1. Kapitel: Im Tunnel

Samstag, 13. August 2022, 17:33 Uhr

Er war in seinem Tunnel, den Blick nach vorn gerichtet, die Gedanken auf Autopilot. Entfernt nahm er von der Tribüne das anfeuernde Klatschen und Rufen des Publikums wahr, zu dem auch seine Eltern gehörten. Im Augenwinkel sah er die Handzeichen des Trainers und die anspornenden Blicke der Teamkolleginnen und -kollegen. Doch sie waren kaum mehr als Schemen, nur ein Rauschen, das den Tunnel umgab.

Volle Konzentration. Nicht nachdenken, keine Nerven zeigen. Keinen Gedanken an die unglaubliche Physik hinter der Aktion, die er jetzt ausführen musste. Keinen Gedanken an die enormen Kräfte, die gleich auf seinen Körper einwirken würden. Keinen Gedanken daran, dass er nun etwas schaffen musste, was er vorher noch nie geschafft hatte. Wann, wenn nicht jetzt? Es war absolut windstill. Gut so. Jetzt war der Moment. Er war in seinem Tunnel.

Noah holte noch einmal tief Luft und verteilte das Magnesiumpulver auf seinen Händen. Dann packte er den 4,50 Meter langen Aluminiumstab, wog sein vertrautes Gewicht in den Armen und lief los, schneller und immer schneller, die Knie hochgezogen und den Stab leicht geneigt. Genau 20 Schritte bis zur Sprunganlage, alles exakt austariert. Dann kam der entscheidende Augenblick, der Einstich. Wenn man mit 30 Kilometern pro Stunde auf den Einstichkasten zurast, muss schließlich alles stimmen. Ist das nicht der Fall, laufen selbst erfahrene Springer durch; es ist reiner Instinkt, der vor schweren Verletzungen schützt. Das wusste Noah. Aber er spürte, dass alles passte. Ganz in seinem Tunnel stach er den Stab in den Kasten, während er die Arme gestreckt über seinen Kopf hielt. Dabei bog sich der Stab, und Noah sprang ab. Jeder Muskel war aufs Äußerste angespannt, während in diesem Moment das Dreifache seines Körpergewichts an seinem rechten Arm lastete. Nur dadurch, dass die Energie des Einstichs auf den Springer übertragen wird, ist es möglich, der Erdanziehungskraft zu trotzen und mit einer aufrollenden Bewegung nach oben zu schnellen. Noah schwang in einem Sekundenbruchteil erst das rechte und dann das linke Bein so hinauf, dass er kopfüber am Stab hing. Nun kam der wirklich spannende Teil: Als sich der Stab nach der Biegung wieder zu strecken begann, spürte Noah, wie er fast senkrecht nach oben katapultiert wurde.

Mit den Füßen oben und dem Kopf unten war dieser Moment der Beschleunigung fast wie fliegen und ließ stets Glücksgefühle durch Noah strömen. So auch jetzt. Aber im Tunnel war er immer noch; volle Konzentration war weiterhin gefragt, denn nun näherte er sich der Latte. Er drehte sich um seine Körperlängsachse, die Beine vorne weg, die Brust ihr zugewandt. Und dann spürte er es.

Als er mit den Füßen die Latte überquert hatte und den Stab wegstieß, befand sich sogar noch ein komfortabler Abstand von ein paar Zentimetern zwischen seinem Körper und der ruhig daliegenden Begrenzung. Keine Berührung! Das war der Augenblick, in dem er wirklich flog, wörtlich und emotional. Der Augenblick, für den er alles tat. Während er seinen Körper im Fallen auf die Landung vorbereitete, verließ er bereits den Tunnel.

Er hatte es geschafft. 4,80 Meter. Das erste Mal in seinem Leben war er über 4,80 Meter gesprungen und das ausgerechnet bei den Deutschen Jugendmeisterschaften. Egal, was die Konkurrenten noch überspringen würden, dies war sein persönlicher Erfolg, für den er so hart gearbeitet hatte. Ein weiterer Schritt auf seinem Weg. Eine neue persönliche Bestmarke.

Innerhalb von Sekundenbruchteilen fiel alle Anspannung von ihm ab, und ein Strahlen erfüllte sein ganzes Gesicht. Sein Körper klatschte auf die Matte, aber innerlich flog Noah noch immer. So sprang er direkt wieder auf, riss die Arme nach oben und hüpfte vor Freude beschwingt in die Luft. Was für ein Augenblick!

Nun strömten auch all die Sinneseindrücke auf ihn ein, die der Tunnel bisher abgeschirmt hatte: Das Jubeln der Zuschauer auf der Tribüne, die begeisterten Rufe seiner Teamkollegen und der dröhnende Applaus schlugen wie ein Tosen über ihm zusammen. Wie in Trance nahm er wahr, wie Martin triumphierend die Faust ballte und ihm dann lobend auf die Schulter klopfte: „Sehr gut, Noah! Perfekt umgesetzt! Genauso will ich dich sehen!“ Hinter dem Trainer warteten die Mannschaftskollegen. Aylin kam aufgeregt auf ihn zugelaufen und umarmte Noah überschwänglich: „Glückwunsch! Du bist der Wahnsinn!“ Ihre langen schwarzen Haare wirbelten hin und her. Auch Thor lächelte beeindruckt und zeigte ihm den Daumen nach oben: „Vier achtzig, wie super!“ Für den Halbnorweger, der im Wettkampfmodus die Ruhe selbst war, gehörte das schon zu den größtmöglichen Gefühlsäußerungen.

Noah strahlte zurück. Es war, als würde sein ganzer Körper nur aus Glücksgefühlen bestehen. Er hatte es geschafft, die Erwartungen erfüllt, die er selbst und alle anderen an ihn richteten. Das blau-weiße Trikot und die kurze grüne Hose klebten an seinem schweißnassen Körper. Die wohlbekannten Farben des Sportinternats am Schweriner See, wo er jeden Tag so viel dafür gab, Augenblicke wie diese zu erleben.

Aber es ging noch weiter. Während Noah die Erfrischung aus der Wasserflasche genoss, sah er zu, wie die beiden im Wettbewerb verbliebenen Konkurrenten nachzogen. Martin redete etwas über deren Höhepunkt der Flugkurve, aber Noah hörte nur mit einem Ohr zu. Warum konnte der Wettkampf nicht schon zu Ende sein, jetzt in diesem perfekten Moment?

Er musste noch einmal ran. Ehrfürchtig blickte er nach oben und seufzte, als die nächste Höhe aufgelegt wurde. So schnell drehte sich der Wind während des Wettkampfs. Anstatt seinen Erfolg über den neuen persönlichen Rekord auskosten zu können, musste er sich nun konzentrieren und wieder abliefern.

Über 4,90 Meter zu springen wäre natürlich die absolute Krönung. Könnte es klappen, auf eine persönliche Bestleistung gleich noch eine draufzusetzen? „Alles wie zuletzt mit voller Power! Du hast noch ein paar Zentimeter an Höhe gehabt“, rief ihm Martin zu. Also alles wie gerade und dann hoffen und träumen?

Noah nahm denselben Stab wie zuvor, dehnte noch einmal seine Knie und atmete tief durch. Alles ausblenden, auf den Sprung fokussieren. Hinein in den Tunnel. Ein weiteres Mal musste er alle Kräfte mobilisieren. Noah lief los, die ganze Länge der Bahn, Stab in den Kasten, Absprung. Während er im Nachobenschnellen die Aufrollbewegung vollführte und die Welt erneut Kopf stand, spürte er, dass es ein guter Sprung war. Er war souverän und die Bewegung war sicher. Dennoch fehlte das letzte bisschen. Das war ihm bereits bewusst, bevor er mit dem Rücken die Latte streifte und diese zu Boden schickte. Mist! Die Enttäuschung durchströmte ihn wie eine schmerzhafte Welle, als er auf der Matte landete.

Gleichzeitig ärgerte er sich darüber. Er sollte nicht enttäuscht sein. Nein, er sollte sich über den Erfolg der Bronzemedaille freuen, der in dem Moment besiegelt wurde, als die Mitbewerber die 4,90 Meter knackten. Diese Höhe war einfach noch eine Nummer zu groß für Noah, auch wenn er wusste, dass er sich auf einem guten Weg dorthin befand. So war es in seinem Sport: Der letzte Sprung des Wettbewerbs musste stets ein Fehlversuch sein. Die Höhe, die man noch nicht drauf hatte. Doch dieser letzte Eindruck durfte nicht sein Gefühl dominieren und er musste es schaffen, ihn auszublenden.

Noah sog noch einmal die Atmosphäre im Stadion in sich auf, als er sich seine Trainingsjacke überstreifte. Da waren die Zuschauer auf den Rängen, da war das lächelnde Gesicht des Trainers, da waren all die anderen Sportlerinnen und Sportler, die gerade angestrengt ihren Disziplinen nachgingen. Ja, die Deutschen Jugendmeisterschaften hatten ihren ganz besonderen Reiz, und er würde auf dem Siegertreppchen stehen! Er dachte wieder an das berauschende Gefühl von vorhin, als er im Flug die Latte überquert und gewusst hatte, dass er eine neue persönliche Bestleistung aufgestellt hatte. Stabhochsprung als kontrollierter Höhenflug. Noah lächelte. Er konnte mit dem, was er erreicht hatte, wirklich zufrieden sein und freute sich auf die Siegerehrung.

In der Zeit bis dahin schlenderte er mit seinen Teamkolleginnen und -kollegen durch den Athletenbereich. Aylin redete auf ihn ein und erzählte und erzählte. „Das war für die meisten von uns voll der gute Tag. Hast du mitbekommen, dass Luisa Silber im Siebenkampf hat? Nur bei Felix im Hochsprung war irgendwie der Wurm drin war. Kein einziger gültiger Versuch im Finale…“ Wie Aylin es schaffte, an einem Wettkampftag so viel vom Geschehen um sich herum zu verfolgen – entweder selbst oder durch Hörensagen – und trotzdem eine überzeugende Leistung abzurufen, erstaunte Noah immer wieder. Vermutlich lag es einfach an den unterschiedlichen Persönlichkeiten: Er hätte nicht das Gespräch mit dem Mental-Coach gebraucht, um zu wissen, dass er als introvertierter Mensch die Kraft in großem Maße aus sich selbst schöpfte. Für Extrovertierte wie Aylin waren die Menschen und Ereignisse in der Umgebung von größerer Bedeutung.

So redete sie munter weiter: „Aber, Noah, weißt du, das Krasseste war der Fünftausendmeterlauf. Bei den Mädels ist Amelie richtig abgegangen. Unsere Amelie, stell dir vor, Gold mit gerade mal fünfzehn! Und hast du gesehen, was bei den Jungs – “

„Hat dieser Daniel – wie heißt er – Wiesen… Wagen… Wagenknecht mal wieder gewonnen?“, unterbrach Noah sie, um die Geschichte abzukürzen.

Nicht, dass Noah sich viel für den Langstreckenläufer aus Stuttgart interessierte. Er wusste zwar, dass dieser als großer Nachwuchsstar, aber auch als abgehoben und unnahbar galt, weshalb die Läufer des Sportinternats am Schweriner See gern über ihn herzogen. Noah versuchte sich aus solchen Rivalitäten rauszuhalten und war froh, dass es unter den Stabhochspringern keinen derartig ausgeprägten Konkurrenzkampf gab.

Aylin jedoch klang ganz aufgeregt, als sie weiterredete: „Nein, das ist es ja eben! Malte hat gewonnen! Wer hätte gedacht, dass jemand Daniel schlagen könnte? Aber unsere Jungs haben durchgepowert; es war ein richtiger Dreikampf von Malte, Cem und Daniel. Am Ende hat Malte in einer Wahnsinnszeit gewonnen, vierzehn zehn irgendwas, Daniel war natürlich ziemlich zerknirscht, knapp dahinter zu landen. Und Cem hat Bronze geholt. Da darf man als kleine Schwester ausnahmsweise mal stolz sein.“

„Also Gold und Bronze für unsere Jungs“, fasste Noah zusammen. „Wie hat denn Julius abgeschnitten?“

„Julius? Das war ganz komisch; der ist nämlich gar nicht angetreten. Vielleicht kurzfristig verletzt oder so. Hast du was von ihm gehört?“

Noah runzelte die Stirn. Julius, sein Mitbewohner auf dem gemeinsamen Zimmer im Sportinternat, wirkte stets zurückhaltend, ja sogar verschlossen. Es gab Dinge an Julius, die Noah wohl immer ein Rätsel bleiben würden. Doch es erschien ihm wirklich merkwürdig, dass sein Mitbewohner nicht zum Wettkampf erschienen war. Noah nahm sich vor, Julius nach der Siegerehrung eine Nachricht zu schreiben.

„Und weißt du, was an dem Lauf auch verrückt war?“, fuhr Aylin fort. „Nicht nur, dass Malte Daniel besiegt hat, sondern wie er dabei aussah. Mit einem blauen Auge, als ob er aus einem Boxkampf käme! Er scheint gestern Abend ordentlich mit jemandem aneinander geraten zu sein. Ich muss Cem mal fragen, was da los war.“

Darüber würde in den nächsten Tagen im Sportinternat noch geredet werden; das ahnte Noah schon. Aber für den Moment hatte er mehr als genug vom Klatsch und Tratsch. Er war erleichtert, als Aylins Handy klingelte. Sie begann gleich neben ihm ins Telefon zu plappern, entfernte sich dann jedoch endlich. So konnte er sich wieder ein bisschen in sich selbst und in das Glücksgefühl des erfolgreichen Wettkampfes zurückziehen.

Noah war durchaus stolz auf seine Leistung. Diese Medaille war sein bisher größter sportlicher Erfolg und es war ein absolut befriedigendes Gefühl, dass sich die harte Arbeit der letzten Monate und Jahre auf diese Weise auszahlte. Die unzähligen Stunden Muskel- und Konditions-Training mit eiserner Disziplin am Morgen vor dem Unterricht sowie das Sprung-Training am Nachmittag. All das war es wert für diese perfekten Momente des Höhenfluges, wie vorhin bei der neuen persönlichen Bestmarke. Bei 4,80 Meter stand er also nun, wenige Monate nachdem er die 4,70 Meter erstmalig übersprungen hatte. Eigentlich beflügelte ihn seine bisherige Entwicklung. Eigentlich sollte sie ihm den Mut geben, diesen Weg weiterzugehen, hinauf zu 4,90 Meter und dann über die 5 Meter.

Doch beim Gedanken an diesen weiteren Weg war es, als würde Noah ein kalter Wind entgegenwehen. Er wusste, dass er jetzt in die alles entscheidende Phase kam. Noch ein Jahr lang würde er im Sportinternat zur Schule gehen, Unterricht und Sport kombinieren und bei den U20-Jugendmeisterschaften antreten können. Was kam danach? War er gut genug, um mit den erwachsenen Profisportlern mithalten zu können? Um Deutscher Meister zu werden, musste man fast einen Meter höher springen als Noah es an diesem Tag getan hatte, von den Sechs-Meter-Springern der Olympischen Spiele ganz zu schweigen. Olympia, ach ja. Was für ein Traum!

In den nächsten Monaten musste Noah entscheiden, wie realistisch dieser Traum war. Wollte er das wirklich? Er wusste, dass es andere vielversprechende und spannende Möglichkeiten für ihn gab: Mit seiner mathematischen Begabung und seinem Einser-Notendurchschnitt sollte er problemlos einen guten Studienplatz und später einen Beruf finden können, der ihn intellektuell forderte. Und genau das war das Problem. Er musste sich entscheiden. Stabhochsprung-Profi oder Mathematiker, Olympia oder Wissenschaft?

Er war gerade einmal 18; umso mehr belastete ihn die Vorstellung, eine Entscheidung für sein ganzes Leben treffen zu müssen. Und das auch noch in absehbarer Zeit. Dabei versprach das nun beginnende letzte Schuljahr ohnehin verdammt hart zu werden. Schließlich ging es zusätzlich zu den wichtigen Schritten im Stabhochsprung in die Abiturvorbereitungen, und Noahs Ansprüche an sich selbst waren hoch. Er merkte, wie ihm ein Seufzer entwich. Würde er das alles schaffen?

Zum Glück begann wenig später die Siegerehrung. Als Noah auf das Siegertreppchen stieg und die Bronzemedaille umgehängt bekam, durchströmten ihn Tausende Glücksgefühle. Was für ein Moment, umjubelt im Stadion auf das Erreichte zurückblicken zu können! Fast so schön wie das Fliegen über die Stange. Noahs Augen wurden feucht vor Emotionen. Warum konnte es nicht einfach immer so bleiben, warum musste die Zukunft so kompliziert sein?