// Kapitel 27 //

Als Gerber am Mozartplatz aus dem Wagen stieg, fielen ein paar schwere Regentropfen auf sein Haupt. Es ging wieder los, und die Wolken über Frankfurt zogen sich dichter zusammen. Die alte Generalsvilla wurde allmählich ein gewohnter Anblick, was er nicht geglaubt hätte, als er vor vier Jahren nach Bonn gegangen war.

Die Nitribitt-Geschichte zog ihn immer mehr in einen Sumpf aus Dingen, die er längst für erledigt gehalten hatte. Hiram C. Anderson, der fast sein Schwiegervater geworden wäre und unter dessen Dach er jetzt wohnte. Die süße June, mit der er ins Bett gegangen war, obwohl sie nicht die Frau war, die er liebte. Eva, die vom Pervitin weggekommen war, nur um von Kriminellen mit Drogen vollgepumpt zu werden. Und jetzt der Mann mit den weißen Haaren, der vielleicht gar kein Unbekannter war. Der Anblick der Phantomzeichnung hatte genügt, um Gerber den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Das Unglück seiner Familie stand ihm deutlich vor Augen. Es war wirklich das Letzte, was er gegenwärtig gebrauchen konnte.

Vielleicht sollte er sich lieber ein Hotelzimmer nehmen, dachte er, als er vor der Haustür nach dem Schlüssel suchte. Er kam sich schäbig dabei vor, in der Villa zu wohnen, in der er mit June geschlafen hatte, während ein paar Kilometer weiter Eva im Krankenhaus lag. Vor dem Polizeipräsidium hatte er von einer Telefonzelle aus im Hospital zum Heiligen Geist angerufen, nur um zu erfahren, dass Evas Zustand unverändert war.

Bevor er den Schlüssel aus der Jackentasche ziehen konnte, ging die Haustür auf, und der unvermeidliche Staff Sergeant Brodie stand vor ihm.

«Sie sehen aus, als hätten Sie einen anstrengenden Tag hinter sich, Sir.»

«Wenn das Ihre Art ist, mir einen starken Kaffee anzubieten, sage ich Ja.»

«Der General ist in der Bibliothek», sagte Brodie, als er Gerber den Mantel abnahm. «Miss June sitzt in ihrem Zimmer und schreibt einen Brief an ihren Verlobten.»

«Dabei sollten wir sie nicht stören.»

«So sehe ich das auch, Sir.» Brodie hängte den Trenchcoat auf einen Bügel und strich ihn so sorgfältig glatt, als habe er ein Leben lang nichts anderes getan. «Darf ich mich erkundigen, wie es um Miss Eva steht?»

«Wir konnten sie befreien, aber sie ist im Krankenhaus und derzeit nicht ansprechbar. Wenn das Hospital anruft, geben Sie mir bitte sofort Bescheid, ganz egal, ob ich schlafe, im Bad bin oder sonst was tue!»

«Worauf Sie sich verlassen können, Captain Gerber.»

Er fand General Anderson an dessen Schreibtisch vor, über ein paar Akten gebeugt und in der Hand einen Bleistift, mit dem er sich hin und wieder Notizen machte. Als sich der General zu ihm umdrehte, wirkte er so frisch und energisch, wie Gerber ihn von früher kannte. Der Offizier in der tadellos sitzenden Uniform schien ein ganz anderer zu sein als der ausgelaugte, am Boden zerstörte Mann, den Gerber in den vergangenen Tagen erlebt hatte. Er lächelte sogar ein wenig, als er Gerber erblickte.

«Verzeihung, Sir, ich wollte Sie nicht stören.»

«Das tust du nicht, Phil.» Anderson richtete den Blick auf Brodie, der hinter Gerber in der Tür erschienen war. «Ja, Sergeant?»

«Für Sie auch einen starken Kaffee, General?»

«Unbedingt. Je stärker, desto besser.»

Anderson deutete auf einen der Ledersessel. «Nimm doch Platz, Phil. Man kann darin nicht nur schlafen. Apropos, du siehst nicht gerade sehr erholt aus. Hat sich der frühe Anruf, auf den du gewartet hast, ausgezahlt?»

«Das hat er», sagte Gerber, während er sich in den Sessel sinken ließ. «Wir konnten Eva befreien.»

«Ich gratuliere! Wie geht es ihr?»

«Sie muss sich noch erholen, ist nicht ganz bei sich, steht wohl unter der Einwirkung von Pentothal oder Scopolamin.»

Anderson öffnete eine Schublade und nahm eine Zigarre aus einem Kasten, die er mit einem Streichholz entzündete. «Du auch?»

«Danke, Sir, ich bleib bei der Camel.»

Während Gerber sich eine Zigarette anzündete, fragte Anderson: «Wo war deine Freundin?»

«Mitten in Frankfurt. Genauer gesagt, unter der Stadt, in einem Bunker in F1.»

Um ein Haar wäre dem General die Zigarre aus der Hand gefallen. Ungläubig starrte er Gerber an. «Sag das noch mal!»

«Sie haben sich nicht verhört, Sir. Jemand geht – oder ging – mit einer Selbstverständlichkeit in F1 ein und aus, als wäre es sein Zuhause. Wenn man es recht bedenkt, ist es ein geniales Versteck. Ein Hochsicherheitskomplex, zu dem niemand Zutritt hat.»

«Hat er allein gehandelt?»

«Nein, ich gehe von mehreren aus. Einer wurde erschossen, als wir Eva befreiten. Er muss aber Komplizen haben, nur so sind die weiteren Ereignisse des heutigen Tages zu erklären.»

Gerber berichtete, was sich in Rödelheim und an der Kriegkstraße ereignet hatte, nur unterbrochen von Brodie, der einen wirklich starken Kaffee servierte. Genau das, was Gerber jetzt brauchte.

«Also fokussieren sich deine Ermittlungen auf Rebeccas verschwundenen Mercedes», sagte Anderson. «Ein hübscher Wagen, aber warum ist er so wichtig?»

«Das wissen wir wohl erst, wenn wir ihn gefunden haben. Ich hoffe auf eine Spur zu den verschwundenen Dokumenten.»

Der General schüttelte bedächtig den Kopf. «Rebecca scheint sich da auf ein Spiel eingelassen zu haben, das ein paar Nummern zu groß für sie war. Sie hat den Preis dafür bezahlt, und ich bedaure das. Ich mochte sie wirklich. Gleichzeitig bin ich froh, dass es nicht länger mein Spiel ist.»

«Wie darf ich das verstehen, Sir?»

Anderson zeigte mit der glimmenden Zigarrenspitze auf seinen Schreibtisch. «Ich werde meinen Abschied einreichen. Im Augenblick sitze ich daran, ihn zu formulieren.»

«Aber der Soldat liegt Ihnen im Blut», sagte Gerber überrascht.

«Wenn die Menschheit sich zu einem neuen Weltkrieg entschließt, werde ich nur in der Zeitung davon lesen. Ich habe noch eine andere Verpflichtung, und ich habe beschlossen, ihr den Rest meines Daseins zu widmen.»

«Sie sprechen von June.»

«Deine rasche Auffassungsgabe habe ich schon immer geschätzt, Phil. Meine Frau und mein Sohn sind schon lange tot. Ich werde dafür sorgen, dass meine Tochter ein gutes Leben hat. Und das fängt damit an, dass sie sich nicht länger hier in Deutschland um ihren Vater sorgen muss. In Kürze fliege ich mit ihr zurück in die Staaten.»

«Warum schreibt sie ihrem Verlobten dann noch einen Brief?»

«June weiß es noch nicht. Ihre Gedanken sollen sich ruhig mit Bartlett befassen. Das ist doch sinnvoller, als wenn sie an dich denkt, oder?»

«Sie haben recht, Sir.» Gerber trank einen Schluck Kaffee und überdachte das, was Anderson ihm eben eröffnet hatte. «Sie wirken überraschend aufgeräumt. Belastet es Sie nicht, Ihre Uniform in den Schrank zu hängen, nach so vielen Jahren?»

«Im Gegenteil, Phil. Seitdem ich diese Entscheidung getroffen habe, geht es mir wieder besser. In den letzten Tagen habe ich mich wie ein Schiff gefühlt, das vom Kurs abgeraten ist. Wie ein von unsichtbaren Mächten Getriebener. Ein Mann, der nicht weiß, wohin sein Weg führt, der ist nichts wert. Eine Erfahrung, die du vor einigen Jahren, als du vom CIC weggegangen bist, auch gemacht hast, wie ich annehme.»

Gerber verdrängte die aufkeimenden Gedanken an die Zeit, als er dem CIC und damit auch Anderson den Rücken gekehrt hatte. Er hatte jetzt genug andere Dinge im Kopf.

«Was ist mit Ihrer derzeitigen Funktion, Sir?»

«Die verschwundenen Papiere haben meine Position als Vermittler zwischen der amerikanischen und der deutschen Regierung ohnehin schwer in Mitleidenschaft gezogen. Selbst wenn du die Papiere noch findest, der Schaden ist angerichtet. Wenn beide Seiten darauf drängen, dass ich diese Rolle weiter ausfülle, werde ich es selbstverständlich tun, solange es gewünscht wird. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass Washington mich lieber heute als morgen abberuft. Der offiziell unausgesprochene Mordverdacht macht das Ganze nur wahrscheinlicher. Mit meiner Bitte um den Abschied aus der Armee erleichtere ich Ike und meinem Freund Webster die Entscheidung. Und ich sorge dafür, dass sie nicht ebenfalls in die Schusslinie geraten.»

Gerber blickte auf das große Gemälde über dem Kamin. General George Washingtons Überquerung des teilweise vereisten Flusses Delaware am 26. Dezember 1776. Die Heldentat eines Mannes, der alles für sein Land wagte, vielleicht aber ebenso ein Akt der Verzweiflung. Irgendwo dazwischen mochte auch Andersons Entschluss liegen.

«Ich nehme an, Sie werden Ihr Abschiedsgesuch mit persönlichen Motiven begründen.»

«Natürlich.»

«Wenn ich das sagen darf, Sir, ich bin über Ihre Entscheidung weniger glücklich als Sie selbst.»

«Wirklich? Das hätte ich nicht gedacht. Ich hatte in den letzten Jahren den Eindruck, dass du meine Gesellschaft eher erduldest.»

«Ich spreche von meiner Aufgabe hier. Welchen Sinn ergibt meine Anwesenheit in Frankfurt noch, wenn Sie ohnehin die Brocken hinwerfen?»

«Wie ich schon sagte, vielleicht beschließen beide Seiten, mich in meiner Vermittlerrolle zu belassen. Du könntest die Chancen dafür erhöhen. Außerdem bist du doch mit Leib und Seele Polizist und möchtest den Fall gern aufklären. Nicht wahr, Phil?»

«Da ist was dran.» Gerber drückte seine Camel aus und zog ein Blatt mit der Phantomzeichnung aus einer Tasche seines Jacketts. «Ich möchte auf jeden Fall die Leute finden, die Eva entführt haben. Das hier ist möglicherweise der Anführer.»

Anderson betrachtete die Zeichnung ungewöhnlich lange. Dann stieß er einen Fluch aus, wie man ihn nur in der Armee aufschnappen konnte.

«Sie kennen den Mann, Sir?»

«Und ob. Ich bin ihm sogar persönlich begegnet. Vor vier Jahren, kurz nachdem du Frankfurt verlassen hast. Und jetzt verstehe ich auch, wieso diese Burschen in F1 ein und aus spaziert sind wie auf ihrem Hinterhof.»

«Ich bin gespannt.»

«Als der Komplex gebaut wurde, warst du unser Verbindungsmann im Sicherheitsstab der Bauleitung. Weil du dich entschieden hattest, beim BKA zu bleiben, mussten wir den Posten neu besetzen. Josh Blakeley wurde dein Nachfolger.»

«Ja, und?»

«Ich habe Blakeley zur ersten Sitzung des Sicherheitsstabes begleitet, um ihn dort einzuführen. Dabei stellte sich heraus, dass auch die CIA ihren Verbindungsmann ausgewechselt hatte, fast zeitgleich also. Frag mich nicht, warum. Ich glaube, der bisherige CIA -Mann dort wurde aus irgendwelchen Gründen nach Marseille versetzt.»

«Das kann gut sein», sagte Gerber, der in seiner Erinnerung kramte. «Er hieß Garfield Johnson und war mit einer Französin verheiratet.»

«Jedenfalls habe ich seinen Nachfolger auf der besagten Sitzung kennengelernt», fuhr Anderson fort und tippte auf die Zeichnung. «Ich will verdammt sein, wenn es nicht dieser Mann war. Er kennt F1 vermutlich besser als du, weil er das Bauprojekt in seiner finalen Phase betreut hat.»

«CIA ?» Gerber betonte jeden einzelnen Buchstaben.

«Tja, sieht so aus, als hätten wir es mit einem Gegner in den eigenen Reihen zu tun. Jedenfalls erklärt es, warum diese Leute die Einrichtungen von F1 für ihre Zwecke nutzen.»

«Was gegen jede Regel ist.»

Anderson lachte auf. «Aber, Phil, seit wann hält sich die CIA an Regeln?»

Die Central Intelligence Agency, der zivile Auslandsgeheimdienst der USA , hatte sich nach dem Krieg immer mehr zu einem erbitterten Rivalen des Militärgeheimdienstes CIC , des Counter Intelligence Corps, entwickelt. Oft griffen die CIA -Agenten zu Methoden, die selbst die abgebrühtesten Männer beim CIC schlucken ließen. Jedenfalls hatte die Rivalität zwischen beiden Diensten schon mehrmals dazu geführt, dass sie gegeneinander statt miteinander gearbeitet hatten. Oder wie es ein hoher CIC -Offizier einmal gegenüber seinen Leuten formuliert hatte: «Traut den Roten keine Sekunde vom Aufwachen bis zum Schlafengehen, aber vor der CIA hütet ihr euch besser auch im Schlaf!»

Dieser Offizier war Hiram C. Anderson gewesen. Er hatte sich sogar geweigert, Büros in dem gewaltigen Gebäudekomplex der I. G. Farben zu beziehen, der nach dem Krieg den Amerikanern als Frankfurter Verwaltungszentrum gedient hatte, weil dort auch die CIA saß. «Ich will es den Jungs aus Langley nicht zu einfach machen, uns in die Karten zu sehen», hatte Anderson damals gesagt.

«Ich glaube, die sind dem CIC über», sagte Gerber. «Nisten sich einfach in F1 ein, das doch nur für Katastrophenfälle gedacht ist.»

«Gerade deshalb durften sie sich dort sicher fühlen», sagte Anderson und zog nachdenklich an seiner Zigarre, wie um seinen Gedanken nachzuhängen. Bis er sich zu Gerber vorbeugte und fragte: «Euer Phantom soll weißes Haar haben?»

«Ja.»

«Dann ist er es!»

«Wie heißt er?», frage Gerber, innerlich angespannt.

«Carleton Beevis.»

Wenn es der Mann aus Gerbers Vergangenheit war, hatte er ihn unter einem anderen Namen gekannt. Aber das hatte nichts zu sagen, schon gar nicht bei der CIA .

«Was wissen Sie noch über ihn, Sir?»

«Moment.» Anderson ging zum Telefontisch und wählte eine Nummer. «Snyder, ich brauche die Akte Beevis, Carleton, CIA . Ja, sofort. Per Eilkurier.»