3. Kapitel: Polizei im Haus

Sonntag, 14. August 2022, 11:46 Uhr

Noah merkte, wie er zu schwitzen begann. Er hatte mit der Polizei in den 18 Jahren seines Lebens bisher noch nie etwas zu tun gehabt. Was wollten die beiden Polizisten nun von ihm? Er hatte sich doch nichts zuschulden kommen lassen, oder? Sofort schossen ihm Gedanken durch den Kopf. Was hatte er in den letzten Wochen angestellt? Das Licht an seinem Fahrrad war defekt und sicher war er auch mal bei Rot über eine Ampel gegangen. So ein Quatsch, deswegen würde die Polizei doch nicht an einem Sonntagmorgen bei ihm aufkreuzen …

„Guten Morgen. Wir kommen von der Schweriner Polizei. Mein Name ist Polizeikommissar Brückner und das ist meine Kollegin Polizeikommissarin Priebnitz“, stellte der Beamte die beiden vor, während sie ihre Dienstausweise vorzeigten. „Sie gehen ins Sportinternat am Schweriner See, nicht wahr?“

Noah nickte. „Ja, das stimmt.“

Polizeikommissar Brückner holte ein kleines Portraitfoto hervor und zeigte es Noah. „Kennen Sie diesen jungen Mann hier?“

„Julius?“, entfuhr es Noah überrascht. „Das ist Julius Adam, mein Mitbewohner im Internat.“ Er betrachtete Julius‘ blasses Gesicht, die dunklen Augen, die schmale Nase und die kurzen dunkelblonden Haare. Sein Lächeln war matt; es war ein typisch ausdrucksloses Foto. Eine sorgenvolle Vorahnung durchfuhr Noah. „Was ist mit ihm?“

Die Gesichtszüge der beiden Polizisten wurden plötzlich sanfter. „Es tut mir sehr leid“, erklärte Polizistin Priebnitz mit mitfühlender Stimme. „Julius Adam ist tot.“

Noah erstarrte. „Tot?“

„Es deutet einiges darauf hin, dass er sich das Leben genommen hat. Deswegen möchten wir uns gerne kurz mit Ihnen unterhalten.“

Ganz entfernt, wie durch eine Nebelschicht hindurch, hörte Noah die Stimme seiner Mutter: „Oh Gott!“ Sein Vater schien kein Wort herauszubringen. Danach herrschte für einen Moment Stille.

Noahs Gedanken kreisten um Julius, den verschlossenen, aber dennoch umgänglichen Langstreckenläufer. Das Zusammenleben mit ihm klappte recht problemlos; beide waren eher stille Charaktere mit dem gleichen Tagesablauf und ähnlichen Bedürfnissen nach Ruhe und Unabhängigkeit. Noah konnte nicht behaupten, seinen Mitbewohner gut zu kennen. Doch dass er nun tot sein sollte, konnte er sich überhaupt nicht vorstellen. Tot – das passte einfach nicht in die Realität eines gesunden jungen Sportlers.

„Was… ist denn passiert mit Julius?“, brachte Noah schließlich hervor.

„Julius Adam ist vermutlich vom Dach des Internats gesprungen. Achter Stock“, erklärte der Kommissar langsam.

„Was?!“ Entsetzen breitete sich in Noah aus und ließ ihn schaudern. Er sah das stattliche Hauptgebäude des Internats vor sich aufragen und musste schlucken. Von dort oben? Die bloße Vorstellung, wie jemand all die Stockwerke hinunterrauschte und am Ende … Noah wollte gar nicht soweit denken. Das Internat, sein Zuhause, sollte der Schauplatz eines tragischen Todes sein?

Die Kommissarin setzte sich auf einen Stuhl und holte Stift und Paper hervor. „Wann haben Sie Julius denn zuletzt gesehen?“ Noah überlegte. Er musste nachdenken, sein Gehirn aus der anfänglichen Schockstarre befreien. Die Erinnerungen an den gestrigen Tag kamen zurück. Seine Bronzemedaille, die neue persönliche Bestmarke … und Aylin, die von dem angeblich denkwürdigen Fünftausendmeterlauf plapperte, zu dem Julius nicht erschienen war. Mist. Noah hatte ihm eine Nachricht schicken wollen. Aber nach der Siegerehrung und der kleinen Feier mit den Eltern und den alten Hamburger Freunden hatte er es komplett vergessen.

Wann also hatte er Julius zuletzt gesehen? Er versuchte, seine Gedanken in Worte zu packen: „Also, am Donnerstag und Freitag war ich im Internat und Julius auch. Wir hatten zwar noch Ferien, aber wir mussten uns auf die Meisterschaften vorbereiten. Freitagnachmittag sind wir alle nach Hamburg gefahren und haben uns am Nachmittag die Sportanlagen angeschaut. Da hatten wir auch ein letztes Training. Ich muss sagen, ich habe nicht so auf die Langstreckenläufer geachtet, aber ich glaube … doch, ich erinnere mich … Ja, da war Julius noch dabei.“

Nun setzte sich auch Kommissar Brückner neben seine Kollegin und beobachtete Noah aufmerksam: „Um wieviel Uhr war das?“

„Ich glaube gegen fünf, halb sechs.“ Noah runzelte angestrengt die Stirn. Ja, das kam zeitlich hin.

Kommissarin Priebnitz‘ Kugelschreiber flog regelrecht über ihren Notizblock. Kurz sah sie zu Noah auf. „Was haben Sie nach dem Training gemacht?“

„Es war der letzte Abend vor dem Wettkampf. Wir hatten gestern Deutsche Jugendmeisterschaften“, fügte er erklärend hinzu. „Den Abend davor verbringen wir immer ruhig. Runterkommen, relaxen. Ich war hier bei meinen Eltern; ich glaube, die meisten anderen waren im Hotel.“

Die Köpfe der beiden Kommissare drehten sich wie auf Stichwort zu Noahs Eltern, als erwarteten sie eine Bestätigung. Noah fragte sich, ob sie seine Angaben anzweifelten. Gehörte das zum üblichen Vorgehen? Er hörte seinen Vater das Wort ergreifen: „Ja, Noah war den ganzen Freitagabend bei uns. Wir waren erst bei unserem Lieblings-Chinesen essen und dann hier zu Hause. Dass unser Sohn nach Hause kommt, passiert wegen der doppelten Belastung durch Abiturvorbereitung und Leistungssport nicht so häufig, und da mussten wir die Gelegenheit nutzen. Wir haben den Abend in aller Ruhe verbracht.“

„Haben Sie nach dem Training noch etwas von Julius gehört? Eine Nachricht oder einen Anruf?“ wandte sich Kommissarin Priebnitz wieder an Noah.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, nichts.“ Julius und er schrieben sich nur selten Nachrichten, außer wenn es um etwas ging, das für das Zusammenleben im Internat wichtig war. Seine Gedanken wanderten zu der Nachricht, die er Julius nach den Meisterschaften hatte schreiben wollen. Hätte er damit etwas ändern können? Andererseits ging es hier um den Tag davor. „Wenn Sie so nach Freitagabend fragen, heißt das, dass …?“ Er brach ab.

Kommissar Brückner nickte. „Julius Adam wurde am Samstagnachmittag vom Hausmeister gefunden. Der Tod ist allerdings bereits am Abend zuvor eingetreten. Es schien sonst niemand zu dieser Zeit auf dem Internatsgelände gewesen zu sein, da sich alle für die Jugendmeisterschaften hier in Hamburg aufhielten. Können Sie sich erklären, wieso Julius nach dem Training am Freitagnachmittag noch einmal zurück ins Internat gefahren und dort vom Dach gesprungen ist?“

Das war die große Frage, und so wild Noahs Gedanken auch kreisten, eine Antwort hatte er nicht parat. Das ergab keinen Sinn. Es wirkte alles unwirklich.

Ein Detail fiel Noah allerdings ins Auge: „Auf dem Dach ist, äh, war Julius tatsächlich ab und zu.“ Die beiden Polizisten blickten Noah überrascht an. Ihm wurde klar, dass er das näher erklären musste. „Julius ist, äh, war sehr zurückgezogen und verbrachte gerne etwas Zeit komplett alleine und ungestört. Im Internat haben wir Zweierzimmer und die Aufenthaltsräume sind auch Gemeinschaftszimmer. Da ist er ab und zu abends alleine aufs Dach gestiegen. Er sagte, er liebte die Freiheit und Einsamkeit dort oben… Das ist eigentlich verboten, doch er hat irgendwie herausgefunden, wie man den Riegel umlegt und die Tür aufbekommt.“ Bei dem Gedanken durchfuhr ihn ein plötzliches Schaudern. Julius‘ Rückzugsort war auch zum Ort seines Todes geworden.

Kommissar Brückner kramte in seiner Tasche. Noah fragte sich, was er wohl suchte. Hatte er noch etwas vorbereitet und wollte seine Informationen nur Schritt für Schritt preisgeben? „Wir haben einen Abschiedsbrief gefunden. Auf Julius‘ Schreibtisch in Ihrem gemeinsamen Zimmer lag dieser Brief.“ Er holte ein DIN-A4-Blatt hervor, das bis knapp zur Hälfte mit computergeschriebenen Zeilen bedruckt war. Darunter prangte die krakelige Unterschrift von Julius:

„An alle die mich kennen:

Es tut mir leid das ich euch das antue. Aber ich muss diesen Schritt gehen, es gibt keine andere Möglichkeit. Ich halte den Druck einfach nicht mehr aus. Ich habe immer gern Sport gemacht und bin gerne gelaufen aber ich bin einfach kein Gewinner so sehr ich mich auch anstrenge. Ich habe keine Kraft mehr weiter in diesem Hamsterrad zu laufen. Schule und Sport ist zu viel, ich kann das nicht leisten. Jeden Tag früh aufstehen und von morgens bis abends ackern im Training und im Unterricht und wofür das alles? Was habe ich davon, von Wettkampf zu Wettkampf, von Klausur zu Klausur. Ich kann das nicht mehr. Ich will das nicht mehr. Es macht mich kapputt. Ich kenne keinen Ausweg. Mein ganzes leben besteht nur aus Druck und Leistung, ich kann so nicht mehr leben. Bitte verzeiht mir.

Julius Adam

„Ist das die Unterschrift von Julius?“, fragte Kommissarin Priebnitz.

Noah betrachtete das geschwungene J und die krakeligen Bögen der darauffolgenden ineinander gehenden Buchstaben. „Ja“, antwortete er. „Julius hat … äh hatte eine total unleserliche und krakelige Schrift. Die Lehrer haben sich bei Klausuren immer beschwert.“ Noah dachte daran, dass Julius froh über jede Hausaufgabe war, die er am Laptop schreiben durfte.

Dann lenkte er seinen Fokus von der Unterschrift wieder zum Inhalt des Briefes, dessen Worte ihn gleichermaßen entsetzten wie verblüfften. Julius war vom Leistungsdruck in Sport und Schule so ermattet, dass er nicht mehr weiterleben wollte? Ausgerechnet am Tag vor der Deutschen Meisterschaften? Und er, der zwar kein naher Freund, jedoch immerhin sein Mitbewohner war, hatte nichts davon gemerkt? Hätte er mehr auf Julius‘ Wohlbefinden achten, mehr nachfragen müssen? Ein schmerzhaftes Gefühl der Schuld breitete sich in ihn aus.

Das schien auch den beiden Polizisten nicht verborgen zu bleiben. „Hat Julius Ihnen gegenüber einmal geäußert, dass er Selbstmordgedanken hatte?“, fragte Kommissarin Priebnitz sanft.

„Nein.“ Noah schüttelte den Kopf. „Julius hat seine Gedanken nicht gerne mit anderen Menschen geteilt. Dass er den Druck so empfindet, also dass das alles für ihn so viel war, dass er… dass er nicht mehr leben wollte … Das hat er nie gesagt. Das hätte ich bei ihm auch nicht gedacht.“

„Wie war Julius in der Schule und im Sport? Gab es Anzeichen dafür, dass er unter besonders hohem Druck stand?“

„Wir stehen im Sportinternat alle unter einem hohen Druck. Wir müssen viel mehr leisten und haben einen härteren Alltag als andere Jugendliche, die keinen Leistungssport machen.“ Noah überlegte, ob das vielleicht zu abgebrüht klang. Er bemühte sich hinzuzufügen: „Aber wir haben es uns ja so ausgesucht und der Erfolg gibt einem so viel zurück!“

„Wenn man Erfolg hat, dann ja“, meinte Kommissar Brückner. „Hatte Julius denn Erfolg in Schule und Sport?“, hakte er nach.

Erst dadurch wurde Noah bewusst, dass er gerade nicht über Julius geredet hatte, sondern über den Druck allgemein und darüber, wie er diesen selbst erlebte. Vielleicht klappte es bei Noah, der sich vom Erfolg antreiben lassen konnte, besser als bei Julius? Er rief sich Julius‘ Leistungen ins Gedächtnis.

„In der Schule war er eher mittelmäßig. Leistungskurse Deutsch und Geschichte. Mit Mathe und den Naturwissenschaften kam er nicht so klar. Doch es hat gereicht. Das Abi hätte er sicher geschafft, wenn auch nicht mit dem besten Schnitt.“

„Und im Sport? Er betrieb Langstreckenlauf, nicht wahr?“, fragte Kommissarin Priebnitz und sah wieder von ihren Notizen auf.

„Ja.“ Noah überlegte. Während sie die Schulfächer gemeinsam hatten, fiel es ihm als Stabhochspringer schwerer, die Läufer einzuschätzen. „Ich glaube, im Leistungssport war es für Julius ähnlich wie in der Schule. Mit dabei, aber nicht top. Wobei… wenn ich mich recht erinnere, hat er sich in den letzten Monaten gesteigert. Aber einige seiner Teamkollegen waren immer noch besser. Malte zum Beispiel. Und Cem.“

„Malte?“ Die Kommissarin hielt ihren Kuli in die Luft.

„Malte Vogt und Cem Özgün. Sie können bestimmt mehr über Julius‘ sportliche Performance sagen. Auch wenn sie keine engen Freunde waren. So etwas hatte Julius nicht.“ Es fühlte sich hart an, das auszusprechen. Noah musste schlucken.

„Verstehe“, sagte Kommissarin Priebnitz mit ausdruckslosem Blick. Sie kehrte wieder zu ihren Notizen zurück. „Sind Ihnen denn in der letzten Zeit irgendwelche Veränderungen bei Julius aufgefallen? Wirkte er bedrückter aus vorher?“

Noah überlegte. In den Sommerferien hatte er Julius nicht viel gesehen. Erst war Noah unterwegs gewesen im Trainingscamp, auf Wettkämpfen und im Urlaub, und zuletzt hatte Julius zwei Wochen an einem Lauf-Trainingscamp in Bayern teilgenommen. Sie hatten sich nur in den Tagen vor den Meisterschaften kurz gesehen. Wie war ihm Julius da vorgekommen? Schweigsam, eigentlich wie immer. Das erzählte Noah auch den beiden Polizisten.

„Das führt uns zu unserer letzten Frage“, sagte Kommissar Brückner. „War Ihnen bewusst, dass Julius schon früher unter psychischen Problemen gelitten hatte? Wir haben ältere Narben entdeckt, die darauf hindeuten, dass er sich vor einiger Zeit an den Handgelenken selbst verletzt hat. Geritzt, wie man sagt.“

Noah nickte. „Das muss in seiner Pubertät gewesen sein, vor einigen Jahren. Er hat nicht viel darüber gesprochen, natürlich nicht.“ Er seufzte. „Die Narben waren ein offenes Geheimnis. Als ich ihn einmal danach gefragt habe, meinte er, er hätte damals eine schwierige Phase durchgemacht. Aber das war wohl für ihn Vergangenheit und er hat mir versichert, sich nicht mehr selbst zu verletzen. Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln. Wie gesagt, er war kein besonders fröhlicher Mensch, aber er wirkte nicht bedrückt oder sorgenvoll. “

„Hmm.“ Kommissarin Priebnitz packte ihren Block ein. „Das Ritzen in der Pubertät passt dazu, dass Julius ein Mensch war, der seine Probleme eher in sich hineingefressen hat, als sie nach außen zu zeigen. Dem Abschiedsbrief nach zu urteilen, schien das auch dieses Mal der Fall gewesen zu sein.“

„Sie haben uns sehr weitergeholfen, vielen Dank!“, sagte Kommissar Brückner freundlich. Beide Polizisten schüttelten Noah die Hand. Dann gab die Kommissarin Noah ihre Visitenkarte: „Falls Ihnen noch etwas einfällt, das uns helfen könnte, den Freitod von Julius endgültig zu klären, sagen Sie uns doch bitte Bescheid.“

Damit verließen sie das Haus und ließen Noah völlig aufgewühlt zurück.