Sonntag, 14. August 2022, 16:08 Uhr
Der sanfte Bass der Imagine Dragons erfüllte Noahs ganzen Körper. Er liebte den Indie-Rock der Band. Die schnellen, harten Klänge von Believer und Whatever It Takes waren die ideale Kopfhörer-Begleitung beim morgendlichen Muskel- und Konditionstraining. In manchen der Texte ging es darum, Widerstände zu überwinden, das Adrenalin im Blut zu spüren und nicht aufzugeben. Für Noah drückten sie perfekt seine Gedanken beim Sport aus. Anders war es bei den langsameren, gefühlvolleren Songs wie Demons . Diese hörte er dann, wenn ihm melancholisch zumute war. Und wenn er zu viele Gedanken im Kopf hatte, so wie jetzt.
Die Mecklenburgische Landschaft zog vor dem Fenster des Regionalexpresses vorbei. Noah blickte auf die abgeernteten Weizenfelder, auf denen nun die Heuballen lagen. Auf einer Weide standen ein paar Kühe und waren mit dem Wiederkäuen beschäftigt. Noah lauschte der Musik aus seinen Kopfhörern. Dämonen. Mit welchen inneren Dämonen hatte Julius gekämpft?
Er musste sich eingestehen, dass er tatsächlich recht wenig über Julius wusste. Dabei waren sie seit vier Jahren in der gleichen Jahrgangsstufe und seit einem Jahr auf dem gleichen Zimmer gewesen.
Als Noah in der 9. Klasse ins Sportinternat wechselte, ging Julius bereits auf die Schule. Noah hatte sich damals relativ schnell an den harten Trainings- und Schulalltag gewöhnt. Bei praktischen Dingen half ihm sein damaliger Mitbewohner Clemens. Er dachte zurück an Clemens, den zwei Jahre älteren Speerwerfer. Das Internat achtete bei der Zimmerverteilung bewusst auf eine Kombination aus jüngeren und älteren Schülern und eine Vermischung der sportlichen Disziplinen, um den Zusammenhalt über Jahrgangsstufen und Sportarten hinweg zu stärken.
Noah fand, dass das gut funktionierte. Mit der Zeit hatte er dann unter den Mitschülerinnen und Mitschülern ein paar Freundschaften geschlossen, insbesondere mit der Siebenkämpferin Luisa sowie mit Thor und Aylin aus seinem Stabhochsprung-Team. Aber mit dem Einzelgänger Julius hatte er nie viel zu tun gehabt – bis Clemens im vergangenen Jahr Abitur machte und Noah mit Julius zusammen auf einem Zimmer landete.
Wenn Noah an das Zusammenleben dachte, kam ihm der Ausdruck „klappte problemlos“ in den Sinn. Julius hielt sich an Abmachungen, war leise und ruhig, was wollte man mehr? Nein, eine Freundschaft hatte sich nicht zwischen den beiden entwickelt. Es gab nichts Negatives, aber auch nicht viel Positives im Zusammenleben, kaum schöne gemeinsame Erlebnisse, kaum Dinge, die sie freudig miteinander geteilt hätten. Hätte Noah sich so etwas gewünscht? Er wusste es nicht. Noah musste zugeben, dass er nicht unglücklich darüber war, wenn Julius mal wieder zwei abendliche Stunden auf dem Dach verbrachte und er dadurch mehr Ruhe zum Lernen hatte.
Aber nun konnte er sich nicht des inneren Vorwurfs erwehren, dass er sich mehr für Julius hätte interessieren sollen. Was wusste er wirklich über ihn? Von den wichtigen Dingen, nicht von den Belanglosigkeiten des Mitbewohneralltags, wie der Marke der Zahnpasta oder dem Klingelton des Handys? Das war die Star Wars Anfangsmelodie; genau wie auch der Star Wars Sticker auf Julius‘ Laptop davon zeugte, dass er ein Fan der Saga war.
Er wusste, dass Julius aus Wismar stammte, der kleinen Hansestadt an der Ostsee. Viele Internatsschüler kamen aus dem Norden oder aus der Mitte Deutschlands, aber mit seiner Heimatstadt war Julius besonders nah am Ort des Internats. Über seinen familiären Hintergrund konnte Noah nicht viel sagen – bis auf die Tatsache, dass Julius mal eine ältere Schwester erwähnt hatte. Sabine hieß sie und studierte irgendetwas in Rostock. Oder war es Greifswald?
Was waren abseits von Star Wars noch Julius‘ Interessen, was waren seine Träume gewesen? Der Langstreckenlauf, für den er mit seiner kleinen und schmächtigen Statur passend gebaut war, schien ihm Kraft zu geben. Zuletzt hatte er seine Zeit verbessert, kam aber an Malte und Cem sowie den dominierenden Jungstar des Fünftausendmeterlaufs, Daniel Wagenknecht aus Stuttgart, nicht heran.
Julius war kein Überflieger, weder in der Schule noch im Sport, doch hatte ihn das so belastet, dass er es nicht mehr aushielt? Der Gedanke passte nicht zu Julius. So wie Noah seinen Mitbewohner eingeschätzt hatte, schien dieser nicht unglücklich damit, der zurückhaltende Läufer im Hintergrund zu sein. Der Läufer, der dem Sport in erster Linie um des Laufens willen nachging und nicht um als strahlender Sieger im Rampenlicht zu stehen. Doch was wusste er schon über seinen Mitbewohner? Wahrscheinlich träumte Julius genauso wie alle davon, einmal eine Olympiamedaille zu gewinnen, so unrealistisch es für ihn auch war. Er war kein Gewinner, wie er im Abschiedsbrief schrieb. Aber sich deswegen das Leben zu nehmen? Dazu musste er sich in einem bodenlosen seelischen Tief befunden haben. Noah dachte daran, wie Julius ihm mit Blick auf seine Narben versichert hatte, sich nicht mehr selbst zu verletzen. Doch womöglich waren die inneren Dämonen, die Julius schon früher zum Ritzen getrieben hatten, zurückgekehrt. Und er, Noah, hatte nichts davon mitbekommen.
Die Durchsage „In wenigen Minuten erreichen wir unsere Endstation Schwerin Hauptbahnhof“ riss Noah aus seinen Gedanken. Jetzt schon? Er hatte gar nicht darauf geachtet, wie schnell sich die Felder vor dem Zugfenster in die Dächer Schwerins verwandelt hatten. Er packte seine Sachen zusammen und verstaute die Kopfhörer, nachdem die letzten langgezogenen Töne von Birds verklungen waren.
Um vom Bahnhof Schwerin aus ins Sportinternat zu kommen, musste Noah noch ein paar Minuten mit dem Bus fahren. Während er an der Bushaltestelle wartete, versuchte er den Blick in die Zukunft zu richten. Er spürte, dass ihn Julius‘ Tod noch länger beschäftigen würde, doch gleichzeitig galt es, einen guten Start in das neue, letzte Schuljahr zu bekommen und dann die Entscheidung über seinen weiteren Weg zu treffen. Dass viele seiner Mitschülerinnen und Mitschüler ihre Sorgen gerne gegen seine tauschen würden, machte es ihm auch nicht viel leichter. Ja, er hatte ein ausgezeichnetes Zeugnis und nun eine Bronzemedaille mit neuer Bestleistung, doch was sollte er in einem Jahr machen? Und dazu kamen jetzt noch die Gedanken an Julius und daran, was dieser wohl für innere Kämpfe ausgefochten haben musste.
Immerhin wusste Noah, dass ihm der harte, aber geregelte Tagesablauf im Sportinternat Halt geben würde. Seinen Alltag hatte er unter Kontrolle; das war bekanntes Terrain. Es war gut, dass es am nächsten Tag wieder los ging.
Mit einem zuversichtlichen, wenn auch noch etwas schwachen Lächeln auf den Lippen stieg er in der Bus. Da spürte er sein Handy in der Hosentasche vibrieren. Luisa! Sie fragte ihn, wann er ankommen würde, damit sie sich treffen konnten. Das war doch eine gute Idee. Er hatte seine beste Freundin bei all den Urlauben und Trainingslagern zuletzt kaum gesehen. Er schrieb schnell zurück: „Bin gerade im Bus und in ein paar Minuten da. Lass uns um halb sechs am Eingang treffen, dann kann ich vorher noch meine Sachen aufs Zimmer bringen. Okay?“
Der Bus fuhr am Schweriner See entlang. Bald konnte Noah sehen, wie sich die Umrisse des Internatsgebäudes in der Ferne abzeichneten und dann immer größer wurden. Mit seiner Inschrift verkörperte das auf Leichtathletik spezialisierte Sportinternat die Bedeutung des lateinischen Wortes Altius – höher. Laut den hochtrabenden Werbeprospekten wuchsen hier junge Sporttalente an sich selbst und schließlich über sich hinaus; hier sollten sie exzellente Leistungen erbringen und zwar sowohl sportlich als auch schulisch. Kleine Klassengrößen und individuelle Förderung durch die Lehrkräfte sorgten für eine gute schulische Betreuung bis zum Abitur. Die erstklassige Ausstattung der Sportanlagen sowie die Unterstützung durch spezialisierte Trainer-Teams, Physiotherapeuten und, Mediziner lieferten die ideale Voraussetzung für eine sportliche Entwicklung auf internationalem Niveau.
Tatsächlich würde Noah diesen Aussagen uneingeschränkt zustimmen. Er war glücklich, dass er dank seiner Eltern diese Chance hatte. Billig war das natürlich nicht. Jedoch gab es ein großzügiges Stipendienprogramm für all jene Nachwuchstalente aus nicht so gutbetuchten Familien. Nicht zuletzt waren auch verschiedene Stiftungen und Initiativen auf Bundes- und Landesebene zur Förderung des Nachwuchssportes finanziell beteiligt.
All dies brachte entsprechende Erwartungen mit sich. Gute Abiturnoten und Siege bei den Meisterschaften, das wünschten sich all die Eltern und Lehrpersonen, Trainerinnen und Trainer, bis hin zu den Geldgebern. Noah gelang es meistens, diesen äußeren Druck auszublenden. Ihm war wichtig, dass er selbst mit seiner Leistung zufrieden war. Wenn er den hohen Ansprüchen an sich selbst gerecht wurde, waren alle anderen auch glücklich. Meistens empfand er diesen Druck als Antrieb. Doch wie belastend und negativ der Druck auch sein konnte, zeigte Julius‘ Abschiedsbrief. Noah musste schlucken, als er wieder daran dachte.
Der Bus hielt und Noah legte die letzten Meter zum hohen Internatsgebäude zu Fuß zurück. Malerisch am Schweriner See gelegen, praktizierte das Sportinternat das Konzept der kurzen Wege. Hier fand man alles unter einem Dach. Das Hauptgebäude im nachgebauten klassizistischen Stil war acht Stockwerke hoch. Unten lag der große Speisesaal; in den mittleren Etagen befanden sich die Unterrichtsräume und unter dem Dach die Büros und privaten Räume des Personals. Im linken und rechten Seitenflügel lagen jeweils die Wohneinheiten für die Mädchen und Jungen. Direkt neben dem Hauptgebäude waren das Trainings-Center mit den Geräten für Kraft und Kondition sowie die große Sporthalle mit der Ausstattung für die einzelnen Sportarten. Und daran schloss sich der Freiluftsportplatz an.
Noah steuerte auf den Eingang zu. Es tat gut, aus der Augustsonne ins kühle Foyer zu kommen! Den Bildern an der Wand, die strahlende ehemalige Schülerinnen und Schüler mit ihren Medaillen um den Hals zeigten, warf er nur einen kurzen Blick zu. Am anderen Ende des Foyers sah er ein paar jüngere Mädchen als Gruppe zusammenstehen und plaudern, ansonsten war er allein in der Halle. Er bog nach rechts zum Seitenflügel der Jungen ab und nahm die Stufen in den zweiten Stock.
Vor der Glastür zu seinem Wohnbereich hielt er seine Zimmerkarte ans Lesegerät. Dahinter befanden sich sechs Zweierzimmer und der Gemeinschaftsraum. Noah atmete tief durch, als er auf den Gang trat und zu seinem Zimmer ging. Nach einem weiteren Vorzeigen der Karte öffnete sich die Tür des Zimmers, das er sich bis jetzt mit Julius geteilt hatte. Noah trat hinein und wurde sogleich von einem Gefühl der Beklommenheit übermannt. Es sollte sein Zuhause sein und doch wirkte es plötzlich merkwürdig leer. Alle Sachen, die Julius gehört hatten, waren bereits verschwunden. Julius‘ Bett war abgezogen, sein Schreibtisch war leer, und die Tür zum ebenfalls leeren Kleiderschrank stand offen. Vermutlich hatten Julius‘ Eltern alles mitgenommen, nachdem sein Tod am Tag zuvor entdeckt und die Polizei alarmiert worden war.
Noah seufzte und begann, seine Reisetasche auszupacken. Doch als er die Tür zu seinem Schrank öffnete, erschrak er. Seine Klamotten, Bücher und Schulsachen waren anders angeordnet als sonst. Da hatte jemand in seinen Sachen gewühlt! Eine Unruhe breitete sich in Noah aus.
Dann traf ihn die Erkenntnis. Natürlich musste es die Polizei gewesen sein. Wer auch sonst? Als sie den Abschiedsbrief auf Julius‘ Schreibtisch fanden, hatten sich die Polizisten vermutlich genauer umgesehen und dabei alles, auch Noahs Seite des Zimmers, unter die Lupe genommen. Aber ein schaler Beigeschmack blieb.
Noah blickte auf die Uhr. Mist, schon kurz nach halb sechs. Höchste Zeit, um Luisa zu treffen.