Gerber war dem Krankenwagen zum Hospital zum Heiligen Geist gefolgt. Er stellte den Kapitän ab und folgte den uniformierten Sanitätern, die Eva auf einer Fahrtrage ins Gebäude schoben. Sie war apathisch, aber bei Bewusstsein.
Ein Arzt in den Fünfzigern, klein und hager, mit dicker Brille und ergrautem Spitzbart, trat ihnen mit energischen Schritten entgegen. «Wen haben wir hier?»
«Patientin mit leichten Schädelverletzungen, desorientiert, vermutlich Wahnvorstellungen», antwortete einer der Sanitäter.
«Eva Herden, Journalistin», ergänzte Gerber. «Sie wurde entführt und vermutlich gefoltert. Zumindest hat man ihr etwas gespritzt. Außerdem gibt es eine Vorgeschichte mit Pervitin.»
«Aha.» Der Arzt musterte ihn von oben bis unten. «Und Sie sind?»
«Hauptkommissar Philipp Gerber, Bundeskriminalamt.» Er zeigte seine Marke vor.
«Dr. Bethmann.» Der Arzt streckte die Hand aus, und Gerber schüttelte sie. «Die Narbe auf der linken Wange ist alt. Eine Kriegsverletzung?»
«Ja. Bombenangriff auf Hildesheim.»
Als hätte sie nur auf dieses Stichwort gewartet, rief Eva: «Papa, hilf mir!»
«Sie hat mich vorhin für ihren Vater gehalten», sagte Gerber und nahm eine halbvolle Ampulle aus seiner Manteltasche; er hatte sie auf einem kleinen Tisch neben der Pritsche gefunden, auf der Eva gelegen hatte. «Könnte sein, man hat ihr das gespritzt. Ich tippe auf Pentothal oder Scopolamin.»
«Das ist nicht gut, schon gar nicht bei einer Vorgeschichte mit Pervitin. Bleiben Sie hier?»
«Selbstverständlich.»
Dr. Bethmann nickte. «Ich würde mein Mädchen auch nicht allein lassen.»
«Woher …»
«Mann Gottes», sagte der Arzt, «halten Sie mich für vorzeitig verblödet?»
«Die junge Frau, wie immer sie nun heißt, erzählte etwas von ihrem Zukünftigen, der ihr ein Auto schenken wollte», sagte Saalfeld. «Sie hatte sich für den 190er entschieden, hatte wohl in der Zeitung davon gelesen.»
Der Weißhaarige warf die fast aufgerauchte Zigarette in den Wassertrog unter Saalfelds Kopf. «Im Zusammenhang mit dem Mord an der Nitribitt, vermute ich.»
«Ja, etwas in der Art, sie war sehr redselig.»
«Weiter!», forderte der Anführer der drei Männer.
Etwas in Saalfeld hinderte ihn am Weitersprechen. Seine Gedanken schlugen Purzelbäume, und er musste immer schneller atmen, um genügend Luft zu bekommen. Er brauchte doch nur seine Geschichte zu erzählen, und schon konnte er nach Hause. Wirklich? Wenn sie alles wussten, war es dann nicht das Beste für sie, ihn zu töten? Und wenn er ihnen alles erzählte, brachte er doch diese andere Frau in Gefahr, die den Wagen abgeholt hatte. Gitta, ja, Gitta Kress, das war ihr Name gewesen. Andererseits, was kümmerte sie ihn? Eine Nutte in Frankfurt mehr oder weniger, na und? Wichtig war er! Hatte er den Krieg überlebt, um hier zu krepieren, auf diese schändliche Weise? Er wollte zurück zu seiner Frau und den Kindern. Er sah Hilde vor sich, die ihrer zänkischen Mutter immer ähnlicher wurde. Wollte er wirklich zurück?
«Unser Hauptmann braucht eine weitere Abkühlung», hörte er die Stimme des Weißhaarigen, der jetzt englisch sprach. «Tunkt ihn ein!»
Die Wippe senkte sich, und schon schlug das Wasser über ihm zusammen. Er hatte ganz vergessen, die Luft anzuhalten, tat es jetzt wie von selbst. Aber war es noch wichtig? Hilde lächelte ihn an. Nein, Doris. Oder nicht Doris? Es war seine Mutter! Seine Mutter, die doch im Krieg beim Vormarsch der Roten Armee verschollen war. Aber sie lebte, breitete die Arme aus …
Nachdem Gerber vom Büro des Arztes aus Dr. Brückner kurz über die Befreiungsaktion im F1-Komplex unterrichtet hatte, rief er bei Dorsts Kontaktnummer an.
«Mein Hinweis war also goldrichtig», platzte es aus Dorst heraus, bevor Gerber noch etwas sagen konnte.
«Woher wissen Sie das?»
«Hören Sie mal, Gerber, ich verlasse mich doch nicht blind auf Sie. Auge und Ohr immer am Feind, nicht wahr? Sie und Ihre Hilfstruppen haben ja einen ordentlichen Rabatz veranstaltet. Ich nehme an, Sie melden sich aus dem Krankenhaus. Wie geht es Ihrer Eva?»
«Sie ist derzeit nicht vernehmungsfähig.»
«Also nichts, was uns bei unserer gemeinsamen Suche weiterbringt?»
«Rein gar nichts.»
«Versuchen Sie nicht, mich zu verladen!»
«Wenn ich das wollte, hätte ich Sie gar nicht angerufen. Oder ich hätte Sie längst hochgehen lassen.»
«Na gut, ich muss Ihnen wohl glauben», seufzte Dorst. «Wann höre ich wieder von Ihnen?»
«Wenn ich etwas für Sie habe.»
«Eh bien. Aber nicht vergessen, meine Geduld ist endlich.» Damit legte Dorst den Hörer auf.
Dr. Bethmann kam auf Gerber zu. «Ich habe Fräulein Herden für ein paar Stunden schlafen gelegt. Ruhe ist für sie jetzt die beste Medizin. Wir müssen zwar noch auf die Laborergebnisse warten, aber Sie haben wohl recht: Die Patientin wurde mit Drogen vollgepumpt.»
«Wann kann ich mit ihr sprechen?»
«Frühestens am Abend, besser morgen.»
«Hat sie noch etwas gesagt?»
«Nichts, was einen Sinn ergäbe. Derzeit halluziniert sie nur, wenn sie spricht. Essen wir zusammen Mittag, und Sie erzählen mir etwas über ihre Pervitin-Sucht?»
Gerber hatte noch keinen Gedanken ans Essen verschwendet, aber nun meldete sich sein leerer Magen. Gemeinsam gingen sie in die Kantine und bestellten den Sonntagsbraten mit Rotkraut.
Vor dem Nachtisch erschien Warnke in der Kantine, und Gerber schob seinen Pudding über den Tisch zu Dr. Bethmann. «Ich glaube, meine Mittagspause ist beendet.»
«Der feine Herr Hauptkommissar isst hier gemütlich, während ich die Arbeit mache», sagte Warnke in gespielter Empörung. «Wir haben einen Einsatz, Philipp!»
Saalfelds Kopf tauchte aus dem Becken auf, doch er bewegte sich kein bisschen, hustete nicht und rang nicht um Atem.
«Der Kraut ist ohnmächtig», sagte der Mann mit dem Vogelgesicht. «Vielleicht hätte ihm Bier besser geschmeckt als Wasser.»
Er lachte laut, und der Muskulöse fiel in das Lachen ein.
Der Weißhaarige blieb ernst. Er musste Saalfeld nicht einmal näher untersuchen, um zu wissen, was mit ihm los war.
«Er ist tot.»
«Wieso tot?» Der schlanke Mann brachte sein Vogelgesicht näher an die Pritsche heran. «Wir haben ihn kaum länger eingetunkt als zuvor. Davon kann man nicht ertrinken!»
«Ich glaube nicht, dass er ertrunken ist», sagte der Weißhaarige. «Wahrscheinlich hat seine Pumpe den Stress nicht länger ausgehalten. Wie auch immer, der Hauptmann ist hinüber.»
Sein Gleichmut verließ ihn, und er stieß einen Fluch aus.
Der Mann mit dem Vogelgesicht spuckte auf den Boden. «Uns klebt die Scheiße wirklich am Hacken. Der Großaufmarsch der Polizei am Fernmeldehochhaus war schon ein Schlag ins Kontor und jetzt das hier. Was sollen wir tun?»
«Die Leiche verschwinden lassen», schlug der Muskulöse vor.
«Das hat keine Priorität», sagte der Weißhaarige. «Darum können wir uns in der Nacht kümmern. Irgendetwas zum Beschweren, und ab mit dem Kerl in den Main!»
Gerber lenkte den Opel Kapitän in Richtung Rödelheim. Warnke hatte sich von einer Funkstreife zum Krankenhaus bringen lassen und saß jetzt auf dem Beifahrersitz.
«Arnim von Saalfeld ist verschwunden?», wiederholte Gerber die Worte seines alten Freundes. «Wer ist das?»
«Der Geschäftsführer der Daimler-Niederlassung in der Kriegkstraße.»
«In der Eva gestern war? Jetzt begreife ich, wo du den Zusammenhang siehst. Wie lange ist er verschwunden?»
«Seit ein paar Stunden. Er wollte zum Golfplatz, ist dort aber nie angekommen. In der Nähe der Nidda, wo er auch wohnt, wurde sein Wagen gefunden. Sieht so aus, als hätte jemand ihn abgefangen.»
«Vielleicht hat er den Wagen abgestellt, um spazieren zu gehen.»
«Und hat den Schlüssel stecken lassen, in einem 190er SL ?»
«Guter Punkt», sagte Gerber. «Allmählich kommt Licht in die Angelegenheit.»
«Ach, wirklich?»
«Erst schnappen sie sich Eva, dann diesen Saalfeld. Offenbar hat Eva in einem Wespennest herumgestochert. Was sagt uns das?»
«Verstehe, die Spur führt zum Auto der Nitribitt! Aber was ist mit dem Wagen? Vor allen Dingen, wo ist er?»
«Vielleicht hatte sie ihren 190er zur Reparatur in die Kriegkstraße gebracht. Wir sollten uns dort einmal umsehen, sobald wir hier fertig sind.»
«Deine Freundin könnte uns vielleicht weiterhelfen, Philipp. Schade, dass die Ärzte sie so lange ins Reich der Träume geschickt haben.»
«Vielleicht hätte uns auch der Mann weiterhelfen können, den wir bei Eva im F1-Komplex angetroffen haben. Aber den hast du in ein Reich geschickt, aus dem er nie mehr zurückkehrt.»
«Ich wollte Eva retten, du solltest mir dankbar sein!»
«Das bin ich. Aber wer war der Knabe?»
«Wir werden es herausfinden, alter Prärieindianer. Nur Geduld.»
Saalfelds Haus war ein verspielter Neubau mit mehreren Giebeln, einer großen Terrasse und Garage. Auch die anderen Häuser in der Straße waren erst in den letzten Jahren entstanden, alles Eigenheime, deren Besitzer vom Wirtschaftswunder erkennbar profitiert hatten. Ein Streifenwagen parkte am Straßenrand, darin zwei uniformierte Kollegen. Einer von ihnen war gerade mit dem Funkgerät beschäftigt. Gerber hielt hinter dem Borgward an und ging mit Warnke zu den Männern von der Funkstreife.
«Neuigkeiten?», fragte Warnke den Polizeihauptwachtmeister, der eben mit dem Funkgerät hantiert hatte.
«Von dem Vermissten weiterhin keine Spur», antwortete der Uniformierte. «Ich habe gerade mit den Kollegen von Frank 24 gesprochen, die am Fundort des Autos sind. Saalfeld ist wie vom Erdboden verschluckt.»
«Wo genau hat man den Wagen gefunden?», erkundigte sich Gerber.
«Gar nicht weit von hier, keine zwei Kilometer. An einem unbefestigten Weg, der nicht für den Durchgangsverkehr freigegeben ist. Nur für Forstarbeiter und so weiter. Ein Mann aus der Siedlung, der dort mit seinem Hund spazieren war, hat den Wagen in einem Gebüsch gesehen.»
Warnke deutete mit dem Daumen auf das Haus. «Saalfelds Familie ist daheim, nehme ich an.»
«Ja, seine Frau, die Schwiegermutter und drei Kinder. Die Schwiegermutter kümmert sich um ihre Enkel, Saalfelds Frau ist sehr aufgelöst.»
Gerber und Warnke klingelten an der Haustür, und Frau von Saalfeld öffnete ihnen in einem brombeerfarbenen Kittel. An den Händen trug sie gelbe Gummihandschuhe. Ihr dunkelblondes Haar war in Unordnung geraten, und ihre Augen wirkten verheult.
«Entschuldigen Sie meinen Aufzug», sagte sie, als sie die beiden Besucher ins Wohnzimmer führte. «Ich bin gerade beim Abwasch, muss ja gemacht werden.»
Frau von Saalfeld nahm in einem Sessel Platz, Gerber und Warnke auf der Couch, nachdem sie den angebotenen Kaffee abgelehnt hatten. So musste Gerber nicht ständig das schreckliche Gemälde ansehen, das die Wand über der Couch dominierte: im Vordergrund ein röhrender Hirsch, dahinter eine Holzhütte und ringsum ganz viel Wald.
«Kam es schon einmal vor, dass Ihr Mann seinen Wagen einfach so in der Gegend stehen ließ – mit dem Zündschlüssel?», fragte Warnke.
«Nein, noch nie», antwortete sie entschieden. «Das Cabrio ist sein Augapfel. Deshalb steht es ja auch immer in der Garage und nicht der Kombi.»
«Sie haben noch einen Wagen?»
«Ja, einen Fiat. Für die Familie ist das Cabrio nicht so geeignet. Der Fiat steht hinter dem Haus, sodass man ihn von der Straße nicht sehen kann. Arnim sagt immer, als Filialleiter bei Daimler dürfe man sich keinen Fiat vors Haus stellen.»
Gerber fixierte die Frau. «Sie haben sicher von der Ermordung dieser Prostituierten gehört, Rosemarie Nitribitt.»
«Wer hat das nicht? Die Zeitungen sind ja voll davon.»
«Hat Ihr Mann diese Frau mal erwähnt?»
«Ja, sie war Kundin bei ihm. In seiner Werkstatt hat sie ihren Wagen reparieren lassen. So einen 190er, wie wir ihn auch haben. Erst kurz vor dem Mord war sie mit dem Wagen da. Mein Mann erzählte das, als im Radio über den Mord berichtet wurde.»
«Wissen Sie Genaueres über diesen letzten Besuch?»
«Nein. Wieso ist das wichtig? Was hat das mit dem Verschwinden meines Mannes zu tun?»
«Das sind nur Routinefragen», sagte Warnke. «Wir müssen sie stellen, wenn es Überschneidungspunkte zwischen zwei Verbrechen gibt.»
Frau von Saalfeld wurde blass. «Sie glauben also, mein Mann ist Opfer eines Verbrechens geworden?»
«Das muss nicht so sein», sagte Gerber schnell. «Wir müssen nur allen Möglichkeiten nachgehen. Haben Sie wirklich keine Idee, wo Ihr Mann sich aufhalten könnte?»
Sie blickte auf die Wohnzimmeruhr mit den fetten römischen Ziffern und musste schlucken. Gerbers Frage zu beantworten, kostete sie Überwindung. «Wenn Sie sein Auto nicht gefunden hätten, hätte ich vermutet, er ist bei Fräulein Kahlert. Dort fährt er meistens nach dem Golf hin. Ich weiß das, weil ich ihm nachgefahren bin, zweimal.»
«Wer ist Fräulein Kahlert?»
«Seine Geliebte natürlich, jung und hübsch.» Frau von Saalfeld unterdrückte ein paar Tränen. «Sie arbeitet als Sekretärin in seiner Firma.»
«Wo wohnt sie?»
«Bornheimer Landstraße 23, nicht weit vom Luisenplatz.»
Jetzt war Walter Hehn der Herr über das Daimler-Gelände an der Kriegkstraße. Am Vormittag hatte der Notdienst Fahrzeuge zur Reparatur angenommen und noch schnell kleinere Arbeiten ausgeführt, die mit ein paar Handgriffen zu erledigen waren. Jetzt waren alle nach Hause gegangen, zu ihren Familien oder ihren Bräuten. Der Wachmann Hehn war mit seinen zweiundsechzig Jahren zu alt für eine Braut, und seine Familie gab es nicht mehr. Thomas, sein Ältester, war 1944 bei Bastogne gefallen. Erich war aus Russland nicht zurückgekehrt. Im Januar 1956 war Hehns Frau Grethe gestorben. An ihrem schwachen Herzen, hatte der Arzt gesagt. Da war wohl was dran, dachte Hehn, während er seine Schirmmütze aufsetzte. Aber ihr Herz wäre nicht so schwach gewesen, hätte sie wenigstens einen ihrer Söhne wieder in die Arme schließen können. Am Vormittag hatte er seine Frau auf dem Friedhof besucht und mit ihr über die guten Jahre gesprochen, die Zeit vor dem Krieg, als sie eine Familie gewesen waren.
Er rückte die Pistolentasche an seiner Hüfte zurecht und zog den dunkelgrauen Mantel über. Auch wenn es heute nicht regnete, durfte man den November nicht unterschätzen, nicht in seinem Alter. Das Rheuma kam schnell und ging schwer wieder weg.
«Dann wollen wir mal», sagte er zu sich selbst, wie er es sich in der Zeit des Alleinseins angewöhnt hatte, und verließ das kleine Kabuff, das sie großspurig Wachhaus nannten.
Als er auf den Werkstatthof humpelte, lachte er leise. Es war schon verrückt. Im Krieg hatten seine Söhne gedient, er aber nicht. Weil er die Beinverletzung aus dem ersten Krieg hatte, 1917, eine Tommy-Kugel, und weil aus seinem Jahrgang ohnehin nur wenige Männer eingezogen worden waren. Aber jetzt, mitten im Frieden, durfte er eine Waffe tragen und auf Streife gehen, obwohl das mit dem Gehen wirklich schon einmal besser funktioniert hatte.
Sein Blick glitt über die schönen Autos, die man zur Reparatur gebracht hatte. Für ihn waren die Menschen, die sich solche Autos leisten konnten, reich. Er hatte niemals ein Auto besessen, fuhr nur mit der Trambahn.
Als er auf die große Werkstatthalle zuhielt, hörte er von links ein metallisches Geräusch. Seltsam, er war allein auf dem großen Gelände, abgesehen von den Ratten.
Da war es wieder, dieses metallische Klackern. Mit einem Seufzer wandte er sich nach links und ging um einen Reisebus herum. Vor ihm stand ein Mann, der hier gewiss nichts zu suchen hatte. Ein schlanker Kerl, mittelgroß, mit einem Gesicht, das an einen Vogel erinnerte. Es fehlte nur noch der spitze Schnabel.
«Wer sind Sie?», schnarrte Hehn. «Sie sind nicht berechtigt, hier …»
Weiter kam er nicht. Der Fremde holte mit dem Gegenstand in seiner Rechten aus und schlug zu. Hehn erkannte noch, dass es ein Seitenschneider war, dann ging er zu Boden. Um ihn drehten sich all die Autos wie ein Kinderkarussell, und der Mann mit dem Vogelgesicht öffnete Hehns Mantel und dann seine Pistolentasche.
Er rief etwas über den Platz, aber Hehn konnte es nicht verstehen. Es war eine fremde Sprache, wohl Englisch.
«Eine flotte Biene», fand Warnke mit einem zufriedenen Schmunzeln. «Ich kann Saalfeld schon verstehen. Schade, dass sie ihren Morgenmantel geschlossen hat, als sie uns gesehen hat.»
«Reicht dir die Rothaarige aus dem Frankfurter Treff nicht?», fragte Gerber, während er den Wagen über die Mainzer Landstraße in Richtung Kriegkstraße lenkte.
«Man wird doch noch träumen dürfen.»
«Du hast doch auch eine Sekretärin, die dir jeden Wunsch von den Augen abliest.»
«Willst du mich veräppeln? Frau Dietz in allen Ehren, aber sie fällt eher in die Kategorie Hilde von Saalfeld.»
Gerber verstand Saalfelds Schwärmerei für Doris Kahlert durchaus. Eine so junge und sehr anziehende Frau, die ihn nach dem Golf im offenen Morgenmantel empfing, war etwas anderes als eine Ehefrau, die sich tagein, tagaus für die drei Kinder und den Haushalt abrackerte. Zumal Saalfelds Sekretärin offenbar eine anspruchslose Geliebte war. Sie hatte nicht den Eindruck erweckt, dass sie eines Tages die neue Frau von Saalfeld werden wollte. Der Sonntagmittag mit ihrem Chef und ein hübsches Geschenk hin und wieder, das schien ihr zu genügen. Kein Ärger mit der Frau Gemahlin, kein Skandal, nur die pure Freude. Die «flotte Biene» schien sich aber auch keine großen Sorgen um den Mann zu machen. «Vielleicht liegt er mit einer anderen im Gebüsch», war alles gewesen, was ihr zu Saalfelds Verschwinden einfiel.
Womöglich brachte sie ein Besuch in der Werkstatt weiter. Gerber hielt vor dem verschlossenen Tor zum Firmengelände. Als er ausstieg, fiel sein Blick auf ein Loch im Drahtzaun.
Er legte einen Zeigefinger an die Lippen und flüsterte: «Sieh dir das an, Harry! Ich glaube, wir sind nicht die einzigen Besucher.»
Warnke nickte und zog seine Walther PPK . Auch Gerber griff nach seiner Waffe, bevor er durch das große Loch im Zaun schlüpfte. In geduckter Haltung schlichen sie durch die Reihen der Fahrzeuge, die hier auf Reparatur oder Abholung warteten.
Zwischen den Pkws stach ein Reisebus hervor, dessen rote Lackierung in der Sonne leuchtete. Als er ihn umrunden wollte, erstarrte Gerber mitten in der Bewegung. Vor sich auf dem Boden sah er zwei Beine in einer dunklen Hose. Der Wachmann. Die Mütze war ihm vom Kopf gerutscht und lag neben ihm, der graue Mantel war offen, die Pistolentasche leer. Und er blutete am Kopf.
Ein Schuss ließ zwei Scheiben des Busses zersplittern. Sofort rollte sich Gerber unter das Fahrzeug, und Warnke sprang hinter die Motorhaube.
«Woher kam das?», fragte Warnke.
Eilig suchte Gerbers Blick das Werkstattgelände ab. «Keine Ahnung.»
Wieder ein Schuss, und die Kugel streifte die Motorhaube.
Warnke sprang ganz hinter den Bus. «Verflucht.»
«Ich versuche, mich anzupirschen. Gib mir Feuerschutz, Harry!»
«Woran willst du dich pirschen? Hast du jemanden entdeckt?»
«Noch nicht. Wenn ich lossprinte, lässt du es krachen!»
«Worauf soll ich schießen?»
«Egal. Baller von mir aus in die Luft.»
Sobald Gerber in Richtung Verwaltungsgebäude losspurtete, begann Warnke, Löcher in die Luft zu schießen. Gerber registrierte im Laufen, dass ein Fenster offen stand. Von dort konnten die Schüsse abgefeuert worden sein.
Gerber war nicht schnell genug. Noch drei, vier Schritte trennten ihn von dem Gebäude, da traf dicht vor ihm eine Kugel auf den Asphalt. Er warf sich zu Boden und rollte ein Stück zur Seite, bis eine Limousine, ein 170er Vorkriegsmodell, ihm Deckung bot. Der Schütze hatte sein Manöver verfolgt, und ein weiterer Schuss fuhr durch die Windschutzscheibe.
Diesmal hatte Gerber den Gegner gesehen. Er hockte tatsächlich hinter dem offenen Fenster im Obergeschoss. Gerber feuerte zwei Schüsse auf das Fenster ab, um danach sofort wieder in Deckung zu gehen. Ein Aufschrei konnte nur bedeuten, dass er den anderen entweder getroffen oder zumindest aufgeschreckt hatte.
Jetzt oder nie!
Erneut sprang er auf, legte die letzten Meter mit schnellen Sätzen zurück und schlüpfte ins Gebäude.
Das Treppenhaus war dunkel. Er stürmte die Stufen hinauf.
Als er den langen Gang im Obergeschoss betrat, hörte er das Klappern einer Tür. Zwei weitere Türen standen offen. Durch sie fiel etwas Licht auf den Gang.
Er pirschte sich an die erste offene Tür heran und spähte in den Raum. Hier hatte der Schütze gelauert. Der Vogel war offenkundig ausgeflogen. Neben dem offenen Fenster entdeckte er einen Blutfleck auf dem Boden. Also hatte er dem Heckenschützen zumindest ein Andenken verpasst.
Gerber überprüfte den angrenzenden Raum. Es war die Registratur, wie er an den Aktenschränken erkannte. Eine Akte lag offen auf dem Boden. Das Fenster zeigte ebenfalls auf den Innenhof, war aber geschlossen.
Er betrat den Raum am Ende des Ganges. Hier gab es lange Tische und viele Stühle, offenbar der Konferenzraum. Eins der beiden Fenster stand offen. Es zeigte hinaus zur Straße. Als er genauer hinsah, bemerkte er ein Loch im Drahtzaun, ähnlich dem, durch das er und Warnke auf das Gelände gekommen waren. Der feindliche Schütze war – allein oder mit Komplizen – durch das Fenster entkommen, indem er sich an der Außenmauer hinuntergelassen hatte und das letzte Stück gesprungen war.
Die Anspannung fiel von Gerber ab. Er steckte die Browning zurück ins Holster und wischte mit einem Ärmel seines Mantels über die verschwitzte Stirn. Auf einer Anrichte neben der Tür stand ein Telefon. Er rief im Polizeipräsidium an, verlangte nach Verstärkung und einem Krankenwagen für den Wachmann, dem hoffentlich noch zu helfen war.