Kapitel 2
Andie – Dezember
Ich legte den Bleistift ab und schüttelte meine linke Hand aus, die sich in diesem Moment anfühlte, als würde sie gleich abfallen.
»Wieso benutzt du nicht das neue Grafiktablett, damit geht es viel einfacher!« Meine Kollegin Karla sah an ihrem PC vorbei und wedelte in der Luft mit dem passenden Stift dazu. Ich schnaubte.
»Weil es sich anfühlt, als würde ich mit einem Fahrrad über den Highway fahren.«
»Oh, wie poetisch, könnte jemand mal bitte Miss Andrea Price den Mittelalterdämon austreiben?«, rief sie laut durch unser Großraumbüro. Außer Gemurmel bekam sie kaum etwas zurück. Die Arbeitsatmosphäre war hier ungefähr so, wie bei einer Beerdigung. Hätte ich Karla nicht, wäre ich schon längst durchgedreht.
Ich musste grinsen. »Du spinnst.«
»Nein, du spinnst! Du kannst damit genauso gut zeichnen wie mit deiner Hand, wenn nicht sogar besser. Außerdem müsstest du danach nicht alles noch übertragen. Denk dran, was Nasty uns gepredigt hat, als er die Dinger angeschafft hat.«
»Ganz ehrlich, die Designs, die er für die diesjährigen Kalender haben möchte, könnten wir auch einfach aus einem Siebzigerjahre Katalog kopieren und einfügen …«, flüsterte ich und Karla kicherte.
»Stimmt, wetten dass er nie rauskriegt, dass ich genau das auf ein paar Seiten gemacht habe.«
»Karla!«, rügte ich sie gespielt empört, konnte mir aber das Grinsen nicht verkneifen. Unser Chef Mr Walker war groß, breitschultrig und verdammt gutaussehend. Er war charmant und wickelte jeden sofort um seinen Finger. Fast. Denn Karla und ich hatten ihn schon lange durchschaut. Wir waren uns sicher, dass er uns und die drei anderen Frauen nur eingestellt hatte, weil er eine gewisse Frauenquote rechtfertigen wollte. Und vor allem, weil er nach außen hin gerne den gutmütiger Samariter spielte. Aber in Wirklichkeit war er ein chauvinistischer Arsch und nicht nur einmal hatte eine unserer Kolleginnen in der Vergangenheit gekündigt, ohne einen genauen Grund zu nennen. Wir waren uns sicher, dass Mr Walker, oder Nasty, wie wir ihn nannten, dafür verantwortlich waren. Es hatte mehr als ein Gerücht gegeben, dass er hinter seiner glatten Fassade seine Finger nicht bei sich behalten konnte und ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass das stimmte. Irgendetwas in seinem Blick machte mich nervös.
Jedes Jahr fertigen Karla und ich als Angestellte der Marketingabteilung furchtbare Kalender für unsere Kunden als Weihnachtsgeschenke an und ich fragte mich nicht zum ersten Mal, was ich hier eigentlich tat. Die Arbeit war langweilig und wir waren an Nastys schrecklichen Geschmack gebunden, denn auch außerhalb der Feiertage, bei denen er Sonderwünsche wie diese Kalender hatte, ließ er uns nicht gerade viel Freiheiten bei der äußeren Darstellung seiner Firma. Vielleicht, weil es Nasty weder an Geld noch an Kontakten fehlte. Vor einigen Jahren hatte er die Immobilienagentur von seinem Vater übernommen. Wieso auch etwas ändern, was seit einer Ewigkeit funktionierte?
»Hast du Lust nach der Weihnachtsfeier heut Abend noch etwas trinken zu gehen?«
Ich stöhnte. »Oh man, die Feier hab ich ganz vergessen …«
»Hätte ich am liebsten auch, aber du weißt, wer zur Dekorationsabgeordneten benannt worden ist?« Sie drückte den Rücken durch und zeigte mit beiden Daumen auf sich. »Hier ein subtiler Hinweis, falls du es vergessen haben solltest.« Ich war froh, dass ich Karla hatte, die mich nicht nur einmal mit ihrer ständigen guten Laune und sarkastischen Sprüchen aufgemuntert hatte. Nicht nur, dass unser Chef ein riesiger Arsch war, auch die Arbeit, die wir hier taten, stand weit unter unseren Fähigkeiten. Doch in Seattle einen angesehenen Job in einer Marketingabteilung zu finden, der einem ein anständiges Gehalt sicherte und einen gleichzeitig auch noch erfüllte, war so gut wie unmöglich. Immerhin bezahlte Nasty ganz gut und ich konnte mir eine hübsche Wohnung im Stadtteil First Hill direkt in der Nähe des Frye Art Museums leisten, in dem ich mehrmals die Woche zu Besuch war.
»Und dieses Jahr musst du unbedingt den Eierlikörpunsch probieren.«
»Den, den Heather immer mitbringt?«
»Ich habe sie mit zwanzig Mäusen bestochen, damit sie dem Ganzen noch ein wenig mehr Dampf gibt.« Karla wackelte mit ihren dunklen, perfekt gezupften Augenbrauen und warf ihre schwarzen Locken zurück. Erneut musste ich lachen. Heather war ungefähr Mitte achtzig und laut ihrer Aussage in diesem Unternehmen tätig, seitdem es von Nastys Dad gegründet wurde. Sie hatte keinen Mann und keine Kinder, dafür aber vier weiße Tibet Terrier, die alle nach Schauspielern der Serie Dallas benannt waren. Jeder davon besetzte einen Bilderrahmen auf ihrem Schreibtisch am anderen Ende des Raumes.
»Du meinst, wir ertragen diese Feier nur, wenn wir uns mit Heathers Punsch besinnungslos betrinken?«
»Du hast es verstanden, Schwester.«
»Könnt ihr jetzt endlich einmal aufhören, zu plappern und zurück an die Arbeit gehen?«
Ich verdrehte die Augen, als Eric Gambler sich auf seinem Schreibtischstuhl umdrehte und uns böse anfunkelte. Wenn es in jeder Firma einen Liebling des Chefs gab, war Gambler das absolute Paradebeispiel. Und noch dazu Nastys nutzloser Neffe.
»Und hast du nicht noch ein paar Schleimspuren zu verteilen, Ricky?«, flötete Karla.
»Total witzig, wie immer Karla«, sagte er so abschätzig, wie nur möglich und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Seine Finger klimperten über die Tastatur und auf seinem Bildschirm erschienen Massen an Zahlen, Formularen und irgendwelchem anderen, superwichtigen Buchhalterkram.
Karla schenkte mir noch ein Lächeln, dann nahmen wir alle unsere Arbeit wieder auf und bedächtige Ruhe legte sich über das Büro. Wie am Rande vernahm ich Stimmen und Tastaturanschläge und meine Gedanken verloren sich in Wünschen und hirnrissigen Träumen, ich könnte irgendwann einmal mehr als das hier sein.
Ich erinnerte mich an die Begegnung mit einem großen, gutgebauten Anzugträger mit dem charmantesten Lächeln, das ich je gesehen hatte in einem Starbucks im Sommer. Auch wenn ich mich zu dieser Zeit frisch nach einer Trennung nicht auf jemanden einlassen konnte, würde ich seine Worte doch niemals vergessen:
»Und eben hat Ihnen ein Mensch gesagt, dass sie es ziemlich draufhaben. Wem wollen Sie nun glauben?«
Es war eine schöne Illusion, zu denken, dass er recht gehabt hatte. Vor lauter Euphorie hatte ich sogar einen Social Media Account unter dem Namen andieloveart eröffnet und ihn mit Zeichnungen von mir gefüllt. Mittlerweile hatte ich stolze fünfzigtausend Follower und mein Selbstvertrauen wuchs von Tag zu Tag mehr. Doch der Mut, mich von Walkers Inc. zu lösen und mein eigenes Ding durchzuziehen, scheiterte nicht nur an der fehlenden Kohle, weil meine Mom mich regelmäßig um Geld bat.
Ich allein war es, die den Sprung ins kalte Wasser noch nie gewagt hatte und wahrscheinlich auch niemals wagen würde. Es lag einfach zu viel auf dem Spiel und ich war nicht bereit, das Risiko einzugehen. Denn mit meiner Mom hatte ich das perfekte Beispiel, wie man es nicht machen sollte.
Heathers Punsch war wirklich erste Sahne. Ich wusste, dass ich langsamer machen musste, denn vor meinen Augen lag ein Schleier und das Drehen in meinem Kopf war nicht mehr zu ignorieren, aber all das hier machte tatsächlich so etwas wie Spaß.
Karla und ich fegten laut grölend zu I will survive über die provisorische Tanzfläche, die inmitten eines leergeräumten Büroraumes errichtet worden war. Sogar Gambler wippte am Rand im Takt und ich hätte schwören können, dass seine Lippen sich zu dem Text bewegten. Und auch andere Kollegen waren ausgelassen, bedienten sich an der Candy Bar, die Karla organisiert hatte, tanzten, unterhielten sich und hatten tatsächlich einmal Spaß. Was mich ein wenig beunruhigte war Nasty, dessen Hemd schon seit einer halben Stunde nicht mehr in seiner maßgeschneiderten Anzughose steckte. Sein lüsterner Blick wanderte durch den Raum, als würde er sich seine nächste Eroberung für die Nacht aussuchen und eine unangenehme Gänsehaut zog sich über meinen Körper, als seine Augen auf mir hängenblieben. Er schwankte leicht und hielt ein Punschglas, das er ansetzte, während er mich über den Rand hinweg beobachtete. Seine blonden Haare waren so zerzaust, als hätte er bereits eine Liaison mit einer Frau hinter sich gehabt.
»Karla?« Ich zog meine Kollegin und mittlerweile auch Freundin an mich und nickte unauffällig zu Nasty. »Glaubst du, dass an den Gerüchten über Nasty und Isabelle was dran war?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Gut möglich, so schnell wie sie gekündigt hat und auf einmal von der Bildfläche verschwunden ist.«
»Und glaubst du, dass es einvernehmlich war? Ich meine …« Ich hatte keine Ahnung, ob ich das aussprechen sollte, was mein betrunkener Geist sich ausgesponnen hatte, aber Karla wusste es auch so.
»Nasty kann zumindest außerhalb unserer Firma hervorragend den herzensguten Chef spielen, aber wir wissen, dass er nicht viel auf die Belange von Frauen gibt. Wer weiß, wie die Geschichte damals mit Sandy abgelaufen ist. Kannst du dich noch an sie erinnern, sie hatte die Stelle vor dir.«
»Nur wage, ich hab sie nur einmal gesehen, als sie ihren Schreibtisch leergeräumt hat, nachdem Nasty mich eingestellt hat. Wie er sie angesehen hat … ich dachte, ich hätte mir das eingebildet …« Wenn ich mich daran erinnerte, stellten sich erneut alle Härchen an meinem Körper auf.
»Hm, da wäre ich mir nicht so sicher. Aber ich kann nichts darüber sagen, weil ich im Grunde auch nur die Gerüchte kenne. Ich habe nur ein paar Wochen mit ihr zusammengearbeitet.«
Wir tanzten weiter, doch in meinem Magen lag ein Knoten, der sich immer mehr festigte. Vor allem, weil Nasty seine Augen kaum noch von mir zu lösen schien. Oder ich bildete mir das nur ein, weil ich schon ziemlich lange keinen Alkohol mehr getrunken hatte. Auf jeden Fall brauchte ich einen Moment für mich, sagte Karla Bescheid, die weiter auf der Tanzfläche blieb, und stolperte durch den Raum und auf den Flur. Mit einer Hand stützte ich mich an der Wand ab und ging mit wackligen Schritten in Richtung Waschräume. Dort angekommen entleerte ich meine Blase, wusch mir die Hände und musterte mein Spiegelbild.
Meine blonden Haare waren abgesehen vom heutigen Abend auch sonst nie ordentlich frisiert. Ich war eher der Typ wildes Durcheinander, denn mit achtzehn hatte ich aufgegeben, meine widerspenstigen Wellen zu schönen Locken formen zu können. Ich hatte meine damaligen hüftlangen Haare auf Schulterlänge abgeschnitten und diese Entscheidung bis heute mit sechsundzwanzig nicht bereut. Ich mochte es, meine Wimpern dicht zu tuschen, aber benutzte ansonsten kein Make-up. Durch die klassische Tanzausbildung, die ich eine zeitlang in meiner Kindheit bekommen hatte, war mein Körper auch heute, mit weniger Sport, immer noch schlank und ich brauchte mir über die Extrakalorien, die ich heute mit einem Liter zuckersüßem Punsch zu mir genommen hatte, keine Gedanken machen. Alles in allem war ich äußerlich mit mir zufrieden, wenn nur nicht diese Unsicherheit in mir festhängen würde wie Kleber, was meine Zeichnungen betraf. Vielleicht hatte ich einfach nur viel zu oft in meinem Leben gehört, dass Bilder zu kritzeln kein richtiger Beruf wäre, mit dem man seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Und irgendwie hatten diese Stimmen ja auch recht.
Ich trocknete meine Hände und lief aus dem Raum. Im gleichen Moment ging die gegenüberliegende Tür zum Männerklo auf und ich erstarrte, als Nasty vor mir auftauchte. Sein Mund verzog sich zu einem entgleisten Lächeln und seine Gesichtszüge wirkten dadurch ein wenig beängstigend.
»Miss Price!«, nuschelte er und ich hörte eindeutig die Schwere seiner Zunge durch den Alkohol heraus. »Ich habe gehofft, Sie an diesem Abend alleine zu treffen.«
»Weshalb?«, fragte ich unsicher und mein Blick flog in Richtung des Raumes, in dem wir feierten und aus dem laut Musik drang. Hoffentlich würde Karla oder von mir aus auch Gambler herauskommen, und diesen unangenehmen Moment zerstören.
»Ich bin ausgesprochen zufrieden mit Ihrer Arbeit.« Er kam einen Schritt näher und ich wich zurück. Alles an seiner Körperhaltung setzte mein Hirn in Alarmbereitschaft.
»Danke«, erwiderte ich und deutete den Flur entlang. »Wir sollten wieder zurück, Karla …«
»Darf ich Sie fragen, ob Sie mir wohl den nächsten Tanz schenken?« Er tat noch einen Schritt auf mich zu und mein Herz wummerte heftig in meiner Brust. »Sie sehen ausgesprochen …« Sein Blick wanderte anzüglich über meinen Körper. »Scharf in diesem Kleid aus.«
»Ehrlich gesagt finde ich nicht, dass wir uns auf diese Art miteinander unterhalten sollten.«
»Wieso nicht? Wir könnten unsere Beziehung auf eine andere Ebene heben. Ich hab darüber nachgedacht, einen neuen Teamleiter zu wählen und dachte vielleicht diesmal an eine Frau.«
Ich war völlig perplex. Er sagte es so, als wäre überhaupt nichts dabei, mir ein offenes Angebot zu machen, mit ihm zu schlafen und in der Firma aufzusteigen. Seine Hand flog blitzschnell nach vorn und zog mich ein Stück zu sich. Die Berührung fühlte sich unangenehm an und mir wurde übel. »Lassen Sie mich los, Mr Walker«, sagte ich und einen Moment verrutschte sein Grinsen.
»Nenn mich Nick.«
»Ich sag es noch ein letztes Mal und dann schreie ich: Lassen Sie mich los.« Leider hörte sich meine Stimme nicht so fest an, wie ich das gehofft hatte, aber anscheinend spürte Nasty meinen Widerwillen und ließ mich tatsächlich los. Doch anstatt seinen Fehler einzusehen und sich zu entschuldigen, zog er nur die Augenbrauen nach oben.
»Wenn Frauen nein sagen, meinen sie doch eigentlich ja, ich kenne das kleine Spiel und ich spiele äußerst gerne. Außerdem bekomme ich immer, was ich will. Wir sehen uns drinnen, Schätzchen«, nuschelte er, zwinkerte mir zu und torkelte den Flur hinunter. Ich war gleichzeitig völlig verängstigt und so sauer wie noch nie zuvor in meinem Leben. Was, wenn er weitergemacht hätte, obwohl ich ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass ich seine Annäherung nicht erwiderte, geschweige denn überhaupt wollte!
Er war mein Chef, davon abgesehen, war er ein riesiges und noch dazu verheiratetes Arschloch! Ich lehnte mich gegen die Wand und zog mein Handy aus meiner Umhängetasche. Mein Puls war jenseits von Gut und Böse, als ich Karla eine Nachricht tippte, dass sie rauskommen sollte. Ich würde keinen Fuß mehr in den Raum setzen, wo Nasty sein Unwesen trieb.
Als ich wartete, flog mein Blick über den Flur und mir fiel etwas anderes ein. Ich schoss ein Bild vom Firmenlogo, das an die Wand gezeichnet war, und bearbeitete es so im Comicstil, dass man erahnen konnte, um welche Firma es sich handelte, aber es nicht genau ersichtlich war. Danach öffnete ich Instagram und postete mein Werk ohne groß darüber nachzudenken mit einem Text, der frei aus mir herausfloss. Ich wollte mich nicht mehr über die Ungerechtigkeiten in diesem Unternehmen, ja auf der ganzen Welt, zurücknehmen. Frauen wurden nicht nur von Nasty so behandelt, sondern von hunderten, vielleicht sogar Millionen chauvinistischer Arschlöcher, die dachten, nur weil sie mit einem Schwanz geboren worden, hätten sie das Anrecht auf alles. Im Grunde waren nicht nur die Männer, mit denen meine Mom ständig anbändelte so, sondern auch mein Dad. Sie waren alle gleich.
Ich schrieb, bis mir die App sagte, dass ich keine Zeichen mehr freihatte und meine Wut ein Stück verraucht war. Dann sendete ich es ab, steckte mein Handy in die Tasche und als Karla aus dem Raum kam, sahen wir zu, dass wir so schnell wie möglich hier verschwanden.