50. Sturm
(The White Stripes – The Hardest Button To Button)
Salvatore
»Zwei Geschwister. Ein Mädchen, ein Junge«, erzähle ich meinem Vater über das Handy, das ich mir ans Ohr halte.
Leise schlage ich die Autotür dabei hinter mir zu. Der Kiesboden knirscht unter meinen Füßen, den ich nun überquere, während ich unser Haus ansteuere.
»Wie alt sind sie?«, erkundigt sich Dad und klingt gar nicht so entspannt, wie man es beim Wellness doch eigentlich sein sollte. Wahrscheinlich sitzt er ununterbrochen an seinem Laptop und meine Mutter lässt sich massieren. Ich frage mich, wann sie es bereuen wird, ihn dazu überredet zu haben. Mittlerweile sind sie schon zehn Stunden fort.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, steige ich die Verandatreppe hinauf. »Sie sagte, ihr Bruder wird gerade eingelernt. Also schätze ich, dass er zwischen siebzehn und achtzehn Jahre ist.«
Flüchtig nicke ich Stefano zu, der Wache an der Tür hält, und schiebe mich dann ins kühle Innere des Hauses. Obwohl der Abend angebrochen ist, ist es immer noch ziemlich warm. Nach meinem kleinen Treffen mit Clara war ich noch im Ostviertel. Dort habe ich Jakob, dem Juwelier, den Clara vor Kurzem aufgesucht hatte, einen Besuch abgestattet. Als ich ihn auf Clara Solja ansprach, wusste er angeblich von nichts. Als ich sie ihm beschrieben habe, tat er immer noch ahnungslos. Sogar, als ich ihm meine Waffe an den Kopf gehalten habe.
Dieses kleine Törtchen hat mächtig Dreck am Stecken. Morgen werde ich Marco mal alleine zu Jakob schicken, damit er sich ein bisschen austoben kann. Was hat Clara zu verheimlichen? Wieso tun die Menschen so, als würden sie sie nicht kennen? Wieso trifft sie sich mit den Sanchez’ und erzählt mir, sie wäre alleine im Stadtpark unterwegs? Und warum schmecke ich immer noch ihre Zunge an meiner?
Das ist doch die elementarste aller Fragen.
Seufzend steige ich die mit rotem Teppich ausgelegten Stufen des Hauses hoch. Ich habe jetzt keine Lust, im Büro zu sitzen. Zur Not wird das Sergio übernehmen. Er macht ja sowieso immer alles.
»Wir werden das überprüfen«, meint mein Vater harsch, aber das prallt an mir ab.
»Ich werde Rowan darauf ansetzen, sich wegen der Soljas umzuhören.« Jetzt gilt es, herauszufinden, ob Sergej Solja, Claras Vater, noch weitere Kinder hat und ob sein Sohn wirklich in dem von Clara beschriebenen Alter ist.
»Gut. Sonst noch etwas? Außer, dass sie sich mit den Sanchez’ getroffen hat?«
»Japp, ich war im Ostviertel bei Jakob. Er kennt sie angeblich nicht, weiß von nichts, hat nichts gesehen. Ich schicke morgen Marco noch einmal hin.« Ich durchquere das Stockwerk, ehe ich den nächsten Treppenabsatz erklimme.
»Das klingt, als hätte sie etwas zu verbergen.«
»Hat sie«, bestätige ich sofort, denn das ist nach all den kuriosen Ereignissen der letzten Tage absolut klar.
»Gut, dann bleib dran.«
»Sicher.« Ich verdrehe die Augen. Was glaubt er denn? Dass ich jetzt einfach abbreche, obwohl ich endlich Erfolge erziele? Ach ja. Ich vergaß. Das denkt
er. Mein Fehler. »Das reicht jetzt. Sie dürfen gehen«, murmelt er abgelenkt. Ich glaube
, das galt nicht mir. »Sieh nach deinen Schwestern.« Das
war eindeutig an mich gerichtet.
»Schon unterwegs.« Wieder verdrehe ich die Augen. Was soll meinen Schwestern denn verdammt nochmal in meiner Abwesenheit passiert sein? Gut, ich muss mir eingestehen, dass es sein könnte, dass Marcello aus Versehen Ilaria getötet hat. Aber sonst ist doch garantiert alles prima.
»Melde dich in zwei Stunden bei mir.« Wieso ist er denn nicht einfach mal ein bisschen entspannt und genießt all die Dinge, die ein normaler Mensch beim Wellness macht? Ich weiß, was ich tun würde, wenn ich mit meiner Frau beim Wellness wäre.
Igitt.
Gott bewahre, dass meine Eltern all die Dinge tun, die ich so tue. Ja, okay. Jetzt kotze ich gleich.
»Ja, Dad«, meine ich ungeduldig und angewidert zugleich.
»Sei nicht gereizt, Salvatore«, erwidert er belustigt. Belustigt
. Ich
bin nicht belustigt. »Mir macht das hier genauso wenig Spaß wie dir. Natürlich könnte ich auch früher nach Hause kommen, wenn es gar nicht anders geht.« Das sagt er doch nur, weil er sich nutzlos fühlt, wenn er Kaviar isst und in irgendwelchen Saunen versackt. Ich werde ganz sicher nicht seine Ausrede dafür sein, dieses Wochenende abzubrechen, und damit auch noch den Zorn meiner Mutter heraufbeschwören.
»Bloß nicht«, entgegne ich sofort und durchquere nun den zweiten Stock. Scheiße, wieso gibt es hier eigentlich so viele Stufen? Was wollte Jacob de Luca damit bezwecken?
»Oh, wirklich. Dir fällt alles auf den Kopf, Salvatore …«, dreht Dad mir eiskalt die Worte im Mund um. Prompt rauscht und knarzt es in der Leitung.
Oh nein.
Es geschieht.
Mitten auf dem Treppenabsatz bleibe ich stehen und lasse den Kopf genervt nach hinten fallen. Fuck. Die Mutter.
»Salva?«, fragt Mom gereizt. Wieso sind denn alle so gereizt? Im Hintergrund höre ich meinen Vater frustriert stöhnen und kann mir vorstellen, dass auch er seinen Kopf nach hinten fallen lässt. Ich
bin auch frustriert. Er will mir wohl etwas von dem zurückgeben, was ich
ihm so antue.
»Ich brauche ihn nicht. Es geht mir super ohne euch. Halt ihn mir bloß vom Hals!«, falle ich sofort mit der Tür ins Haus und umfange das dunkle, glatte Treppengeländer, ehe ich meinen Weg fortsetze.
»Du brauchst ihn nicht. Es geht dir super ohne ihn. Ich soll ihn dir vom Hals halten. Was du nicht sagst …«, wiederholt Mom rügend.
Düsteres Gemurmel auf Italienisch folgt und ich verdrehe meine Augen schon wieder. »Wirklich, er sollte sich noch ein bisschen entspannen. Er hatte einen Herzinfarkt. Bleibt doch eine Woche weg, Mom. Ihr habt es verdient. Du hast es verdient. Entspann dich mal ein bisschen«, säusle ich.
»Ja, sehe ich auch so«, meint meine Mutter eiskalt und ich lächle dämonisch in mich hinein.
»Ja, okay, es reicht jetzt!«, donnert mein Vater, ehe die Leitung unvermittelt klackt.
»Na, Gott sei Dank«, murmle ich in mich hinein und stecke mein Handy wieder ein. Nun gilt es, die nächste Pflicht zu erfüllen: Ich muss nachschauen, ob meine Schwestern noch leben oder vielleicht abgehauen sind. Vielleicht ist Ilaria mit Marcello durchgebrannt oder Alyssa hat zu viel Nagellack inhaliert und ist ohnmächtig geworden.
Wer weiß.
Wenn ich bei ihnen fertig bin, werde ich ein Bad nehmen und Lisa, mein Hausmädchen, vögeln, nachdem sie mich massiert hat. Ich will auch ein bisschen Wellness. Außerdem ordnet es mich, zu vögeln, und ich muss jetzt dringend
meine wirren Gedanken ordnen. Später werde ich noch bei Rowan vorbeischauen und mit ihm die weitere Vorgehensweise besprechen. Danach werden wir uns betrinken und im Poolhaus ins Koma fallen.
Das nenne ich mal einen Plan.
Im dritten Stock ist es still. Ich durchquere ihn, bevor ich vor Alyssas Zimmer stocke und lausche. Dumpf höre ich den Fernseher und runzle meine Stirn. Es ist Freitagabend und die beiden liegen im Bett und sehen sich einen Film an? Während Dad nicht da ist? Das ist unüblich und ich seufze. Hoffentlich erwartet mich jetzt nicht das nächste Drama oder ein absolutes Massaker.
Obwohl ich keine Lust auf Drama habe, klopfe ich – wagemutig, wie ich bin. Natürlich klopfe ich. Schließlich habe ich keine Lust, sie bei irgendwelchen Perversionen zu erwischen.
»Ja?«, höre ich Alyssas belegte Stimme. Nur Gott weiß, welches verdammte Drama sie jetzt wieder so niedergeschlagen klingen lässt. Ich ahne, dass ich es nicht wissen will. Leise öffne ich trotzdem
die Tür und trete ein, bevor ich den Raum überblicke.
Die Vorhänge sind zugezogen, aber das grelle Mondlicht fällt trotzdem herein. Der Fernseher läuft und meine beiden Schwestern liegen im Bett und schauen sich einen Schwarz-Weiß-Film an.
Nicht ungewöhnlich, wenn man vom Wochentag absieht.
Ich bin erleichtert. Keine vier Männer in ihrem Bett, kein Blutgemetzel und auch kein Marcello, der nun vielleicht sogar beide angekettet hat und foltert.
Was
aber ungewöhnlich ist, sind Alyssa und Ilarias Gesichter. Sie hängen. Das
wird Dad nicht gefallen und ich
werde schuld sein.
»Okay, was ist los?«, frage ich schwer seufzend, allerdings auch sehr gespannt, denn das Leben meiner Schwestern gleicht einer Soap. Ilarias Leben wohl eher einer Dokumentation über einen Serienkiller. Wie entwickelt sich ein Sadist oder so.
Als Alyssa schwerfällig ihren Kopf zu mir dreht, bemerke ich, dass sie nicht gut aussieht. Ihre Haare sind zerwühlt und sie trägt nur ein weites Shirt, das ihr bis zu den Knien reicht. Außerdem scheint sie müde und fad. Hat Clara wirklich gesagt, meine Schwestern seien süß? Sie sind nicht süß. Manchmal sind sie die Pest und jetzt gerade gleichen sie Zombies. Nicht süß.
»Wir schauen einen Film. Darf man jetzt keinen Film mehr schauen?«, fragt Alyssa angriffslustig und ich ziehe meine Brauen hoch.
Schlecht gelaunt. Zickig.
Keine Lust.
Eigentlich sollte ich mich umdrehen und wieder gehen. Wahrscheinlich hat sie ihre Tage, dann ist sie immer unausstehlich und eine Emotionsbombe, die wegen jeder Scheiße heult.
Aber ich gehe nicht.
Wieso nicht? Weiß der Geier.
»Stimmt was nicht?«
Ilaria streicht sich seufzend über das Gesicht. Sie wirkt auch müde und hat ihre schwarzen Haare zu einem unordentlichen Dutt zusammengeknotet.
»Es ist alles in bester Ordnung«, informiert Alyssa mich schleppend und ich verdrehe die Augen. Offensichtlich ist es das nicht, aber ich werde sicher nicht weiterbohren. Sie wollen nicht reden. Auch in Ordnung. Hauptsache, sie sind im Haus und leben noch.
»Gut. Könnt ihr das auch Dad sagen, wenn er euch anruft?«, vergewissere ich mich und hoffe, dass sie es fertigbringen, nicht
wie Zombies zu klingen und ihn misstrauisch zu stimmen. Sonst nimmt er das
noch als Ausrede, tatsächlich zurückzukommen.
»Sicher«, sagt Ilaria spöttisch, als ich mich abwende und über die auf dem Boden liegende Kleidung trete.
Nicht gewöhnlich.
Eigentlich ist Alyssas Zimmer immer sauber. Ich werde Rowan fragen, ob irgendwas passiert ist.
»Okay, ich muss es ihm jetzt sagen«, höre ich Ilaria murmeln und stocke mitten im Gang, bevor ich den Kopf über die Schulter drehe.
Sie wird es mir sagen, was auch immer es ist.
Ich werde es wissen und handeln müssen.
Oh nein. Keine Lust.
»Mir was sagen?«, frage ich genervt. Alyssa gibt ein ebenfalls genervtes Geräusch von sich, das von ihrer Hand gedämpft wird, als sie über ihr Gesicht streicht.
»Ich muss!«, wiederholt Ilaria nachdrücklicher und setzt sich auf. Jetzt bin ich mal gespannt, was die beiden Grazien wieder zu berichten haben. Dabei fühle ich mich nicht wie ihr Bruder, sondern wie ihr Vater, und Vater wollte ich eigentlich nicht werden.
Alyssa streicht sich unwirsch durch das Haar, womit sie es noch mehr durcheinanderbringt. Ich knipse das Licht an, weil es mir hier zu dunkel ist, und beide verziehen das Gesicht, als würden sie zum ersten Mal Helligkeit erfahren.
Gerade will ich was äußerst Spöttisches sagen, als mein Blick wie von selbst auf Alyssa strandet. Ich stocke.
Was ist das denn?
Sind das Fingerabdrücke an ihrem Hals?
Dunkellila Würgemale?
Alles in mir erstarrt und in meinen Adern rauscht es augenblicklich los.
Welcher Bastard war das?
Ich werde ihn umbringen.
Hart ballt sich ein Knoten in meiner Brust zusammen und in mir beginnt es, zu wüten.
»Was ist das?«, frage ich starr. Als Alyssa klar wird, worauf ich deute, fuchtelt sie hektisch ihre Haare nach vorn. Aber es ist zu spät. Ich habe
es schon gesehen und werde es sicher nicht vergessen. Niemand fasst meine Schwestern an. Niemand tut ihnen weh. Die Wut brodelt immer höher in mir und ich versuche erst gar nicht, sie zu unterdrücken.
»Rowan ist völlig durchgedreht«, sagt Ilaria und Alyssa wirft ihr einen warnenden Blick zu. Ich bin kurz davor, zu explodieren, und balle meine Hände zu Fäusten. Irgendwas sagt mir, dass es kein Ausrutscher beim irren Sex war.
Rowan
.
Wieso hätte er so was tun sollen?
»Nein!«, zischt Ilaria Alyssa an und drückt ihre Hand. Deutlich bemerke ich, wie unwohl Alyssa sich fühlt. Ein paar Sekunden halten meine Schwestern epischen Blickkontakt, bevor Ilarias dunkle Augen zu mir schnellen. Ich sehe den Aufruhr darin. Ilaria kommt absolut nicht mit Ungerechtigkeit klar. Sie ist im Inneren verletzlich und rein, deswegen stoßen ihr die meisten Dinge härter auf als mir. Diesmal stößt es uns wohl gleichermaßen auf.
Was sagt sie da überhaupt?
Rowan?
Rowan hat Alyssa das angetan?
»Er hat sie fast totgewürgt! Er hat sie nicht losgelassen!
Sie hat gar nichts gemacht!
«, ruft Ilaria völlig außer sich. In mir verkrampft es sich noch mehr, als die Worte zu Bildern werden. Bilder, die mich innerlich heiß und kalt im Wechsel brodeln lassen.
»Er hat was
?«, frage ich mit eisiger Stimme.
»Alyssa hat sich mit Donovan unterhalten, Rowan kam anmarschiert, hat sie über die Brücke gezerrt und gewürgt. Er hat sie nicht losgelassen. Ich war nicht schnell genug drüben, als ich es von meinem Balkon beobachtet habe. Er war wie … weggetreten. Rayen musste ihn von ihr wegreißen!«
Ilaria steigert sich mit jedem Wort mehr rein. Ihr Ausdruck wird immer entrüsteter und ihr verlorener Blick schießt genauso tief in meine Brust wie das, was sie sagt.
Er hat was
?
Sie fast totgewürgt?
Ich werde ihn umbringen.
Ich werde ihm die Finger abhacken.
Ich werde seinen Kopf zermatschen.
Niemand. Fasst. Meine. Schwestern. An.
Nicht so. Niemals so.
Ich bin so sauer, dass ich mich keinen Zentimeter regen und nur starren kann.
Alyssa kniet sich hin und ihre panisch aufgerissenen Augen zucken über mein Gesicht. »Salva! Das zwischen uns ist jetzt aus. Kein Grund zur Sorge; kein Grund, es Dad zu erzählen, okay?« Sie fleht mich mit ihrem Blick an. Solche Angst? Wieso? »Du weißt, wie er ist. Er hat mir zuvor noch nie wehgetan. Und ich habe außerdem …«
»HÖR AUF!«, brüllt Ilaria sie an, womit sie Alyssa unterbricht, gerade, als ich es tun will. »HÖR AUF, IHN ZU VERTEIDIGEN! ER HAT DICH FAST UMGEBRACHT!«
Alyssas Kopf fährt herum. »Hör du auf, es aufzubauschen! Es ist jetzt vorbei und es besteht kein Grund, ein Drama daraus zu machen!«, wispert sie eindringlich, wie besessen. Ich kann währenddessen nur daran denken, was passiert wäre, wenn Rayen nicht da gewesen wäre. Wenn Rowan wirklich nicht losgelassen hätte. Die Bilder in meinem Kopf werden immer klarer und ich immer wütender.
Ich werde jetzt rübergehen und Rowan Rush würgen.
Ich werde ihn fragen, wie er sich dabei fühlt, keine Luft mehr zu kriegen.
Mit einem Ruck wende ich mich ab und reiße die Tür auf, sodass sie laut gegen die Wand knallt.
»Salva, nein«, versucht Alyssa, mich aufzuhalten, aber da verlasse ich schon das Zimmer und donnere die Tür so wuchtartig hinter mir zu, dass sie in den Angeln erzittert. Mit geballten Fäusten marschiere ich den Gang entlang und Marco heftet sich eilig an meine Fersen. Mit Tunnelblick eile ich die Treppen hinab.
Sechzig Stufen, dann bin ich im Erdgeschoss.
Elf Schritte, dann reiße ich die Flügeltür auf und der Bodyguard davor zuckt zusammen.
»Kein Problem!«, murmelt Marco beschwichtigend.
Mit verengten Augen visiere ich das Rush-Haus an.
Sechs Stufen, dann überschreite ich den Vorplatz mit ausladenden, harschen Schritten, die den Kies aufwirbeln.
Zwanzig Schritte, dann stehe ich auf der Brücke. Je näher ich diesem Haus komme, desto heißer pumpt die Wut.
Dieser Bastard, der sich mein Freund schimpft, ist definitiv zu Hause.
Und jetzt wird er sterben.
Der warme Wind zerrt an meinem Haar und ich wedle unwirsch eine Motte weg, die vor meiner Nase herumschwirrt.
Keine Störungen jetzt.
Sechsundneunzig Schritte, dann betrete ich das Grundstück der Rushs und habe mich genug hineingesteigert, um Rowan den Schädel wegzublasen.
Fünfundfünfzig Schritte, dann stehe ich vor dem Anbau, balle eine Hand zur Faust und donnere die Haustür auf. Sie prallt krachend gegen die Wand. Ich marschiere geradewegs hinein. Mein Blick ist wirr und gehetzt. Ich sehe durch die geöffnete Tür ins Wohnzimmer.
Da!
Da ist er ja!
Rowan sitzt auf einem Sessel. Seine schwarzen Haare sind ein ungewohntes Chaos. Er hat den Kopf nach hinten gelegt und starrt an die Zimmerdecke. Seine Fingerspitzen reiben aneinander.
Sobald ich ihn überblickt habe, tanzen schwarze Punkte vor meinen Augen. Ich stapfe zielstrebig auf ihn zu. Er rührt sich nicht, obwohl er weiß, dass ich da bin.
Er hat diese Hände an meine Schwester gelegt. Sie hat Würgemale am Hals. Er hätte sie fast umgebracht.
Und jetzt bringe ich ihn um.
Ehe ich mich versehe, habe ich ihn am Kragen gepackt, ihn nach vorne gezerrt und ihm ohne ein Wort einen Kinnhaken verpasst, sodass sein Kiefer knackt und Rowans Kopf zur Seite ruckt.
Dieser gottverdammte Bastard bleibt apathisch. Er wendet mir langsam den Blick zu, aber er scheint durch mich hindurchzusehen.
»SAG MIR, DASS DU NICHT MEINE KLEINE SCHWESTER KILLEN WOLLTEST, DU GOTTVERDAMMTES STÜCK SCHEISSE!«, brülle ich in sein Gesicht, während er sich langsam mit dem Handrücken das Blut vom Mundwinkel wischt. Mit einem harten Stoß schubse ich ihn zurück auf den Sessel.
Rowan verzieht sein Gesicht, als würde er sich jetzt erst wieder daran erinnern. Deswegen hat dieses feige Stück Scheiße mich heute gemieden, nicht wahr?
»Ich werde mich von ihr fernhalten«, meint er abwesend.
Fernhalten also.
Er hätte fast meine Schwester gekillt.
Dieser Bastard.
Ohne zu wissen, wie mir geschieht, habe ich meine Waffe gezogen. Ich beuge mich vor, stütze eine Hand auf Rowans Armlehne und drücke ihm mit der anderen meinen silbernen Lauf an die Schläfe. In seinem Gesicht regt sich nichts
.
»Ganz richtig. Du wirst dich von ihr fernhalten. Du wirst sie nie wieder anfassen. Sollte ich sehen, dass du sie ansprichst oder dich ihr in irgendeiner anderen Art und Weise näherst, jage ich dir eine Kugel ins Hirn, bevor du Alyssa
sagen kannst. Hast du mich verstanden?«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und schaue ihm direkt in die Augen. Dabei muss ich all meine Selbstbeherrschung aufbringen, jetzt nicht völlig überzuschnappen und immer wieder auf ihn einzuschlagen.
Fuck. Er ist mein bester Freund seit der ersten Klasse. Wie konnte er das tun?
Rowans Blick wird kälter, seine Kiefer mahlen und er stützt sich an den Lehnen ab, wobei er sich langsam erhebt. Ich richte mich mit ihm gemeinsam auf, unsere Nasenspitzen berühren sich beinahe, aber ich nehme nicht die Waffe von ihm. Jetzt sind wir auf Augenhöhe, während er mich unablässig anstarrt. Meine Hand habe ich krampfhaft um den Griff geschlungen und Schweiß läuft über meine Stirn.
»Drück ab, wenn du willst«, fordert er monoton und in seinen Augen lodert der Hass.
Er führt mich in Versuchung.
Das sollte er besser nicht tun. Er ist nicht der Einzige, der sich verlieren kann. Vor allem, wenn es um meine Schwestern geht. Wie würde es ihm wohl gefallen, wenn ich seine kleine, süße Caitlyn fast zu Tode würge?
»Nimm die Waffe runter, Salva«, höre ich Rayens ruhige, aber bestimmte Stimme irgendwo hinter mir. Das ist Rowans Glück, weil ich mich genug hineingesteigert habe, um abzudrücken, aber Rayen reißt mich aus dem Moment.
»Schon okay, Rayen«, meint Rowan schleppend, ohne den Blick von mir zu nehmen. Aber nichts ist okay und das hier noch nicht zu Ende.
»Jetzt, Salva«, fordert Rayen keinen Widerspruch duldend. Ich höre seine langsamen Schritte, als er sich mir von hinten nähert. Eigentlich ist es mir scheißegal, wer sich jetzt einmischt. Dass ich Rowan nicht erschieße, ist nur eine Herzensangelegenheit, keine Sache des Kopfes.
»Das ist deine letzte Chance«, lasse ich Rowan leise wissen und senke mit einem Ruck meine Waffe, bevor ich sie unwirsch in den Hosenbund ramme und einen steifen Schritt zurückmache. Das, oder ich kille ihn. Das, oder wir geraten richtig aneinander. Das, oder ich breche
ihm diesen verdammten Kiefer und dann diese verdammten Hände.
Sofort lässt Rowan, das Opfer, sich wieder auf den Sessel sinken und lehnt den Hinterkopf an. Ich scheiße auf seine Masche, einen auf gebrochen zu machen. Ich scheiße auf ihn.
Fuck.
Wortlos schiebt Rayen sich an mir vorbei, dabei bohrt sein kalter Blick sich in meinen. Kein Problem. Es ist mir wirklich scheißegal, wie viele Rayens vor mir stehen, wenn Rowan meiner Schwester noch ein einziges Mal wehtut. Dabei sollte Rayen doch eigentlich etwas anders reagieren, nicht wahr?
»Geh, Salva«, fordert Rayen, der sich nun zwischen uns stellt. Es widerstrebt mir zwar, seinem ›Befehl‹ Folge zu leisten, aber ich weiß, dass ich sonst wirklich etwas Dummes tue, also wende ich mich mit einem Ruck ab. Marco folgt mir, als ich an den beiden Brüdern vorbei und aus der geöffneten Terrassentür stürme. Weg hier. So weit und schnell, wie ich kann. Sonst mache ich wirklich etwas, was ich im Nachhinein extrem bereuen werde.
Ich marschiere die Treppe hinab und rausche am Pool vorbei.
Fuck.
Ich hätte ihn killen sollen.
Ich hätte ihn verdammt nochmal killen sollen.
Zähneknirschend umrunde ich das Haus. Weg. Weg. Weg. Weg.
WEG!
Die Wut flaut einfach nicht ab.
Gottverdammter. Bastard. Er hat mich verraten. Ich habe ihm vertraut. Er hat meiner kleinen Schwester wehgetan. Er hat mich verarscht.
Er hat sie verarscht.
Knurrend ramme ich meine Hände in die Hosentaschen und gehe blicklos weiter.
Dreißig Schritte zur Brücke.
Sechsundneunzig darüber.
Zwanzig Schritte über den Vorplatz.
Sechs Stufen die Veranda hinauf.
Elf Schritte durch das Foyer.
Sechzig Stufen die Treppen hoch.
Und neun Schritte in mein Zimmer, wo ich erst mal alles auseinandernehme, weil ich das manchmal einfach brauche.
Gottverdammte Scheiße.