2. Kapitel: Frühstück in Eppendorf

Sonntag, 14. August 2022, 09:10 Uhr

Die Sonne schien am nächsten Morgen warm durch die Fensterfront der geräumigen Altbauwohnung in einem Jugendstilhaus im Hamburger Stadtteil Eppendorf. Noah schüttete sich etwas Milch über sein Müsli und genoss die ersten Löffel. Seine Mutter blickte ihn über den Frühstückstisch hinweg zufrieden an. Sie hatte ihre dunklen Haare, in denen einige graue Strähnen zu sehen waren, zu einem lockeren Dutt gebunden und trug ein sommerliches gelbes T-Shirt zur engen Jeans. Die Kleidung betonte ihre schlanke Figur. Das dezentes Make-Up überdeckte zudem ihre zarten Falten, so dass sie jünger als ihre 44 Jahre wirkte.

„Tage wie gestern sollte es häufiger geben“, meinte sie.

Noah nickte lächelnd. „Ja, eine Medaille und eine neue Bestmarke, das war schon irre.“

„Und dann noch hier in Hamburg!“ Der Blick seiner Mutter nahm etwas Verträumtes an. „Es ist so schön, dass wir dich mal wieder zu Hause haben.“

Noah musste schlucken. Er war glücklich damit, dass sein Lebensmittelpunkt seit vier Jahren das Sportinternat am Schweriner See war und dass seine Eltern ihm diese Chance ermöglichten. Klar vermisste er sie auch irgendwie, doch das wurde ihm vor allem während seiner seltenen Besuchen zu Hause bewusst. „Ja, dass die Deutschen Jugendmeisterschaften dieses Jahr in Hamburg stattgefunden haben, war wirklich Glück. Mama, ich bin auch gerne zu Hause. Aber …“

„… ich weiß, du hast keine Zeit häufiger zu kommen“, vollendete seine Mutter den Satz mit einem leichten Seufzer. „Ich verstehe mittlerweile, dass dein Trainingsplan so straff ist und Schule und Leistungssport dir viel abverlangen. Damals, als du im Internat angefangen hast, habe ich mir wohl ein paar Illusionen gemacht, dass du die Wochenenden immer hier verbringen würdest. Schließlich ist es von Schwerin nach Hamburg nicht mehr als eine gute Stunde.“

Noah nahm einen Schluck von seinem Fruchtsaft. „Stimmt, es ist eigentlich nicht weit. Aber wir haben samstags häufig Wettkämpfe oder Training, und sonntags bin ich oft am Lernen. Da bleibt echt nicht viel freie Zeit.“

„Das weiß ich ja. Und wir sehen schließlich, wie viel dir der Sport gibt und dass sich das harte Training auszahlt. Aber solange du glücklich bist, ist es doch wunderbar. Du bist einer der besten deutschen Stabhochspringer im Jugendalter und sicher bald auch bei den Erwachsenen! Dein Vater und ich, wir sind unglaublich stolz auf dich.“

„Da kann ich nur zustimmen“, hörte Noah die zufriedene Stimme seines Vaters. Er drehte sich um und sah den schlanken, hochgewachsenen Mann in Jeans und Poloshirt ins Zimmer treten und dabei auf einem Tablet scrollen. Sein markantes Gesicht war von kurzen, grau-braunen Haaren eingerahmt. Wenn Noah ihn ansah, war es ihm, als würden ihn seine eigenen braunen Augen aus dem Spiegel betrachten.

Sein Vater nahm sich seinen Kaffee und setzte sich zum Rest der Familie an den Tisch. Er scrollte auf der Online-Ausgabe der Hamburger Morgenpost zum Sportteil und reichte Noah das Gerät: „Schau mal, hier ist ein Artikel über dich.“

„Schreiben sie wieder, dass ich eigentlich nur aus Langeweile mit dem Stabhochsprung begonnen habe?“, fragte Noah grinsend. Erinnerungen an sein erstes Interview mit einer Lokalzeitung kamen auf. Während einige seiner Mitschülerinnen und Mitschüler im Sportinternat entweder sportlich erfolgreiche Eltern hatten oder von ihren Eltern von klein auf zum Training animiert worden waren, hatte Leistungssport in Noahs Familie früher keinen besonderen Stellenwert gehabt. Sein Vater war Architekt und seine Mutter freiberufliche Übersetzerin, eine klassische gutbürgerliche Hamburger Familie.

„Die Reporterin hätte es damals anders formulieren können, doch in gewisser Hinsicht hatte sie mit der Langeweile recht“, fand seine Mutter. „Ohne die Unterforderung in der Schule wärst du wohl nie zum Leistungssport gekommen. Wenn ich an die Gespräche mit deinen Grundschullehrerinnen zurückdenke, die an dir verzweifelt sind …“

Noah musste kichern: „Ja, das kam nicht so gut an, als ich Frau Müller in der zweiten Klasse nach den Binärzahlen und den Gesetzen der Thermodynamik gefragt habe. Aber den ganzen Kinderkram konnte ich halt schon.“

„Ich weiß noch, wie sie uns dann nach deinem IQ-Test vor die Entscheidung gestellt haben. Du solltest entweder eine Klasse überspringen oder dir eine Freizeitaktivität zur Beschäftigung suchen. Meinetwegen hätte es auch gerne Fußball sein können“, sagte sein Vater.

Noah dachte daran zurück, wie er im Fußballverein nicht besonders glücklich gewesen war. Ja, er war athletisch gebaut, kam von der Größe her auf seinen Vater und konnte immer schon schnell laufen, doch ihn störten die Unwägbarkeiten im Mannschaftsspiel. Er genoss es, die Energie und Kraft zu spüren, die in ihm steckten. Und er liebte es, Disziplin und Kontrolle über das zu haben, was er tat, so wie es in der Leichtathletik der Fall war.

Im Sprint war er gut, doch das war ihm zu monoton. Weitsprung und Hochsprung mit ihrer Kombination aus kontrolliertem Anlauf zum perfekten Absprung und den anschließenden Sekundenbruchteilen in der Luft interessierten ihn mehr. Doch da war noch eine Trivialität im gesamten Ablauf, wie Noah fand. Er brauchte eine größere Herausforderung. Und als er im Alter von elf Jahren den Stabhochsprung ausprobierte, war es um ihn geschehen. Die hohe Komplexität dieser Sportart, die Idee den Stab als Katapult zu verwenden, um der Schwerkraft zu trotzen und sich in unvorstellbare Höhen zu schwingen, die Vereinigung aus totaler Kontrolle der Bewegung einerseits und dem Fluggefühl andererseits – all das faszinierte Noah. Kontrolliertes Fliegen begann er es zu nennen. Disziplin und Freiheit.

„Ich bin jedenfalls happy, dass ich am Ende nicht beim Fußball gelandet bin.“ Noah blickte seinen Vater an, während er seinen Saft austrank. Seine Eltern hatten ihn auch unterstützt, als aus der Freizeitbeschäftigung ein Leistungssport wurde, der immer mehr Stunden in der Woche beanspruchte. Welche Rolle seine weiterhin sehr guten Schulnoten dabei gespielt hatten? Denn ehrgeizig war er immer gewesen, auch als durch das viele Training weniger Zeit zum Lernen blieb.

Im Sportinternat am Schweriner See konnte er seit vier Jahren beides miteinander verbinden. Sein Leben war so, wie er es sich wünschte, harte Arbeit in der Schule für super Noten, harte Arbeit im Training für sportlichen Erfolg. So wie gestern. Noah überflog den Zeitungsartikel über seine Medaille und spürte die Erinnerung an das Glücksgefühl während des Vier-Meter-Achtzig-Sprungs zurückkehren.

Sein Vater riss ihn plötzlich aus seinen Gedanken: „Und morgen geht es für dich gleich weiter mit dem neuen Schuljahr. Das letzte Jahr vor dem Abitur. Ich weiß noch, wie es bei uns damals war … Wir konnten es kaum erwarten, dass die Schule vorbei war. Ach, hätten wir damals bloß gewusst, dass das Leben dann erst so richtig ernst wird. Ernst, aber auch schön.“ Ein zugleich nostalgischer wie nachdenklicher Ausdruck glitt über sein Gesicht.

Noah merkte, wie sich in ihm eine Unruhe ausbreitete. Er dachte an das Ende des vorgezeichneten Weges, des kontrollierten Lebens. „Ich würde mir eigentlich wünschen, dass es im Sportinternat noch weiterginge. Dass nicht alles in einem Jahr vorbei ist.“

„Klar wird es anders, wenn man plötzlich auf eigenen Beinen steht und die volle Verantwortung trägt“, meinte sein Vater. So etwas wollte Noah jetzt erst recht nicht hören. Er musste wohl ziemlich erschreckt dreingeblickt haben, denn sein Vater fügte hastig hinzu: „Wobei das Studentenleben echt eine tolle Zeit ist. Und gerade du wirst dich an der Uni pudelwohl fühlen, dann kannst du endlich so tief in die Materie einsteigen, wie du willst. Durch Praktika und Jobs am Lehrstuhl kannst du neue Erfahrungen sammeln und interessante Leute kennenlernen. Das wird dir guttun. Noah, du wirst sehen, das wird schon. Was für eine Fächerkombination hattest du dir fürs Studium nochmal überlegt?“

„Ich … äh …“, stammelte Noah, während die Unruhe nun seinen ganzen Körper erfüllte. Vor ein paar Wochen hatte sein Vater sich mit ihm zusammengesetzt und ihn ermuntert, neben der Mathematik als Studienfach ein stärker angewandtes Fach wie BWL oder VWL oder gleich Informatik dazuzunehmen. Dabei war sich Noah noch gar nicht so sicher, ob er wirklich Mathe studieren wollte. Erst recht nicht jetzt nach der neuen Bestleistung.

Doch bevor er noch mehr sagen konnte, schaltete sich seine Mutter ein: „Und was wird aus dem Stabhochsprung?“

„Den Stabhochsprung kann Noah bestimmt neben dem Studium als Hobby machen, oder?“ Sein Vater lehnte sich in seinem Stuhl zurück und stellte seine Kaffeetasse ab.

„Hobby?!“ Seine Mutter riss die Augen auf. „Du meinst so ein Hobby wie die Campingausflüge von dir und deinen Kumpels? Oder deine Joggingrunde einmal die Woche? Ganz nett so nebenbei.“ Sie blickte Noah mit einem etwas sanfteren Blick an: „Schatz, wenn du das willst, ist das natürlich in Ordnung. Es ist deine Entscheidung. Ich dachte nur… Ich dachte, dass du den Leistungssport weiterführen willst, der dir so viel gibt. Dass du möchtest, dass sich die Arbeit und die Entbehrungen der letzten Jahre auszahlen.“

Noah sah, wie sie sich wieder an den Vater richtete: „Unser Sohn gehört zu den besten jungen Stabhochspringern in Deutschland und hat die Möglichkeit bei weiterem Training als Profisportler zu den besten der Welt zu gehören.“

Noahs Blick wanderte von seiner Mutter zu seinem Vater und wieder zurück. Ihm war bewusst, dass sie seine Leidenschaft für den Stabhochsprung in den letzten Jahren immer besser nachvollziehen konnte und ihr mehr Bedeutung beigemessen hatte als es bei seinem Vater der Fall war. Dennoch überraschte ihn, wie vehement sie für seine sportliche Karriere eintrat..

„Miriam, es geht hier um Noahs berufliche Zukunft!“ Die Stimme seines Vaters polterte mit einem Mal durch den Raum, so dass Noah erschreckt zusammenzuckte. Mit geröteten Wangen funkelte er seine Frau an. „Natürlich bin ich stolz auf Noah und all das, was er im Stabhochsprung erreicht hat und wieviel Spaß ihm das macht. Aber nach dem Abitur werden die Weichen fürs Leben gestellt. So sehr ich unserem Sohn auch wünsche, Deutscher Meister, Europameister und was weiß ich nicht für Titel zu erlangen, so müssen wir doch den Tatsachen ins Auge sehen. Man kann sich mit Stabhochsprung nicht den Lebensunterhalt verdienen.“

Noah wollte am liebsten fliehen. Er konnte kaum glauben, was plötzlich los war. Seine Eltern stritten selten, doch nun fixierten sie einander mit Blicken und diskutieren seine berufliche Zukunft, als ob er gar nicht im Raum wäre. Wie konnte er am besten eingreifen? Noch während er verzweifelt nach Worten suchten, redete seine Mutter bereits wieder.

„Lebensunterhalt … Wenn es nur ums Geld geht, sollte es ja kein Problem sein, dass wir Noah noch ein paar Jahre länger unterstützen. Aber es gibt auch mehrere Möglichkeiten, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen und dabei Sport auf Weltklasseniveau zu betreiben. Du weißt sicher, dass viele der besten deutsche Leichtathleten als Sportsoldaten beim Bund oder bei der Bundespolizei beschäftigt sind. Damit haben sie ein gesichertes Einkommen und können trotzdem den Sport fast in Vollzeit ausüben.“

„Aber Bund oder Polizei, das passt doch nicht zu Noah!“, stieß sein Vater entrüstet aus. Dann wandte er sich an Noah: „Im Ernst, würdest du beim Strammstehen als Soldat Erfüllung finden? Du warst doch schon immer jemand, der erforschen wollte, was die Welt im Innersten zusammen hält. Jetzt im Studium hast du endlich die Möglichkeit dazu, kannst an anspruchsvollen Forschungsprojekten mitarbeiten, vielleicht ein Auslandssemester einlegen. In dir steckt so viel Potential! Soll der Einserschnitt etwa umsonst sein?“

Noah schmerzten die Worte seiner Eltern nicht nur deshalb so, weil sie seinetwegen diskutierten und er sich ausgeschlossen fühlte. Nein, sie schmerzten auch, weil sowohl sein Vater als auch seine Mutter mit ihren Argumenten irgendwie recht hatten und seinen eigenen inneren Zielkonflikt verkörperten. Er liebte die logische Struktur der Mathematik und die intellektuellen Herausforderungen genauso wie den Stabhochsprung und alles, was er in den Sport investiert hatte. Konnten sich seine Eltern überhaupt vorstellen, wie er sich an diesem Scheideweg fühlte?

Noah schob geräuschvoll seinen Stuhl zurück. „Ich… ich muss mal aufs Klo.“

Er spürte nun die Blicke seiner beiden Eltern auf sich. „Schatz, ist alles in Ordnung?“, fragte seine Mutter besorgt. „Ich weiß, als wir das letzte Mal darüber gesprochen haben, warst du dir über deine Zukunft noch unsicher. Aber auch wenn dein Vater und ich offensichtlich unterschiedliche Ansichten haben, ist es am Ende deine Entscheidung. Wie ist das? Hast du dir inzwischen nähere Gedanken –?“

In diesem Moment klingelte es an der Tür. Noah zuckte erstaunt zusammen, empfand aber gleichzeitig eine gewisse Erleichterung über die Unterbrechung. Seine Mutter blickte ihn überrascht an: „Erwarten wir jemanden?“ Dann stand sie auf, um nachzusehen.

Noah hörte, wie an der Tür jemand etwas sagte, was er nicht verstehen konnte. Kurz darauf vernahm er die gestammelten Worte seiner Mutter: „Guten… Tag. Äh, ja, der ist da… Kommen Sie rein.“ Wer konnte das an diesem Sonntagmorgen sein, der sie so aus der Fassung brachte?

Kurz darauf traten ein Polizist und eine Polizistin in blauer Uniform ins Zimmer. Der untersetzte Mann mit stoppeligen Haaren mochte Anfang 30 sein, die zierliche blonde Frau Mitte bis Ende 20. Noah spürte ihre durchdringenden Blicke auf sich. „Sind Sie Noah Bergmann?“