// Kapitel 31 //

Gitta Kress schaltete das Licht im Flur an und betrachtete sich in dem großen ovalen Wandspiegel. Der Himmel über Sachsenhausen war grau, und selbst im Schlafzimmer war es dunkler als sonst. Wahrscheinlich sollte sie dort auch das Licht einschalten, wenn ihr nächster Kunde kam. Herr Meineke sah sich gern genau an, wofür er bezahlte. Er war Direktor einer nahe gelegenen Bankfiliale, bei der sie Kundin war. So hatten sie sich kennengelernt. Man musste sein Geld gut anlegen, das hatte sie sich bei der Rosie abgeguckt. Dazu zählte für Gitta ein guter Kontakt zum Bankdirektor. Außerdem zahlte er gut. Jeden Montag verbrachte er seine ausgedehnte Mittagspause bei ihr. Erholung vom Wochenende mit der Familie nannte er das. Sie liebte Stammkunden wie ihn. Da lief man nicht Gefahr, sich den Schrullen irgendeines dahergelaufenen Spinners auszusetzen, der womöglich noch gewalttätig wurde.

Die Rosie war da nicht so wählerisch gewesen, hatte für einen schnellen Fuffziger auch mal einen Wildfremden rangelassen, der ihr zufällig über den Weg gelaufen war. Besonders gern, wenn er jung, gut gebaut und schwarzhaarig war. Das war wohl ihr Verhängnis gewesen, vermutete Gitta. Vielleicht waren einem dieser jungen Burschen schon fünfzig Mark zu viel gewesen, oder einer stand auf Gewalt und war zu weit gegangen. Da blieb sie lieber bei Bruno Meineke. Der gab ihr zwar gern mal einen Klaps auf den Popo oder auch zwei, aber niemals besonders hart. Es reichte ihm, wenn sie sich dabei wand und ein bisschen quiekte: «Nicht doch, Herr Direktor!»

Sämtliche vier Lampenschirme warfen ihr Licht auf Gitta, als sie sich vor dem Spiegel streckte. Was sie sah, gefiel ihr und würde ganz bestimmt auch Direktor Meineke gefallen. Das blonde Haar fiel in Wellen auf ihre Schultern und lenkte zusammen mit dem dick aufgetragenen Make-up davon ab, dass ihr Gesicht, wäre es ungeschminkt gewesen, etwas grob gewirkt hätte. Aber für so etwas wurde schließlich die Schminke erfunden. Der petrolfarbene Seiden-BH kontrastierte gut mit dem Weinrot ihrer Lippen und ihrer Fingernägel, und die schwarzen Spitzen am Büstenhalter ließen ein wenig von ihren Brüsten erahnen. Gerade genug, um den Appetit anzuregen. Ihre Brüste waren groß und schwer, aber dank des BH s blieben sie in Form. Die Miederhose passte zum BH , und die langen, gut geformten Beine steckten in schwarzen Seidenstrümpfen, die mit petrolfarbenen Strumpfhaltern an der Miederhose befestigt waren. Auch ihre hochhackigen, vorn spitz zulaufenden Pumps waren in Petrol gehalten. Sie drehte sich langsam um sich selbst und behielt ihr Ebenbild im Spiegel dabei stets im Auge. Aber ja, das würde ihrem Bankdirektor ganz bestimmt gefallen!

Unten von der Straße hörte sie eine Autotür zuschlagen. War er das schon? Unwillkürlich dachte sie an Rosies Mercedes, und die Gewissensbisse stiegen wieder in ihr hoch. Warum eigentlich, die Rosie konnte mit ihrem schwarzen Flitzer nichts mehr anfangen. Gitta musste nur etwas warten, und sie musste sich irgendwie neue Nummernschilder besorgen. Es klingelte, und sie drückte auf den Türöffner. Eine Gegensprechanlage wie in dem Haus, in dem die Rosie gewohnt hatte, gab es hier nicht. Das hatte ihr auch nicht geholfen, und Gitta wusste, wen sie erwartete.

Sie öffnete die oberste Schublade der kleinen Flurkommode und warf einen schnellen Blick auf das Foto von Erika, bevor sie die Lade wieder zuschob. Ihre Tochter war sechs und würde bald eingeschult werden. Für sie tat Gitta das alles, sagte sie sich. Damit sie beide einmal ein gutes Leben haben würden. Erika lebte bei Gittas Eltern in einem kleinen Ort an der Lahn, und Gitta hielt man dort für ein gefragtes Mannequin im mondänen Frankfurt. Auch diese Berufsbezeichnung hatte sich Gitta bei der Rosie abgeschaut. Das Foto der kleinen Erika in dem silberglänzenden Rahmen stand eigentlich auf der Kommode, aber wenn Gitta arbeitete, legte sie es in die Schublade.

Die Klingel schrillte. Gitta sah noch einmal in den Spiegel und befeuchtete ihre Lippen, dann öffnete sie die Tür.

Sie hatte die Tür noch nicht ganz aufgezogen, da flog das schwere Holz schon mit Gewalt gegen ihren Kopf. Sie taumelte rückwärts, verlor auf den hohen Absätzen das Gleichgewicht und fiel zu Boden.

Der dünne Läufer auf dem Flur hatte Gittas Sturz kaum abgebremst, und Schmerzen im linken Arm, auf den sie gefallen war, gesellten sich zu denen in ihrem Kopf. Überrascht und benommen sah sie zur Tür, durch die drei Männer, in Mänteln und mit Hüten, hereindrängten. Keiner von ihnen war ihr Bankdirektor. Sie schauten ins Schlaf- und ins Wohnzimmer, in die Küche und ins Bad. Sie unterhielten sich dabei auf Englisch, und Gitta verstand sie nicht.

--

«Wir sollten die Nutte gleich hier verhören, dann geht es schneller», sagte Mace.

«Schwachsinn!», fuhr Carl ihn an. «Die Polizei kann jeden Moment hier sein. Außerdem sieht sie aus, als warte sie auf einen Kunden. Wir arbeiten nach Plan. Einsacken und mitnehmen!»

«Das freut Barry bestimmt.» Mace grinste den Muskulösen an. «Die Kleine ist doch ein mehr als vollwertiger Ersatz für die andere, und eine Narbe hat sie auch nicht.»

«Nicht quatschen, einsacken!», raunzte Carl ihn an.

Der Weißhaarige durchsuchte rasch sämtliche Schubladen und Fächer, während die beiden anderen versuchten, die am Boden liegende Frau in zwei mitgebrachte Wäschesäcke zu stecken. Die Frau strampelte und wollte schreien, da traf sie Barrys harte Faust mitten ins Gesicht. Er knebelte sie mit einem Taschentuch, und sie banden ihre Hand- und Fußgelenke mit Stricken zusammen. Dann zogen sie einen Wäschesack von oben und einen von unten über die halbnackte Frau.

«Was gefunden?», fragte Mace, als Carl aus dem Wohnzimmer zurückkehrte.

«Nein, leider nicht. Verschwinden wir!»

Mace hob den doppelten Wäschesack an, und Barry griff ans andere Ende. Dabei stieß Mace einen leisen Fluch aus. Der Streifschuss, den er sich in der Daimler-Werkstatt eingefangen hatte, machte sich schmerzhaft bemerkbar. Carl zog die Wohnungstür hinter sich zu und folgte ihnen durchs Treppenhaus nach unten.

Kurz darauf schrillte die Türklingel.

--

Bruno Meineke stieg aus dem Mercedes-Benz 190 D und überlegte kurz, den Stockschirm in seiner Rechten aufzuspannen. Aber das Mietshaus, in dem Gitta Kress wohnte, lag nur wenige Schritte entfernt auf der anderen Straßenseite. Es lohnte trotz des Regens nicht einmal, den Mantel zu schließen. Er zog den Homburger etwas tiefer in die Stirn und überquerte voller Vorfreude die Straße. Dabei malte er sich aus, in welchem aufreizenden Aufzug Gitta ihn heute empfangen mochte, und jeder seiner Gedanken verbreiterte das Lächeln auf seinem Gesicht. Wer auf den Montag schimpfte, war ein Trottel. Für ihn war es der schönste Tag der Woche.

Das Haus war einer von mehreren unscheinbaren Neubauten in der Hedderichstraße, Wohnraumersatz für die im Krieg zerstörten Häuser, und hinter einem der Fenster im zweiten Stock lag das Schlafzimmer, in dem er gleich eine wundervolle Stunde verleben würde. Er drückte auf die Klingel mit dem Schild «G. Kress» und wartete. Als er erneut klingelte, hob er den Stockschirm mit seiner behandschuhten Rechten und überlegte, ob ein paar Schläge mit dem Schirm auf Gittas rundes Hinterteil eine angemessene Strafe für das Warten waren.

Die Haustür wurde aufgerissen, und zwei Männer, die einen großen Sack trugen, drängten sich an ihm vorbei. So unwirsch, dass er beim Ausweichen in eine Pfütze trat. Wasser bespritzte seine maßgeschneiderte Hose.

Drohend hob er den Schirm und beschimpfte die beiden, die mit ihrer Fracht zu einem grünen VW -Bulli gingen, dem Lieferwagen einer Wäscherei. Sie kümmerten sich gar nicht um ihn. Seltsamerweise schien sich der Sack, den sie auf die Ladefläche des Bullis schoben, zu bewegen.

«Ich werde mich bei Ihrem Geschäftsführer beschweren», rief Meineke ihnen hinterher, «und die Reinigungskosten von ihm verlangen!»

«Abgelehnt», sagte eine harte Stimme dicht neben ihm. Jemand riss ihm den Stockschirm aus der Hand und schlug ihm mit dem Griff aus Eichenholz auf den Kopf. Er landete der Länge nach in der Pfütze, mit seinem teuren Mantel, den er sich in London hatte anfertigen lassen. Der Unbekannte ließ den Schirm fallen und ging mit schnellen Schritten zu dem Bulli. Kaum war er eingestiegen, da setzte sich der Lieferwagen auch schon in Bewegung.

Meineke stieß einen Fluch aus, den er sich in Gesellschaft nie erlaubt hätte, und wollte aufstehen, aber Schwindel ergriff ihn, und er sackte zurück in die Pfütze.

--

Auf der Obermainbrücke hatte sich der Verkehr aus unerfindlichen Gründen gestaut, und Gerber hatte nichts anderes tun können, als zu warten, bis es endlich weiterging. Auf der Südseite des Mains fuhr er, so schnell er konnte, aber in der Hedderichstraße angekommen, ahnte er schon, dass er zu spät war. Vor dem Haus mit der Nummer 12 kniete ein Mann in einem beigen Mantel, einen verrutschten Homburger auf dem Kopf, und fasste sich mit verzerrtem Gesicht an die Stirn. Das ungute Gefühl, das ihn den ganzen Weg über begleitet hatte, verstärkte sich noch.

Vergeblich hielt Gerber nach Warnkes Borgward oder nach Polizeifahrzeugen Ausschau. Offenbar war er der Erste vor Ort.

Er stieg aus und half dem Mann beim Aufstehen.

«Danke», keuchte der und schob mit vor Wut bebenden Lippen hinterher: «Diese Lumpen mache ich fertig. Ich zeige sie an, ich verklage sie. Die Wäscherei wird in ganz Frankfurt keinen Auftrag mehr erhalten!»

«Was ist passiert?», fragte Gerber. «Ist Gitta Kress etwas zugestoßen?»

«Gitta? Nein, wieso? Ach so, sie hat gar nicht geöffnet.» Er überlegte kurz. «Ich meine, ich wollte sagen, ich kenne sie gar nicht.»

«Natürlich nicht.» Gerber hielt ihm seine Dienstmarke unter die Nase. «Noch einmal: Was ist passiert?»

«Zwei Männer haben mich fast über den Haufen gerannt, und ein dritter hat mich mit meinem eigenen Schirm niedergeschlagen.» Der Mann blickte auf den Regenschirm, der auf dem Gehweg lag. «Dann sind alle drei weg, mit dem Lieferwagen einer Wäscherei. Bei welcher Bank die Firma auch ist, einen Kredit bekommt die nicht mehr!»

Gerber drückte auf die Klingel mit der Aufschrift «G. Kress», wieder und wieder, ohne Reaktion. Ein Streifenwagen traf mit Blaulicht und Sirene ein, und Gerber zückte abermals seine Dienstmarke.

«Ich fürchte, Gitta Kress wurde entführt», erklärte er den Beamten.

Der Mann im nassen Mantel räusperte sich. «Die beiden Männer, die mich fast umgerannt haben, trugen einen großen Wäschesack zu ihrem Wagen. Es … es sah fast so aus, als würde sich etwas in dem Sack bewegen.»

«Wissen Sie das Kennzeichen des Wagens?», fragte Gerber.

«Nein, aber es war ein grüner VW -Bulli. Und die Firma habe ich mir gemerkt. Wäscherei Schubert.»

Gerber blickte wieder die beiden Streifenpolizisten an. «Kennen Sie diese Firma?»

«Nie gehört», antwortete der eine.

«Ich auch nicht», sagte sein Kollege.

«Ein Mann kümmert sich um den Zeugen, einer kommt mit mir», sagte Gerber und drückte auf sämtliche Klingelknöpfe, bis ihm geöffnet wurde. Er stürmte, gefolgt von einem der Uniformierten, die Treppe hoch.

Im ersten Stock trat eine ältere Frau aus der Tür. «Haben Sie geklingelt?»

«Wir müssen zu Gitta Kress.»

Die Frau verzog das verhärmte Gesicht. «Zu der müssen viele.»

«Wo wohnt sie?»

«Einen Stock drüber», sagte die Frau schmallippig.

Sie warfen sich abwechselnd mit der Schulter gegen die Wohnungstür, und beim dritten Versuch Gerbers sprang sie auf. Niemand war zu Hause. Der Läufer auf dem Flur war verrutscht, sämtliche Schubladen waren aufgerissen, alle Schranktüren standen offen.

«Keine fünf Minuten zu spät», seufzte Gerber. «Keine fünf Minuten.»

Als sie wieder hinunter auf die Straße gingen, waren weitere Streifenwagen eingetroffen, und Harald Warnke stieg gerade aus seinem Borgward.

«Wir sind zu spät gekommen, Harry», sagte Gerber zu ihm. «Die Kerle haben uns Gitta Kress vor der Nase weggeschnappt.»

Warnke ballte die Rechte. «Es ist wie verhext, sie sind uns immer einen Schritt voraus.»

Der Polizist, der bei dem Mann im beigen Mantel geblieben war, trat zu ihnen. «Ich habe die Fahndung nach dem Lieferwagen veranlasst. Eine Wäscherei Schubert ist im Großraum Frankfurt nicht bekannt. Der Herr dort ist übrigens Bankdirektor Meineke, Vorname Bruno. Auf Nachfrage hat er bestätigt, die Entführte regelmäßig am Montagmittag aufgesucht zu haben.»

«Sonntags der Werkstattleiter, montags der Bankdirektor», brumme Warnke. «Die Tage und die Damen wechseln, aber nicht die Hobbys.»

Meineke hatte das gehört und trat erbost auf sie zu. «Das lasse ich mir nicht bieten. Mein Privatleben geht niemanden etwas an, auch die Polizei nicht!»

«Nach diesem Vorfall ist es nicht länger privat», sagte Gerber. «Begreifen Sie eigentlich, dass Sie Zeuge einer Entführung geworden sind? Seien Sie froh, wenn wir Ihren Namen aus der Presse raushalten. Können Sie die Männer beschreiben, die Gitta Kress entführt haben?»

«Es waren halt … Männer. Sie trugen Mäntel und Hüte, was bei dem Wetter kein Wunder ist.»

Gerber blickte die Straße entlang, die mit den schlichten Neubauten auf der einen und dem unbebauten Gelände gegenüber keine Augenweide war. Das schlechte Wetter ließ sie noch grauer und eintöniger wirken, passend zu seiner Stimmung. Wie es aussah, hatte er Curt Hansen knapp verpasst. Frankfurt erschien ihm als ein Dschungel aus Stein, Beton und Asphalt, durch den das Raubtier Hansen streifte und immer neue Opfer fand. Es war an der Zeit, dieses Raubtier endlich zu stellen.

«Wir sollten die Wohnung von Gitta Kress gründlich durchsuchen», sagte Warnke. «Mit etwas Glück finden wir einen Hinweis auf den Wagen der Nitribitt.»

«Ja, übernimm das mit deinen Männern», erwiderte Gerber. «Ich fahre zum Osthafen.»

«Warum?»

«Weil wir Saalfelds Leiche in der Nähe gefunden haben, und nach Aussage von Dr. Vollmer hat sie nicht lange im Wasser gelegen.»

«Meinst du, die Entführer haben ihr Versteck am Hafen? Selbst wenn es so ist, das Gelände ist riesig. Wie willst du sie aufspüren?»

«Keine Ahnung, aber ich muss es versuchen», sagte Gerber und ging zu seinem Wagen.