14. Ein Geheimnis
(Kasabian – Thick As Thieves)
Donovan
Ich habe meinen Einstand in Chicago gebührend gefeiert. Ich bin verdammt nochmal geflogen und nun komme ich langsam wieder runter.
Langsam lande ich wieder auf dem Boden der Tatsachen. Langsam lässt die Lust nach, die stundenlang konstant durch meine Venen gerauscht ist, und macht der Müdigkeit Platz, die sich nun in mir ausbreitet. Aus brennenden Augen betrachte ich das Schlachtfeld, das wir in dem verrauchten, nach Sex stinkendem Zimmer hinterlassen haben.
Wieso liegen eigentlich alle Kissen auf dem Boden? Haben die uns auf dem Bett gestört?
Ilaria Bianchi liegt totgevögelt in Marcellos Bett und schläft, ist ohnmächtig, oder tot – man weiß es nicht. Die letzte Runde war sie kaum noch bei sich. Sie hatte unzählige Orgasmen und war am Ende nur noch ein wimmerndes, heißes Häufchen Elend. Sie hat sich wacker geschlagen, das muss ich ihr lassen. Nicht jede Frau hätte uns überstanden. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, wieso Marcello schon so lange etwas mit ihr hat und sie in seinem Bett schlafen lässt, denn das darf normalerweise niemand. Niemand außer Sarah.
Marcello kommt gerade vom Balkon zurück und lässt die Tür offen stehen. Über Nacht haben die Temperaturen sich etwas abgekühlt und die frische Luft strömt ins Zimmer. Sie klärt meinen Kopf und meine Sicht. Minimal.
Ich überschaue meinen Großcousin, während er sich auf den Sessel mir gegenüber sinken lässt. Sein extrem trainierter, tätowierter Oberkörper ist genauso nackt wie meiner, denn nach wie vor tragen wir nur Jeans. Marcello ist größer und breiter als die meisten Typen, die ich so kenne. Unter den vielen Tätowierungen gefallen mir ein paar besonders. Zum Beispiel das Abbild der heiligen Mutter Maria, geschmückt mit einem Rosenkranz, das sich auf seiner linken Brust befindet.
Außerdem die drei geschwungenen Zeilen auf seinem Oberarm.
With heart, body and soul. Sempre. La famiglia .
Ich habe ihn schon mal gefragt, was diese Worte bedeuten. Er meinte nur, er stünde auf Mafiazeug und alles, was damit zu tun habe.
Auf seinen Fingerknöcheln sind außerdem die Symbole von Spielkarten eintätowiert. Bube, Ass, König, Dame. Über dem Ass blitzt sein goldener Siegelring. All diese Tätowierungen wurden von Aris, der ein ausnehmend künstlerisches Talent besitzt, vorgezeichnet und von seinem älteren Bruder Enzo gestochen. Zumindest, bevor dieser weggesperrt wurde. Was er getan haben soll, hat mich ehrlich geschockt und ich konnte es nicht glauben, bis Ramon das erste Mal nur mit Aris und Ariana nach Lugano kam. Es war ein trauriger Tag und Ramon so fertig und kaputt, wie ich ihn noch nie gesehen habe.
Marcello beugt sich vor und greift nach der halb leeren Coladose, aus der er den Rest trinkt. Dabei fallen ihm ein paar dunkelbraune Strähnen in die noch verschwitzte Stirn.
»Bewerte die letzten Stunden auf einer Skala von eins bis zehn«, fordert er mich auf und lehnt sich wieder zurück.
»Blasen: Zehn«, erwidere ich sofort, während ich meinen Blick sinnierend über Ilarias schlafenden Körper wandern lasse. Die dunkle Bettdecke liegt über ihrem Steißbein und das schwarze Haar ist chaotisch um ihren Kopf herum ausgebreitet.
»Körper: Zehn.«
»Hm«, macht Marcello nachdenklich und streicht sich über das Kinn.
»Pussy: Zehn. Arsch: Zehn. Ausdauer: Neun, weil sie bei der letzten Runde ohnmächtig wurde. Aber bis dahin hat sie sich gut gehalten.«
Wieder einmal zieht eine Bildabfolge der letzten Stunden an meinem inneren Auge vorbei. Wie ich mich in Ilarias Pussy schiebe und Marcello sich in ihren Arsch, wie er ihre Brust packt und ich ihr die Luft abdrücke. Wie sie stöhnt, wie sie an den Haaren hochgerissen wird, wie Marcello auf ihren Titten kommt, wie ich sie fingere, ohne dass sie kommen darf, und er sie dabei festhält. Wie ich in ihren Mund stoße, und Marcello ihr den Arm auf dem Rücken verdreht. Wie sie keucht, stöhnt, wimmert, fleht und wie der Schweiß über unsere Körper rinnt und sich vermischt.
»Ja, an ihrer Ausdauer müssen wir noch ein bisschen arbeiten«, überlegt Marcello heiser, als wäre sie sein kleiner Zen-Schüler und er der Kung-Fu-Meister.
»Ach, das wirst du sicher hinbekommen.« Ich habe genau bemerkt, dass Marcello Ilaria abgerichtet hat. Dass sie auf jede seiner Bewegungen und Launen sofort reagiert hat. Wie sehr sie darauf fixiert ist, es ihm recht und bloß keine Fehler zu machen.
»Ich werde sie schlafen lassen«, beschließt Marcello. »Dann muss sie später ihrem Daddy erklären, wo sie die ganze Nacht war.« Zufriedenheit breitet sich in seinen dunkelblauen Augen aus.
»Wie teuflisch«, meine ich anerkennend und rutsche tiefer in den Sitz. Mein Opa wird durchdrehen. Buhu.
»Sie verplappert sich besser nicht.« Auch Marcello macht es sich bequemer.
»Sonst musst du sie natürlich bestrafen«, vollende ich wissend.
»Richtig.« Er lässt den kleinen Schluck, welcher noch in der Dose übrig zu sein scheint, hin und her schwenken. »Ich muss in einer Stunde mit Dad los, aber danach unternehmen wir auf jeden Fall was.«
Marcello arbeitet im Familiengeschäft und unterstützt seinen Vater. Er ist viel tiefer in alles involviert als ich. Apropos Familiengeschäft!
»Hey, kommt dir dein Vater eigentlich manchmal komisch vor?«, erkundige ich mich.
»Mein Vater?« Marcello schnaubt und streckt seine Füße auf den Tisch.
»Ja, abgesehen von dem normal komischen Verhalten deines Vaters.«
Marcello hebt einen Mundwinkel. Er kann behaupten, was er will, ich weiß genau, wie sehr er seinen Vater liebt. Es ist wie bei meinem Dad und mir. Marcello und ich sind beide absolute Papasöhnchen und unsere Väter gehören uns. Basta.
»Worauf willst du hinaus?«
»Ich frage mich, ob unsere Väter vielleicht in etwas Kriminelles verstrickt sind«, erkläre ich. Marcello tarnt ein Lachen mit einem Husten, was mir genau auffällt. Ich hebe meine Brauen, denn ich weiß wirklich nicht, was hier so lustig ist.
»Was?«, erkundige ich mich gereizt.
»Ich weiß nicht …« Er seufzt schwer. »Es ist alles etwas kompliziert. Aber ich darf mit dir nicht darüber sprechen. Darauf steht die Todesstrafe. Du verstehst?«
»Also ist da wirklich etwas?«
Marcello sieht mich nur schweigend an, was Antwort genug ist. Ich habe also tatsächlich recht und irgendwas stimmt ganz und gar nicht. Jetzt muss ich es herausfinden, mit allen Mitteln.
»Wenn ich etwas suchen würde, wo sollte ich anfangen?«, frage ich geradeheraus und Marcello lächelt leicht.
»Auf jeden Fall drüben im Haus deines Opas.«
»Gut.« Das habe ich mir schon gedacht, denn ich habe regelmäßig einige verrückte Träume, die sich in genau diesem Haus abspielen. Vor allem diesen einen, in dem ich mit meiner Mutter und meinem Bruder auf dem Dachboden sitze und mein Vater vor meinen Augen stirbt. Ich werde dort beginnen.
Die Müdigkeit gräbt sich immer tiefer in meine Knochen und mein Hirn, weswegen ich gähne.
»Ich gehe bei Gelegenheit rüber. Aber erst mal muss ich es in mein Zimmer schaffen.«
»Den Gang runter, das zweite gegenüber«, erklärt Marcello, ohne den Blick von mir zu nehmen, und stützt seine Schläfe auf die Faust.
»Ich hoffe, ich lande nicht bei Vito und kuschle mich an seinen Arsch«, murmle ich und strecke mich, während Marcello in sich hineinlacht. Niemand außer Sophia will sich an Vitos Arsch kuscheln. Wirklich nicht. Denn das würde sehr, sehr böse enden.
Etwas schwerfällig erhebe ich mich und kurz verschwimmt alles vor meinen Augen. Jetlag plus Kokain, plus Sexmarathon, plus wenig Schlaf – keine gute Mischung.
Ich angle nach meinem Shirt, das noch auf dem Boden liegt und streife es mir falsch herum über den Kopf. Scheißegal. »Wir sehen uns dann in ein paar Stunden.«
Knapp salutiert Marcello, bevor er nach seinem Handy greift. Ich wende mich ab und ziehe die Zimmertür leise auf. Es ist still im Haus, die Sonne ist noch nicht ganz aufgegangen und der Wahnsinn hat noch nicht begonnen. Das ist sehr gut, so bekommt wenigstens niemand mit, dass ich mich um diese Uhrzeit aus Marcellos Zimmer stehle.
Ich visiere die zweite Tür an und überquere den Flur, ehe ich sie leise öffne. Mit einem kleinen Rundumblick bemerke ich erleichtert, dass sich hier niemand befindet, und schlüpfe in den Raum. Meine zwei Koffer stehen neben dem hohen weißen Bett, aber ich ignoriere sie erst mal. Obwohl ich so müde bin, dass alles vor meinen Augen verschwimmt, ziehe ich noch die dunklen Vorhänge zu, bevor ich mich auf das weiche Bett schmeiße.
Mir entkommt ein behagliches Seufzen und ich sinke immer tiefer in die Matratze.
Ich werde später duschen, mich umziehen und die Koffer auspacken. Jetzt werde ich schlafen und hoffen, dass die Albträume nicht wiederkommen, denn meine Mutter sagt immer, was man in der ersten Nacht an einem fremden Ort träumt, wird auch wahr. Und dass meine Träume in Erfüllung gehen, will ich nun wirklich nicht.
Wirklich, wirklich nicht. So gar nicht. Ich…