aufzurichten.

Gerber riss ihn zu Boden, sie wälzten sich durch den Dreck und knieten schließlich einander gegenüber. In den Augen des Bahnspringers las Gerber wilde Entschlossenheit. Kroos nestelte an seinem Gürtel herum und zog den schweren Bolzenschneider heraus. Gerber, der erst unter Trenchcoat und Jacke greifen musste, um an seine Browning zu kommen, war nicht schnell genug.

Mit einem triumphierenden Aufblitzen in den Augen hob Kroos das Werkzeug zum Schlag. Da packte eine Hand den Bolzenschneider von hinten und riss ihn dem Gangster aus der Rechten. Eine andere Hand, diesmal aus Holz, fuhr auf Kroos’ Schädel nieder, und wieder sackte der Mann in den Matsch.

Warnke schleuderte das Werkzeug weit von sich und streckte die rechte Hand aus, um Gerber beim Aufstehen zu helfen. Ein Lächeln schnitt durch sein schmales Gesicht. «Ich wusste doch, wir sind noch immer ein gutes Team, Philipp.»

Gerber erhob sich mit Warnkes Hilfe und erwiderte das Lächeln. «Harry, du hast ein ganzes Fass Kräuterschnaps bei mir gut!»