Der Kanzlerzug rollte wieder Richtung Süden, und Flensburg lag etliche Kilometer hinter ihnen. Gerber stand auf dem Gang des Sicherheitswagens, rauchte eine Camel und versuchte, sich auf das kürzlich Erlebte einen Reim zu machen. Immer noch mutete ihn das Auftauchen des U-Boots – eines der letzten aus dem Krieg und zugleich das erste der neuen Bundesmarine – geisterhaft an. Oder sollte er es besser mit dem Trick eines Bühnenmagiers vergleichen, der ein Kaninchen aus dem Zylinder zaubert?
Das Geschehen an der Förde war minutiös geplant gewesen, damit das Erscheinen des Kaninchens, U Hai in diesem Fall, die gewünschte Aufmerksamkeit erzielte und das Staunen des Publikums hervorrief. Adenauer und Strauß hatten natürlich gewusst, dass sie zu einer Präsentation des ersten westdeutschen U-Boots anreisten. Daher kam es auf die Wirkung des Ganzen umso mehr an, auf den Effekt. Ja, genau das war es gewesen: Effekthascherei.
Eine Erklärung für alles hatten zumindest die Männer der Sicherungsgruppe nicht erhalten. Nach dem Abtauchen von U Hai hatten sich Adenauer, Strauß, der Ex-Fregattenkapitän, Oberst Wessel und die übrigen Offiziere für eine knappe Stunde zu einem Gespräch in die Kaserne am Hafen zurückgezogen. Dr. Brückner und seine Männer hatten vor dem Offizierskasino warten müssen.
Brückner verließ sein Abteil und gesellte sich zu Gerber, der ihm eine Zigarette anbot.
«Sie sehen so nachdenklich aus, Gerber», sagte Brückner nach dem ersten Zug.
«Ich habe mich gerade gefragt, wozu wir durch die halbe Republik gefahren sind.»
Brückner sah ihn forschend an. «Und?»
Gerber teilte ihm seine Überlegungen mit und fuhr fort: «Jetzt frage ich mich, wer hier der große Zauberer ist.»
«Sie meinen den Mann, der das Kaninchen aus dem Hut geholt hat.»
«Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr muss ich an unseren ehemaligen Fregattenkapitän denken.»
«Der nicht einmal in der neuen Armee ist und Zivil trägt.»
«Das ist es gerade, was mich beschäftigt. Offiziell hat er nichts mit U Hai zu tun, außer dass er an der Bergung beteiligt war. Und doch ist er es, der dem Bundeskanzler und dem Verteidigungsminister vorträgt, obwohl mehrere hochrangige Marineoffiziere anwesend sind.»
«Und daraus folgern Sie was?»
«Der Kapitän mag offiziell ein Zivilist sein, aber er hat bei dieser U-Boot-Geschichte vermutlich mehr zu sagen als die hohen Admiräle. Letztlich geht es doch um das alte Spiel Schiffe versenken in seiner realsten Variante, und darin hat er jede Menge Erfahrung.»
«Was Sie sagen, klingt vernünftig, Gerber. Ich schätze Ihre logische Art, wie es auch der Kanzler tut. Sonst würde er Sie nicht immer wieder für Spezialeinsätze anfordern. Aber wie bringen Sie Oberst Wessel von der Militärischen Sicherheit in Ihrer Geschichte unter?»
«Meine logische Art, wie Sie es nennen, lässt nur eine Antwort auf diese Frage zu. Die Antwort, die zugleich meine eigene Anwesenheit in diesem Sonderzug erklärt: Die Geheimdokumente, die General Anderson abhandengekommen sind, hängen mit U Hai zusammen oder allgemein mit der Frage des U-Boot-Einsatzes in der Bundesmarine.»
Brückner lächelte versonnen. «Ich sehe das genauso wie Sie, Gerber.»
Blaschke, der eigentlich Dienst im Kanzlerwagen hatte, betrat den Sicherheitswagen. «Gut, Sie beide anzutreffen. Sie möchten zum Abendessen ins Konferenzabteil kommen, sagte der Al…», Blaschkes Blick fiel auf den Leiter der Sicherungsgruppe, «der Bundeskanzler.»
Sie drückten die Zigaretten im Aschenbecher aus und folgten Blaschke in den angrenzenden Wagen. Im Konferenzabteil war der lange Tisch für fünf Personen eingedeckt. Adenauer saß am Kopfende, rechts von ihm Strauß und links von ihm Wessel.
«Platz nehmen, die Herren», sagte der Kanzler mit einer einladenden Geste.
Brückner setzte sich neben den Verteidigungsminister und Gerber neben Wessel. Wie auf ein geheimes Kommando erschien ein Kellner im Abteil und trug eine Sauerampfersuppe auf, die zu Adenauers Lieblingsspeisen gehörte. Strauß trank Wein dazu, alle anderen begnügten sich mit Wasser.
«Es ist nur ein einfaches Abendessen», sagte Adenauer entschuldigend. Er richtete seinen Blick auf Brückner, dann auf Gerber. «Nach der langen Reise haben Se beide sich die Stärkung verdient. Se frajen sich wohl, wat dat Janze soll.»
«Herr Gerber hat dazu bereits eine Theorie entwickelt», sagte Brückner schnell und nahm sich selbst damit aus der Schusslinie.
«Lassen Se mal hören, Jerber!», forderte Adenauer ihn auf und widmete sich seiner Suppe.
Gerber kam nicht umhin, seine Gedankenkette erneut herunterzubeten.
Als er fertig war, nickte Adenauer. «Se haben mit allem recht, es jeht um die U-Boot-Waffe der Bundesmarine. Jenau jesagt, jeht es um janz besondere U-Boote, nämlich um …»
Strauß konnte sich nicht bremsen und fiel dem Kanzler so hastig ins Wort, dass er fast seinen Wein verschüttet hätte: «Atom-U-Boote!»
«Soweit ich weiß, fahren Sie einen Taunus, Fräulein Herden», sagte der Weißhaarige im lockeren Plauderton. «Sind Sie mit dem Wagen zufrieden?»
«Er bringt mich von A nach B, tut also genau das, was ein Auto tun sollte.»
«Das ist wahr. Es sei denn, man schafft ihn sich zu anderen Zwecken an.»
«Zu anderen als dem Fahren?», fragte Eva, die es dank des Wahrheitsserums gar nicht mehr so schlimm fand, auf der Pritsche festgeschnallt zu sein.
«Das Fahren muss nicht der eigentliche Zweck sein, sondern das, was man beim Fahren erreicht. Nehmen Sie als Beispiel Rosemarie Nitribitt mit ihrem tollen Mercedes-Cabrio. Von A nach B wäre sie auch mit einem Käfer gekommen oder meinetwegen mit einem Taunus.»
«Aber damit hätte sie ihre wohlhabenden Kunden nicht so beeindruckt.»
«Genau, Fräulein Herden, das meine ich. Die Nitribitt benutzte ihr Auto eigentlich zu einem anderen Zweck. Was hat man Ihnen bei Daimler über den Wagen der Nitribitt erzählt?»
«Es ist ein tolles Auto, dieser Mercedes SL . Die Herrschaften bei Daimler haben mich wirklich überzeugt. Ich denke, ich werde mir auch so ein Cabrio zulegen.»
Zum ersten Mal, seitdem er die Plauderei begonnen hatte, wirkte der Weißhaarige irritiert. Falten erschienen auf seiner Stirn, und er starrte auf Evas Oberarm, wo vorhin die Nadel der Spritze eingedrungen war.
«Da müssen Sie ja gut verdienen.»
«Ach, ich bekomme ihn geschenkt. Mein Zukünftiger ist großzügig, er hat Geld wie Heu.»
«Geld wie Heu?», schnaubte der Mann. «Nicht Philipp Gerber. So viel verdient ein Hauptkommissar nicht!»
Eva hatte sich darauf versteift, bei der Geschichte zu bleiben, die sie sich ursprünglich zurechtgelegt hatte. Es war für den Weißhaarigen, der von ihr und Philipp wusste, unglaubwürdig, aber darauf kam es nicht an. Eva durfte sich nur nicht verleiten lassen, in Richtung Wahrheit abzudriften. Dann konnte sie es unter dem Einfluss des Wahrheitsserums vielleicht nicht mehr vermeiden, dem Mann die gewünschten Informationen zu geben. Sie war bei der Geschichte mit dem spendablen Bräutigam geblieben, weil das einfacher war, als sich auf die Schnelle etwas Neues auszudenken, das sie fest in sich verankern konnte. Im Gegensatz zur landläufigen Ansicht hatte ein Wahrheitsserum nicht die Wirkung, dass man sklavisch die Wahrheit sagen musste. Es versetzte einen in den Zustand der Gleichgültigkeit, in dem Misstrauen und Taktieren keine große Rolle mehr spielten. Aber man konnte weiterhin Fantasien nachhängen, Angstvorstellungen erliegen oder Wunschbildern nachjagen. Darauf setzte Eva. Als die Nadel in sie eingedrungen war, hatte sie sich fest vorgenommen, die Geschichte mit dem geschenkten Auto zu ihrer eigenen zu machen.
«Wir wissen beide, dass Sie mir etwas vormachen», sagte der Weißhaarige. «Sie spielen hier eine Rolle, Fräulein Herden, das ist nicht nett von Ihnen.»
«Vielleicht ist das Zeug, das Sie mir gespritzt haben, einfach nicht der wahre Jakob.»
«Ich habe Sie wohl unterschätzt, mein Fehler.» Er verließ seinen Stuhl und kehrte kurz darauf mit der Spritze in der Rechten zurück. «Vielleicht haben wir mehr Glück mit der doppelten Dosis.»
Obwohl die erste Dosis in Eva ein beruhigendes Gefühl ausgelöst hatte, war sie zur Besorgnis fähig. Sie wusste, dass eine Überdosis schwerwiegende Folgen haben konnte: Halluzinationen, Muskelkrämpfe, Blutdruckschwankungen, Herzrasen, Atemnot, bis hin zum Herzstillstand. Exitus. Als die Nadel kurz davor war, erneut in sie einzudringen, machte sie mit dem linken Arm eine heftige Bewegung, soweit es ihr gefesseltes Handgelenk zuließ. Ihr Oberarm stieß gegen die Hand des Mannes, und er ließ die Spritze fallen. Ein Klirren verriet ihr, dass die Spritze auf dem Boden zersprungen war.
«Was soll das?» Die Augen des Unbekannten blieben nicht länger kalt. Wut flackerte in ihnen auf, und seine Züge verhärteten sich. «Du kleine Hexe wagst es wirklich, dich mir zu widersetzen? Nicht noch einmal, du, nicht noch einmal!»
Er schien von einer Sekunde auf die andere ein ganz anderer Mensch zu sein, von dem jede Selbstkontrolle abgefallen war. Seine Hände legten sich um ihren Hals und drückten fest zu, als wollten sie jeden Widerstand aus ihr herausquetschen. Eva rang nach Luft und wusste zugleich, dass es sinnlos war. Sie hatte ihn zu weit getrieben. Sein Zorn war größer als der Wert, den er ihr beimaß. Sie konnte sich nicht wehren und konnte nicht entkommen. Sie konnte in ihren letzten Sekunden nur an etwas Schönes denken, und sie dachte an Philipp.
Das Gesicht des erbosten Weißhaarigen verschwand, und vor ihren Augen flimmerte ein bunter Schleier. Da wurde es plötzlich besser, und gierig wie eine fast Ertrunkene zog sie die Luft durch ihre schmerzenden Lungen ein. Irgendetwas hatte den Mann zur Vernunft gebracht. Sie konnte wieder richtig sehen. Er stand vor der Pritsche, wie versteinert, und starrte auf seine Hände, als seien sie Fremdkörper.
Vielleicht hätte sie besser schweigen sollen, aber das Serum in ihr verführte sie zum Reden, und sie verlieh dem Gedanken, der ihr durch den Kopf schoss, Worte: «Sind das dieselben Hände, die das Leben aus Rosemarie Nitribitt herausgepresst haben?»
«Atom-U-Boote!»
Die Worte des Verteidigungsministers hingen bedeutungsschwer in dem großen Abteil, und niemand schien etwas darauf erwidern zu wollen. Nur das gleichmäßige Rattern des Sonderzugs erfüllte den Raum. Gerber und Brückner blickten erwartungsvoll auf Strauß, dann auf Adenauer. Nur Oberst Wessel beschloss, sich wieder seiner Suppe zu widmen.
Auch Adenauer leerte jetzt in Ruhe seinen Teller, tupfte den Mund mit der Serviette ab und sah in die Runde. «Herr Strauß hat mir die Worte aus dem Mund jenommen, wie man so schön sagt. Eijentlich janz passend, schließlich war er der erste Atomminister in meinem Kabinett. Als jetzijer Verteidijungsminister weiß er auch, wie steinig der Weg zu einer neuen Armee und damit auch zu einer neuen Marine ist. Besonders die Franzosen haben, jeschichtlich verständlich, Angst vor unserer militärischen Wiedererstarkung. Se wissen alle, dass ich die Franzosen schätze und als Freunde jewinnen möchte. Aber die Schwierigkeit ist, eine Armee aufzustellen, die den Russen jewachsen, aber den Franzosen unterlejen ist.»
Strauß lachte über das Bonmot des Kanzlers, und Wessel fiel in das Lachen ein. Gerber und Brückner blicken Adenauer weiterhin erwartungsvoll an.
«Mit dem NATO -Beitritt vor zwei Jahren haben sich unserem Land janz neue Möglichkeiten eröffnet», fuhr der Kanzler fort. «Von den Amerikanern wurde uns bei der Ausstattung der Marine viel Unterstützung in Aussicht jestellt. Noch ist sie ein bisschen klein, auch die U-Boot-Waffe, wie Se heute jesehen haben.» Erneutes Lachen von Strauß und Wessel. «Dafür haben wir große Pläne. Westdeutschland soll zur Atommacht werden, und dazu jehören auch die von Herrn Strauß erwähnten Atom-U-Boote. Der Frejattenkapitän, den Se auf dem Stützpunkt Flensburg kennenjelernt haben, hat ein Memorandum darüber geschrieben, das uns in dieser Hinsicht zum Durchbruch verhelfen könnte. Zumal General Anderson zujesagt hat, es über seinen Freund Webster direkt an Eisenhower weiterzuleiten. Ja, und dann kam die Sache mit dem Fräulein aus Frankfurt und dem Verschwinden des Memorandums dazwischen.»
«Es wird doch Kopien geben», warf Brückner ein.
Adenauers Blick ging zu Oberst Wessel, und der sagte: «Das ist nicht das Problem. Wenn der Feind das Memorandum in Händen hält und publik macht, dass die Vereinigten Staaten beim Bau deutscher Atom-U-Boote dem Rat eines Mannes folgen, der im Krieg fünfundzwanzig alliierte Schiffe versenkt hat, das allein …» Er suchte nach den richtigen Worten.
«Das allein wird Präsident Eisenhower davon abhalten, sich ernsthaft mit der Frage zu beschäftigen», sagte Gerber.
Adenauer klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers auf den Tisch. «Jenauso! Das ist unser großes Problem. Wir müssen dat Memorandum aufspüren, bevor es dem Feind in die Hände fällt. Falls es dafür nicht längst schon zu spät ist. Jetzt wissen Se, Jerber, wie wichtig Ihr Auftrag in Frankfurt ist.»
«Mit Verlaub, Herr Bundeskanzler, dann sollte ich bald dorthin zurückkehren.»
«Dat werden Se. Ich wollte Ihnen nur einen Eindruck davon vermitteln, um was es hier wirklich jeht.»
Der Kellner steckte den Kopf ins Abteil und fragte: «Sind die Herren bereit für den Apfel-Reis-Auflauf?»
June stand vor den Fotografien, die auf der Anrichte im Salon aufgereiht waren, und die gedankliche Reise in die Vergangenheit deprimierte sie. Die Aufnahmen vermittelten das Bild einer intakten Familie, die es so nie gegeben hatte. So wenig, wie es für June ein intaktes Leben gegeben hatte. Ihre Mutter war eine Ostküsten-Lady in Perfektion gewesen, das jedenfalls hatte man June erzählt. Bei ihrer Geburt gestorben, war jede Erwähnung von Heather Anderson zugleich der stille Vorwurf gewesen, June habe ihre Mutter auf dem Gewissen. Schon als sehr junge Frau, eigentlich noch ein Kind, hatte June den Druck gespürt, so perfekt zu sein wie ihre Mutter. Aber konnte ein lebender Mensch so makellos sein wie jemand, der nur in der Erinnerung fortlebte?
Der nächste harte Schlag hatte die Andersons 1945 getroffen, als Junes Bruder Jim gefallen war. Der Krieg, schon fast vorbei, war immer noch hungrig auf Menschenleben gewesen. Philipp, Jims bester Freund, hatte an seiner Seite gekämpft und überlebt. Er war für ihren Vater eine Stütze und ebenso für June, die es so einfach und schön fand, sich in den jungen, leicht melancholischen Offizier mit dem braunen Haar und den grünen Augen zu verlieben. So war in den Augen ihres Vaters aus Phil ein Ersatz-Jim geworden, an der Seite der Ersatz-Heather. Und schon war die Familie wieder komplett gewesen, irgendwie. Aber intakt war sie niemals gewesen, das wusste June jetzt.
Nach außen deutlich wurde es, als Phil sich von ihnen abwandte. Von June, deren Zuneigung er wohl als aufdringlich empfunden hatte. Von seinem Vorgesetzten Hiram Anderson, dessen Manipulationen ihn vermutlich ähnlich eingeengt hatten wie Junes Liebe. Vom CIC und den Amerikanern, als er nicht nur zum Schein, sondern aus ganzem Herzen wieder ein Deutscher geworden war.
In ihrem Innern war ihr klar, dass sich diese Entwicklung nicht umkehren ließ. Die vorletzte Nacht war kein Wiederaufleben dessen gewesen, was einmal gewesen war, sondern nur eine Erinnerung daran. June hatte sich dieser Erinnerung gern hingegeben, hatte die Leidenschaft sie doch für ein paar Stunden die Sorge um ihren Vater vergessen lassen.
Der stolze General Anderson war der Nächste aus der Familie, dessen Verlust ihr drohte. Wenn die ganze Affäre um das tote Frankfurter Mädchen und die verschwundenen Papiere seine Ehre befleckte und seine Position in der US Army ins Wanken brachte, blieb von ihm nichts anderes übrig als die bloße Hülle, ein seelisches Wrack. Früher hätte er sich nie in seinem Bett verkrochen, jetzt schien er fast froh, nichts zu hören und nichts zu sehen. Junes ganze Hoffnung ruhte auf Phil, und der war verschwunden, seitdem ihn seine Kollegen am frühen Morgen abgeholt hatten.
Das Telefon klingelte, und Brodie, der nebenan in der Bibliothek sauber machte, ging an den dortigen Apparat. Kurz darauf öffnete er die große Schiebetür. «Ein Herr, der Captain Gerber sprechen möchte. Er meint, es sei sehr wichtig. Wollen Sie mit ihm sprechen, Miss June?»
«Wer ist es?»
Brodie setzte eine indignierte Miene auf. «Das wollte er nicht sagen.»
«Also gut.» June ging in die Bibliothek.
Brodie blieb im Salon zurück und zog diskret die Tür zu.
«Anderson», meldete sie sich, als sie den Hörer aufgenommen hatte. «Mit wem spreche ich?»
«Das tut nichts zur Sache», sagte eine tiefe Stimme. Der Mann sprach Englisch wie June, eigentlich recht gut, aber ein Akzent war deutlich herauszuhören. Es klang nicht ganz so wie bei den meisten Deutschen, eher nach einem Franzosen. «Ich muss mit Philipp Gerber sprechen, dringend.»
«Ich kann Ihnen nicht sagen, wann er zurückkommt. Kann er Sie irgendwie erreichen?»
«Es ist besser, wenn ich mich wieder melde. Wenn er kommt, soll er in der Nähe des Telefons bleiben. Es ist in seinem eigenen Interesse.»
«Wieso?»
«Eva Herden ist in Gefahr.»
Bevor sie noch etwas fragen konnte, hatte der Mann aufgelegt.
June ärgerte sich. Seitdem Phil diese Frau kannte, drehte sich bei ihm alles um sie. Natürlich war es eine dumme Eifersucht, die um Jahre zu spät kam. War sie, was Phil betraf, gar nicht so abgeklärt, wie sie sich eben noch selbst hatte einreden wollen?
Wie viel Zeit war vergangen? Eva konnte es nicht sagen, sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Sie musste eingeschlafen sein. Ihr Hals schmerzte immer noch von den kräftigen Händen des Weißhaarigen. Auf ihre Frage, ob diese Hände Rosemarie Nitribitt erwürgt hätten, hatte sie keine Antwort erhalten.
Der Mann hatte eine neue Spritze vorbereitet und hielt sie in der Hand, als er an die Pritsche trat. «Jetzt benehmen wir uns aber, okay? Sie haben ja bemerkt, wie ungemütlich ich werden kann, wenn man mich ärgert.»
«Ich möchte nicht an einer Überdosis von Ihrem Wahrheitszeugs krepieren!»
«Wenn Sie das vermeiden möchten, seien Sie offen zu mir. Aber mit Geschichten über ein angebliches Luxusauto, das ein angeblicher Zukünftiger Ihnen schenken will, kommen Sie bei mir nicht weiter. Ihr Philipp ist jedenfalls nicht dieser Zukünftige.»
«Vielleicht meine ich einen anderen, der mich umwirbt.»
«Na klar, und ich habe nachher ein Rendezvous mit Gina Lollobrigida.»
Diesmal machte er es sehr schnell. Ehe sie überhaupt reagieren konnte, hatte er ihr die zweite Dosis des Wahrheitsserums in den Arm gejagt.
Er legte die Spritze weg, tupfte die Einstichstelle ab und setzte sich wieder auf den Stuhl. «Sie betrügen Philipp also mit einem reichen Kerl, der Sie mit Autos überhäuft, wie?»
Jetzt musste sie kichern, ohne genau zu wissen, warum. «Wie Sie das sagen, klingt es direkt anstößig. So ein reicher Verehrer ist doch nichts Schlechtes. Würden Sie sich wehren, wenn Ihnen jemand ein Auto schenken will?»
«Natürlich nicht», sagte der Mann auf dem Stuhl in einem jovialen Ton. «Schon gar nicht bei so einem Luxus-Cabrio, wie es die Nitribitt gefahren hat. Der Wagen gefällt Ihnen ja auch.»
«Das kann man wohl sagen.» Eva kicherte immer noch, konnte einfach nicht damit aufhören.
«Oder Sie lassen sich genau das Auto schenken, das der Nitribitt gehört hat. Sie braucht es ja nicht mehr.»
«Keine schlechte Idee», fand Eva. Sie hatte aufgehört zu kichern und sprach jetzt schleppend. Ihre Zunge fühlte sich schwer an, und sie hatte zunehmend Mühe, der Unterhaltung zu folgen. Warum sprach der Mann dauernd von dem Auto dieser toten Frau?
«Da gibt es aber ein Problem», fuhr der Mann fort. «Der Mercedes der Nitribitt ist verschwunden, man müsste ihn erst mal finden.»
«Ja, das müsste man.» Sie stimmte ihm einfach zu, was sie der Mühe enthob, seinen Gedankengang nachzuvollziehen. Ihr Herz schlug schneller, aber ihr Atem ging stockend, und sie schnappte nach Luft. Sie hatte das Gefühl von kaltem Schweiß auf ihrer Stirn. «Ist Ihnen auch so warm?»
Er stand auf und holte ihr ein Glas Wasser, hob ihren Kopf leicht an und hielt es an ihre Lippen.
«Trink das, mein Kind», sagte ihr Vater, und gierig schluckte sie das Wasser, bis das Glas leer war.
Kornelius Herden brachte das Glas weg und setzte sich wieder auf den Stuhl. Was für ein schmucker Mann Evas Vater in seiner Offiziersuniform war. Sie war stolz auf ihn und hätte sich gefreut, wenn er sie zu sich auf den Schoß genommen hätte. Er fehlte ihr, so sehr. Aber er traf keine Anstalten, sie auf seinen Schoß zu setzen. Vermutlich wollte er seine Uniform nicht zerknittern.
«Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr frage ich mich, ob es einen Zusammenhang zwischen dem verschwundenen Auto der Nitribitt und den bei ihr verschwundenen Papieren gibt.»
Das war nicht ihr Vater, der da sprach. Der Mann auf dem Stuhl trug auch keine Uniform, sondern einen dunkelbraunen Anzug, ein beiges Hemd und eine Krawatte in der Farbe des Anzugs, von schmalen rotbraunen Streifen durchzogen. Das leicht schwammige Gesicht hatte nichts mit den hageren Zügen ihres Vaters zu tun, und dann erst dieses weiße Haar!
Etwas in Eva versteifte sich gegen den Dämmerzustand, der sie befallen hatte und der sie so leichthin hatte mit dem Mann plaudern lassen, der sie manipulierte. Sollte er doch auf sie einreden wie ein Wasserfall, sie würde nicht mehr darauf eingehen. Sie bäumte sich auf und schrie ihn an: «Fahren Sie zur Hölle! Sie können mir gar nichts! Philipp wird mich hier rausholen!»
Die wässrigen Augen des Mannes blickten sie für ein paar Sekunden erstaunt an. Mit diesem Ausbruch hatte er nicht gerechnet. Dann fing er an zu lachen, laut und heftig. «Niemand wird dir hier helfen, schon gar nicht Philipp Gerber! Der liegt längst wieder im Bett seiner geliebten June.»
«Das … das ist nicht wahr! Das erfinden Sie, um mich zu quälen.»
«Ach ja? Du solltest mal ernsthaft darüber nachdenken, warum er sich mit so einer Visage wie deiner abgeben soll, Narbengesicht, wenn er eine perfekte Frau wie June haben kann. Die vorletzte Nacht haben die beiden miteinander verbracht – in Junes Bett.»
Eva wollte es nicht wahrhaben. Krampfhaft suchte sie nach Argumenten, um den Mann zu widerlegen. Ihr Herz pochte, als wolle es ihre Brust zerreißen. Philipp wohnte derzeit im Haus der Andersons. Da fiel es ihm wohl leicht, in Junes weiche Arme zu sinken.
«Sie ist Amerikanerin, und auch sein Herz schlägt für die Amerikaner», sagte Evas Vater mit einer Härte, die ihr fast körperlich wehtat. «Im Krieg hat er gegen uns gekämpft, gegen sein eigenes Land. Er hat es verraten, und jetzt hat er dich verraten. Dein Philipp ist ein elender Verräter!»
Und ihr eigener Vater lachte sie aus.