Kapitel 5
Reese
Zurück auf unserem Stockwerk atmete ich vor der Tür des Besprechungsraumes tief durch und trat ein. Mr Walker hatte das Telefon am Ohr und ging im Raum auf und ab. Ann hatte ich rausgeschickt, sie musste nach der gescheiterten Verhandlung nicht mehr anwesend sein. Außerdem wollte ich mit Walker ein paar Wörter Klartext sprechen.
»Ich melde mich später wieder«, bluffte er und seine Nasenflügel blähten sich auf, als er das Handy auf den Tisch vor sich schmiss. »Was denkt die sich eigentlich? Als könnte diese kleine Zicke uns hier herumkommandieren! Sie kann froh sein, dass ich ihr überhaupt Geld anbiete!«
Ich lehnte mich gegen die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was meinte sie mit körperlich bedrängt?« Nicht nur, dass mir diese Aussage aus einem geschäftlichen Grund nicht gepasst hatte, es gefiel mir ganz und gar nicht, mir vorzustellen, er hätte eine Frau angefasst, ihr Angst gemacht und sie tatsächlich zu irgendetwas zwingen wollen. Zum ersten Mal in meiner Laufbahn zweifelte ich an der Seite, für die ich einstand. Bei den meisten meiner Fälle ging es um lapidare Rechtsstreite, um vertraglich vereinbarte Dinge, an die sich einer der Parteien nicht gehalten hatte, aber diesmal hieß der Vorwurf sexuelle Belästigung. Bisher hatte ich glücklicherweise mit diesem Thema noch nie zu tun gehabt und auch wenn mein Bauchgefühl mir sagte, dass mein Klient log, hatte ich keine eindeutigen Beweise. Und die brauchte ich, um den Fall entscheiden zu können. Mehr denn je.
»Sie spinnt! Nichts habe ich getan! Es waren ein paar Punsch im Spiel, wir haben uns auf dem Gang getroffen und ich habe nur gefragt, ob sie mit mir tanzen möchte. Es war als Witz gemeint, völlig platonisch!« Er hob seinen Ringfinger hoch. »Ich bin verheiratet! Vielleicht hat sie sich irgendetwas in den Kopf gesetzt, was sie falsch interpretiert hat?«
»Und Sie haben Ihre Angestellte nicht angefasst?«
»Auf keinen Fall! Vor einem halben Jahr hat sie sich von ihrem Freund getrennt, einem Joe, der in unserer Postabteilung gearbeitet hat. Es hieß, dass sie die Trennung nicht ganz verarbeitet hat, vielleicht fing sie einfach an, sich ein anderes Ziel zu suchen!«
Ich tippte mit der Fußspitze auf den Boden. Ich kannte sie kaum außer von den letzten beiden Begegnungen, doch sie hatte auf mich nicht den Eindruck einer kranken Stalkerin gemacht. Aber ich hatte in meinem Job schon fast alles gesehen. Dinge, die sich in den Köpfen der Menschen versteckten, die da eindeutig nicht hingehörten. »Sie müssen Ihr Angebot überdenken.«
»Wie bitte?« Wieder blähte er sich auf. »Als ob zwanzigtausend Dollar nicht genug wären!«
»Fünfzigtausend.«
»Natürlich und soll ich ihr vielleicht noch mein Haus und meinen Porsche anbieten?« Er lachte freudlos, aber er merkte, dass ich keinen Witz gemacht habe. »Ist das wirklich ihr verdammter Ernst?«
»Ich finde Miss Price ziemlich überzeugend. Wenn der Fall vor ein Gericht kommt, stehen Ihre Chancen nur bei zwanzig Prozent, wirklich zu gewinnen. Das ist gar nichts! Selbst achtzig wären nichts!«
Sein Grinsen verklang. »Na gut. Was bleibt mir anderes übrig …« Er nahm sich sein Telefon vom Tisch und schob es in seine Hosentasche. »Machen Sie ihr das Angebot und rufen Sie mich im Büro an! Nicht auf meinem Handy und schon gar nicht zu Hause! Ich möchte meine Frau nicht unnötig beunruhigen, sie hat ein schwaches Herz.«
»Selbstverständlich.« Alles, was er sagte, hinterließ einen schalen Beigeschmack. Er umrundete den Tisch und verließ den Raum ohne einen Gruß, was mir nur recht war.
Nach einigen Sekunden verließ ich ebenfalls den Raum und steuerte Keanus Tür an. Wenn ich mit jemandem über diese Sache sprechen konnte, dann mit ihm.
Ich grüßte seine Assistentin, die mir mitteilte, dass er keinen Termin hatte, und betrat sein Büro. Er saß hinter einem großen Schreibtisch und sein Gesichtsausdruck war konzentriert auf seinen Bildschirm gerichtet. Er sah auf und ich nahm mir eine Wasserflasche von einem Sideboard und ließ mich auf die Sitzecke fallen. Unsere Büros waren ähnlich aufgebaut, und unterschieden sich kaum. Glücklicherweise hatten wir alle den gleichen Geschmack, nicht nur, was die Einrichtung betraf, sondern auch, was das Apartment anging, das wir uns zum Abschleppen unserer weiblichen Eroberungen teilten, um diese nicht mit in unsere Wohnungen nehmen zu müssen. Diese Idee war zu unserer gemeinsamen Collegezeit entstanden und hatte sich zurück in Seattle so etabliert, dass wir sie einfach weitergeführt hatten. Was in Harvard als Spaß dummer, schwanzgesteuerter Jungs begann, hatte sich auch hier als ziemlich praktisch erwiesen. Vor allem für Keanu, der wirklich keine psychisch instabile Frau in dieser Stadt auszulassen schien. Nicht nur eine hätte ihn sicherlich monatelang gestalkt, hätte sie tatsächlich seine richtige Adresse gekannt. Es wäre eine Armada gewesen.
Aber er hatte nicht nur viel Erfahrung mit besonderen Frauen, er war ein grundehrlicher, bescheidener Typ, der mir zu jeder Zeit seine wahre Meinung mitteilte. Und gerade die brauchte ich im Moment.
»Was gibt‘s?«, fragte er, als hätte mein Gesichtsausdruck nicht allein ausgereicht, damit er verstand, dass mich etwas beschäftigt. Ich kippte das Wasser in einem Zug hinunter, stellte die leere Flasche auf den Tisch vor mir ab und legte den Kopf gegen das Rückenteil.
»Hattest du schonmal einen Fall, bei dem du dir nicht sicher warst, ob du ihn übernehmen sollst, aber die gesamte Zukunft deiner Karriere deswegen auf dem Spiel stand?«
»Oh wow, das klingt nach einer beschissenen Situation.«
Er stand auf und nahm gegenüber von mir Platz. »Bei Mr Walker gibt es aktuell einen Fall wegen sexueller Belästigung.«
»Der Mir-gehört-die-halbe-Stadt-Walker?« Ich brummte frustriert. »Okay, und ist die Klägerin glaubwürdig?«
Ich dachte an das Feuer in Andreas Augen, an die Verletzung in ihrer Stimme, als wir alleine im Aufzug gestanden hatten und an unsere erste Begegnung. Das Bild, das sie von mir gezeichnet und mich als Anstoß dazu genommen hatte, ihre Zeichnungen der Welt zu zeigen. Eine Stalkerin, die ihrem Chef wegen eines Korbs eins auswischen wollte? Klang nicht nach ihr. »Scheiße, ja.«
»Hast du Beweise?«
Meine besten Freunde und ich waren ähnliche Typen. Wir handelten nicht nach Gefühlen oder aus dem Bauch heraus. Für uns musste eine Entscheidung logisch sein, wir mussten jedes einzelne Ergebnis durchspielen, um zu wissen, ob es tragbar war oder nicht. Aber hier tappte ich völlig im Dunkeln. »Weder auf der einen noch auf der anderen Seite.«
»Dann bleibt für dich nur herauszufinden, was dahintersteckt. Mr Walker ist ein wichtiger Klient, der uns auch weitere Kunden vermittelt hat. Du bist der Beste in deinem Fachgebiet, einer der besten Anwälte in Seattle, abgesehen natürlich von Zayn, Jay und mir …« Er grinste breit und eine braune Haarsträhne fiel ihm in die Stirn, die er mit seiner Hand wegstrich. »Also finde es verdammt nochmal raus, was da abgeht.«
»Du hast recht.«
»Klar, was sonst.« Auf einmal wirkten seine braunen Augen misstrauisch. »Oder steckt noch mehr dahinter? Stehst du etwa auf die Klägerin?«
Ich richtete mich auf. »Du weißt, was mit Harper und diesem Lehrer ihrer Highschool war. Ich mache mir nur Gedanken, ob ich diesmal vielleicht wieder nicht schnell genug handle.«
»Das mit Harper war nicht dein Fehler, Bro, das musst du dir endlich einmal zugestehen. Diese Sache hier liegt völlig anders und wenn du herausfindest, dass Mr Walker doch darin verwickelt ist, stehen wir hinter jeder deiner Entscheidungen, auch wenn es heißt, dass wir Kunden dadurch verlieren. Wir gewinnen wöchentlich neue dazu.« Er zwinkerte mir zu.
Wenn das Mal so einfach war. »Danke dir.« Wir standen auf und Keanu klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter.
»Vergiss nicht unser Date heute Abend im Hazlewood
»Niemals. Zayn würde mir wochenlang in den Ohren legen, wenn ich eine unserer Verabredungen vergessen würde.«
Keanu grinste. »Eigentlich bräuchte er gar keine Assistentin, er könnte seine Termine und sein Leben selbst organisieren und dazu noch unseres schmeißen.«
»Das klingt nach ihm. Bis später!«
»Bye!« Keanu steuerte wieder seinen Schreibtisch an und ich ging zurück in mein Büro, um über das Richtige und das Falsche in unserem Job nachzugrübeln. Wäre ich wie mein Dad, hätte ich jetzt wenigstens einen Ausweg gewusst. Für ihn galt nur Schwarz und Weiß, Recht und Unrecht. Unsicherheiten passten nicht zu ihm und zum ersten Mal bewunderte ich seine kühle Haltung, was seinen eigenen Job als Anwalt betraf. Denn könnte ich die verwirrenden Gefühle, die mich in Andreas Nähe durcheinanderbrachten, einfach abstellen, könnte ich vielleicht sogar eine rationale Entscheidung treffen, die keine Leben zerstörte.