// Kapitel 14 //

Fünf Stunden später saß Gerber mit Warnke beim Mittagessen in einem kleinen Lokal in der Erlenstraße, in Sichtweite des Polizeipräsidiums. Er fragte sich, ob die ganze Mühe, die sie sich gemacht hatten, um die Eisenbahnspringer dingfest zu machen, vergeblich gewesen war. Bislang hatten sie nichts aus dem Trio herausbekommen. Bruno Slama schwieg eisern, und mochte es auch nur aus bloßer Sturheit sein. Friedrich Hardegen schwatzte zwar munter drauflos, aber außer Geschichten aus seiner Militärzeit oder seiner Boxerkarriere kam nichts dabei heraus. Dieter Kroos gab sich aalglatt, tat immer wieder so, als ginge er auf die Fragen ein, bog seine Antworten dann aber doch ins Belanglose ab. Natürlich brauchten sie kein Geständnis, um die drei hinter Gitter zu bringen. Bei dem Zugüberfall waren die Bahnspringer auf frischer Tat ertappt worden, und für den Vorfall vor dem Jazzclub gab es Zeugen. Aber sie mussten Kroos und Konsorten weichkochen, um mehr darüber zu erfahren, wer sie auf Gerber und June angesetzt hatte.

Die Mittagspause tat Gerber gut. Hinter ihm lag ein langer Vormittag, und die abenteuerliche Festnahme der Bahnspringer hatte bei ihm für zusätzlichen Appetit gesorgt. Als die Bedienung die Rippchen mit Kartoffelpüree und Sauerkraut servierte, lächelte er sie dankbar an. Sie erwiderte das Lächeln und erinnerte ihn dabei ein wenig an Eva. Schlagartig war sein kurzzeitiger Anflug von guter Laune verflogen. Wann Eva ihn wieder anlächeln würde – oder ob sie es überhaupt tun würde  –, stand in den Sternen.

«Was hast du, Philipp?», fragte sein Gegenüber. «Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.»

Gerber winkte ab. «Ach, nichts weiter.»

Er probierte das mit einem Schuss Apfelwein gekochte Fleisch und zwang sich zu einer heiteren Miene. «Ich mache mir Sorgen wegen unserer Bahnspringer. Dass wir sie erwischt haben, lässt sie reichlich unbeeindruckt. Ich frage mich, wie wir sie knacken können.»

«Du meinst, wen von den dreien wir knacken können», erwiderte Warnke mit vollem Mund. «Ich schätze, beim Dummen Bruno werden wir am wenigsten Erfolg haben. Seine unvergleichliche Mischung aus Sturheit und Dummheit scheint ihn daran zu hindern, sich von irgendetwas beeindrucken zu lassen. Manchmal denke ich, ihm mit einer Eisenstange auf den Kopf zu hauen, würde keinen anderen Effekt erzielen, außer das Resonanzgeräusch eines Hohlkörpers zu erzeugen.»

«Am geschwätzigsten ist unser Flinker Freddy», meinte Gerber.

«Glaubst du, wir müssen ihn nur lange genug am Reden halten, bis seine flinke Zunge schneller ist als sein Verstand?»

«Die Hoffnung habe ich mittlerweile aufgegeben. Wie schätzt du Kroos ein?»

«Dieter mit der dicken Hose ist leider auch Dieter mit dem meisten Grips. Ich habe fast den Eindruck, er hat unser Verhör im Voraus geprobt und hat auf jede Frage eine Antwort parat, bevor wir sie überhaupt gestellt haben.» Warnke trank einen Schluck Bier und lachte hart. «Vermutlich bringen wir eher Slama dazu, uns etwas Vernünftiges zu erzählen.»

«Vielleicht ist seine Klugheit aber auch sein wunder Punkt. Wenn er einsieht, dass er in einer beschissenen Lage ist, könnte er reden, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.» Jetzt musste auch Gerber lachen. «Ein Gedanke, der für Slama wohl schon zu kompliziert wäre.»

Warnke hielt erst Gerber seine Senoussi-Packung hin, nahm sich dann selbst eine Zigarette, zündete beide mit seinem lederverkleideten Feuerzeug an und lehnte sich zurück. «Wie willst du Kroos Beine machen? Gut, der bandenmäßige Raub heute Morgen wird eine Freiheitsstrafe nach sich ziehen. Aber glaubst du nicht, die sitzt ein Mann wie er auf einer Backe ab?»

«Dann sollten wir die Aussicht etwas bedrohlicher gestalten.»

Warnke stieß den Rauch aus. «Schocktherapie?»

«Mein weißer Bruder Lederstrumpf hat den Kriegsplan erkannt.»

Neben dem Lokal gab es ein Wasserhäuschen, wie man in Frankfurt die Kioske nannte. Nach dem Mittagessen kaufte Gerber dort ein paar ausgewählte Zeitungen und Illustrierte. Auf dem Rückweg zum Polizeipräsidium mussten sie etwas warten, weil sich ein langer Demonstrationszug vorwiegend junger Leute in Richtung des Kreisverkehrs am Platz der Republik bewegte. Trillerpfeifen und laute Rufe unterstützten die Aussagen auf den zahlreichen Schildern und Transparenten. Die Demonstranten waren «Gegen alles mit A – gegen Aufrüstung, gegen Atomwaffen, gegen amerikanische Soldaten, gegen Adenauer».

«Studenten, die haben Sorgen, was?», knurrte Warnke, als sie darauf warteten, dass der lange Menschenzug endlich die Straße freigab.

«Ich schätze, Sorgen haben sie wirklich», erwiderte Gerber. «Nur haben sie nicht die richtigen Lösungen dafür. Wenn sie mit ihren Forderungen durchkämen, könnten wir den Platz der Republik bald umbenennen in Platz der Roten Armee.»

Warnke spuckte auf die Straße. «Die haben gar keine Antworten. Die sind bloß zu faul zum Studieren.»

--

Zehn Minuten später saßen sie wieder im Präsidium und blickten Dieter Kroos entgegen, der von zwei Beamten in den Verhörraum gebracht wurde. Die Polizisten nahmen zu beiden Seiten der Tür Aufstellung. Da die Kleidung des Mannes durch die Auseinandersetzung mit Gerber nass und schmutzig geworden war, trug er jetzt eine schlichte Hose mit einer passenden Jacke, als sei er schon Häftling in einer Vollzugsanstalt. Warnkes Schlag mit der Holzhand hatte ihm einen schmalen Verband um den Hinterkopf eingebracht. Seine Hände waren vorn mit Handschellen gefesselt.

«Herr Kroos, Sie hatten hoffentlich ein gutes Mittagessen», begrüßte ihn Warnke, als Kroos ihnen gegenüber Platz nahm. «Wir hatten in Apfelwein gekochte Rippchen. Und Sie?»

«Jedenfalls was Besseres als Ihr Gesülze», maulte der Bahnspringer und zeigte damit zum ersten Mal seit seiner Festnahme so etwas wie Unzufriedenheit. Sein Mut schien allmählich zu sinken. Gerber nahm das als gutes Omen dafür, dass es ihnen doch gelingen würde, ihn zu knacken.

«Ich möchte nur, dass es Ihnen gut geht», fuhr Warnke ungerührt im Plauderton fort. «Schließlich liegt vor Ihnen eine lange Zeit in staatlicher Obhut.»

«Abwarten», sagte Kroos gelassen. «Bei Raub kann man mit sechs Monaten davonkommen.»

Warnke wechselte mit Gerber einen bedeutungsvollen Blick und sagte: «Unser Gast kennt sich aber aus, Donnerwetter! Wahrscheinlich hat er erst das Strafgesetzbuch konsultiert, bevor er den Güterzug überfallen hat. Mein Kollege Gerber vom Bundeskriminalamt hat jedenfalls Jura studiert und dürfte besser wissen, was Ihnen blüht, Herr Kroos.»

Unsicher musterte der Mann Gerber. «Bun-des-kri-mi-nal-amt?» Er betonte jede Silbe, als höre er das Wort zum ersten Mal.

«Ja, wussten Sie das nicht?», kam es von Warnke. «Dabei sind Sie sich doch schon vorgestern vor dem Fun Spot begegnet.»

Kroos räusperte sich und setzte wieder ein Pokerface auf. «Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.»

Gerber lächelte wieder. «Herr Kroos hat es wohl vergessen. Es war eine im wahrsten Sinne des Wortes flüchtige Begegnung.»

Warnke kratzte sich mit der Hüfnerhand hinter dem Ohr. «Du meinst, du hast Herrn Kroos bei dem Überfall auf dich und June in die Flucht schlagen können.»

«Du bringst es auf den Punkt, Harry.»

«Dann kommt zu dem Zugüberfall von heute also noch ein Überfall auf offener Straße hinzu, auch noch einer auf einen Hauptkommissar vom BKA

«Ich wusste nicht, dass er ein Bulle ist», platzte es aus Kroos heraus, bevor er schluckte und sich auf die Unterlippe biss.

Warnke seufzte und wandte sich wieder an Gerber. «Zwei Raubüberfälle innerhalb von drei Tagen. Was sagt der Jurist dazu?»

«Wenn mehrere Täter, die sich zum fortgesetzten Raub zusammengeschlossen haben, eine solche Tat begehen, haben wir es mit einem schweren Raub zu tun, und dafür sieht das Strafgesetzbuch eine Zuchthausstrafe von mindestens fünf Jahren vor. Auch die Tatbegehung auf einer öffentlichen Straße oder auf einer Eisenbahn begründet einen schweren Raub.»

Warnke schüttelte missbilligend den Kopf. «Dann haben wir es ja gleich mit einem dreifachen schweren Raub zu tun. Da rechne ich aber mit mehr als fünf Jahren Zuchthaus.»

Kroos versteifte sich auf seinem Stuhl. «Ich sage kein Wort mehr ohne meinen Anwalt.»

«Gute Idee!», lobte Gerber. «Wenn mir lebenslänglich drohte, würde ich auch nach Beistand rufen.»

Das Pokerface seines Gegenübers verwandelte sich in ein großes Fragezeichen. «Lebenslang? Was ist das jetzt wieder für ein Quatsch?»

«Quatsch?» Gerber legte die Zeitungen und Zeitschriften, die er vorhin gekauft hatte, vor Kroos auf den Tisch. In jeder war ein Bericht über den Fall Rosemarie Nitribitt, und die entsprechenden Seiten schlug er auf. «Das ist kein Quatsch, das ist ein brutaler Mord, und darauf steht eine lebenslange Zuchthausstrafe.»

«Damit habe ich nichts zu tun!»

«Ob Sie es sind, der Fräulein Nitribitt erwürgt hat, wird noch zu ermitteln sein.»

Gerber konnte sehen, wie es in dem Gesicht des Mannes arbeitete.

«Haben Sie mal eine Zigarette für mich?», fragte Kroos. «Dann erzähle ich Ihnen, was ich weiß. Ich bin kein Mörder, wirklich nicht, und diese Nitribitt habe ich nicht einmal gekannt.»

«Sicher doch», sagte Gerber, jetzt wieder in einem fast freundschaftlichen Tonfall, und zog seine Camels aus der Jackentasche.

Als die drei Männer an dem schmucklosen Tisch mit Zigaretten versorgt waren, ein wenig neidisch von den beiden Wachen an der Tür beobachtet, begann Kroos: «Ich weiß gar nicht, von wem der Mann meinen Namen und meine Adresse hatte. Als ich ihn danach gefragt habe, sagte er nur, er habe überall gute Verbindungen.»

«Ich nehme an, Sie sprechen von Ihrem Auftraggeber», sagte Gerber und schob den schwarzen Bakelitaschenbecher in die Tischmitte.

«Ja. Er stand einfach vor meiner Tür, vorgestern Nachmittag. Ich sollte mit meinen Freunden die Villa am Mozartplatz beobachten und Ihnen, ähm …» Er unterbrach sich und zog nervös an der Camel.

«Mir das Leben schwermachen?»

Kroos lachte unvermittelt, aber auch das klang nervös. «Ja, so ähnlich hat er es ausgedrückt. Meine Freunde und ich sollten Ihnen klarmachen, dass Sie Ihre Herumschnüffelei in Frankfurt bleiben lassen und am besten aus der Stadt verschwinden sollten. Aber dazu sind wir ja gar nicht gekommen.»

«Dann wussten Sie also doch, wer ich bin!»

«Nein, wirklich nicht. Er hat Sie nur beschrieben und mir gesagt, dass Sie mit einem schwarzen Kapitän herumgondeln. Der stand ja auch vor der Villa, als Sie mit dem Mädchen herauskamen. Ich bin Ihnen dann durch den Park bis zum Fun Spot gefolgt. Als Sie in den Laden verschwanden, habe ich Bruno und Freddy angerufen. Den Rest kennen Sie.»

«Erzählen Sie mir mehr über Ihren Auftraggeber.»

«Ich habe ihn nur dieses eine Mal gesehen. Er hat sich mir auch nicht vorgestellt.»

Warnke ließ seine Holzhand so heftig auf die Tischplatte krachen, dass der Gefangene zusammenfuhr. «Der große Unbekannte also! Unsere Vernehmungsakten sind voll mit dem großen Unbekannten. Dass wir ihn noch nicht gefasst haben, grenzt an ein Wunder.»

«Aber ich sage Ihnen die Wahrheit!»

«Wie sollten Sie Kontakt zu ihm aufnehmen?», fragte Gerber.

«Gar nicht. Er hat gesagt, er würde uns im Auge behalten.»

«Und Ihre Bezahlung?»

«Im Voraus, bar auf die Hand.»

«Wie viel?»

Kroos zögerte und nahm noch einen Zug von der Camel.

«Ihre Ehrlichkeit wird sich vor Gericht auszahlen», ermahnte ihn Gerber.

«Tausend Mark.»

Warnke stieß einen Pfiff aus. «Dem großen Unbekannten ist die Sache aber was wert. Vielleicht sollte ich den Reibach machen und dich persönlich aus der Stadt hinausprügeln, Philipp.»

«Wenn wir das geschafft hätten, wären noch einmal tausend Mark fällig gewesen», sagte Kroos.

«Klar doch», meinte Warnke leutselig. «Ein Fremder, den Sie nicht kennen, hätte Ihnen einfach so zweitausend Mark gezahlt.»

«Der Mann sagte, gute Arbeit würde er sich etwas kosten lassen, und gute Leute könne er immer gebrauchen.»

Wahrscheinlich hatte der Unbekannte in diesem Punkt nicht gelogen, dachte Gerber. Schon die tausend Mark, die Kroos von ihm erhalten hatte, waren ein üppiger Lohn für einen Schlägerjob. Ein einfacher Arbeiter verdiente netto kaum mehr im ganzen Jahr. Wie er Kroos einschätzte, hatte der seine Komplizen mit einem Bruchteil abgespeist, aber das war nicht sein Problem.

«Was können Sie uns über den Mann noch sagen, Kroos?», fragte er. «Wie sah er aus? Wie hat er gesprochen? Wie war er angezogen? Was für ein Auto fuhr er?»

«Das Auffälligste waren seine weißen Haare. Er trug zwar einen Hut, aber einmal hat er ihn abgenommen, weil ihm in meiner Bude warm war. Er hatte volles Haar, aber ganz weiß.»

«Dann war er schon älter.»

«Nein, so alt wie Sie oder ich. Deswegen fand ich das so ungewöhnlich.»

«Und sonst, das Gesicht?»

«Einer, den die Weiber mögen, schätze ich. Sehr gut aussehend.»

«Statur?»

«Groß und durchaus trainiert, schätze ich, auch wenn er einen Trenchcoat trug. Aber man merkt so etwas an den Bewegungen, ich als Artist zumindest.»

«Sprach er Hochdeutsch oder Dialekt?»

«Hochdeutsch.» Kroos drückte die Zigarette aus. «Obwohl …»

«Ja?»

«Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er einen leichten Akzent hatte. Ein klein bisschen Amerikanisch, so wie Sie.»

«Haben Sie sein Auto gesehen?» Gerber dachte an seine Begegnung mit dem Opel Kapitän mit der Haifischschnauze zurück.

«Nein, leider nicht.»

Warnke tauschte einen kurzen Blick mit Gerber. «In Ordnung. Sie dürfen sich jetzt auf ein paar gemütliche Stunden beim Betrachten der Fotos in unserer Verbrecherkartei freuen, Herr Kroos.»

«Kann ich vielleicht noch eine Zigarette bekommen?»

«Die haben Sie sich verdient», sagte Gerber und hielt ihm die Packung hin. «Nehmen Sie gleich zwei.»

--

«Das war ein guter Plan, Kroos stufenweise unter Druck zu setzen», seufzte Warnke zufrieden, als er sich in seinen Bürostuhl fallen ließ. «Wie ich heute schon einmal sagte, wir zwei sind noch immer ein tolles Team. Hast du mal überlegt, zur Frankfurter Polizei zu wechseln, Philipp?»

«Nein, noch nie. Um ehrlich zu sein, ein gewisser Abstand zu Frankfurt tut mir ganz gut.»

«Oh! Ist das wegen General Anderson oder wegen seiner Tochter? Die ist doch eine ganz Süße.»

«Aber sie ist nun mal seine Tochter, und Andersons Schwiegersohn wird immer auch eine Art Untergebener sein, Andersons Befehlsempfänger. Ich habe lange gebraucht, um das zu begreifen.»

«Ist das der Grund, warum du aus Frankfurt weg bist?»

«Sagen wir, einer der Gründe. Sei mir also nicht böse, wenn ich dein Angebot nicht annehme. Aber vielleicht kannst du dich dafür erwärmen, zur Sicherungsgruppe zu kommen.»

Warnke hob den Sauerbruch-Arm mit der Holzhand. «Nimmt dein Verein Krüppel?»

«Wenn alle mit dem Ding so umgehen könnten wie du, würde ich Dr. Brückner empfehlen, ausschließlich Kriegsversehrte einzustellen.»

«Das klingt doch vielversprechend, ich werde es mir überlegen.» Die Sekretärin brachte Kaffee, und danach fuhr Warnke fort: «Was hältst du von Kroos’ Aussage?»

«Ich glaube ihm.»

«Aber tausend Mark mal eben so? Ich hätte einem Schläger weniger bezahlt, schon allein, damit der nicht misstrauisch wird und denkt, da steckt sonst etwas dahinter. Warum fürchtet der Mann mit den weißen Haaren, falls es ihn wirklich gibt, dich so viel mehr als die gesamte Frankfurter Polizei?»

«Eine sehr gute Frage, Harry. Sobald ich die Antwort weiß, schmeiße ich eine Runde.»

--

Erst am späten Nachmittag war Kroos mit dem Betrachten der Fotos durch, aber seinen geheimnisvollen Unbekannten hatte er nicht entdeckt. Jedenfalls behauptete er das.

«Oder hat er uns mit der Geschichte von dem Weißhaarigen nur einen Bären aufgebunden?», fragte Gerber enttäuscht.

Warnke sah auf die Armbanduhr, die seinen künstlichen Arm zierte. «Gahlisch ist leider schon aus dem Haus. Morgen setzen wir ihn auf die Sache an.»

«Wer ist das?», fragte Gerber.

«Unser Zeichner.»

«Ein Phantombild des großen Unbekannten, eine gute Idee», sagte Gerber.

«Wie wäre es mit einem gemeinsamen Abendessen, um über alte Zeiten und private Dinge zu plaudern? Unser altes Stammlokal in der Gutleutstraße existiert noch, und man kann dort immer noch gut essen.»

«Der Frankfurter Treff? Abgemacht. In zwei Stunden?»

«Passt gut. Ich lade dich ein.»

Aus einer Telefonzelle vor dem Präsidium rief Gerber bei Dr. Brückner an, um seinen täglichen Bericht abzuliefern. Anschließend fuhr er zum Mozartplatz. General Anderson war wieder auf den Beinen, lief aber herum wie Falschgeld. Hätte Gerber in den Schuhen des Generals gesteckt, wäre seine Stimmung auch nicht besser gewesen. In einer Zwangslage wie der seinen zur Untätigkeit verurteilt zu sein, traf einen tatkräftigen Mann besonders hart. June umsorgte ihn, wo sie nur konnte, und sah dabei nicht glücklicher aus als ihr Vater. Gerber war froh, dass er nicht zum Essen blieb. Auf diese Weise entkam er der bedrückenden Atmosphäre in der Villa und entging zugleich der Versuchung, June erneut zu trösten. So schön die Nacht mit ihr gewesen war, hätte er sie am liebsten ungeschehen gemacht. Bei jedem Gedanken daran dachte er automatisch auch an Eva, und sein schlechtes Gewissen ließ ihm keine Ruhe.