Sonntag, 14. August 2022, 17:35 Uhr
Als Noah hinunter ins Foyer kam, wartete Luisa bereits auf ihn. Mit dem bunten T-Shirt im Batik-Look, dem Jeans-Rock und den Riemchensandalen erweckte sie den Eindruck, als käme sie gerade vom Strand. Im Gegensatz dazu stand ihr betroffener Gesichtsausdruck, mit dem sie Noah empfing und fest umarmte. „Mensch, die Sache mit Julius ist so tragisch! Für dich als Mitbewohner sicher besonders. Mein Beileid!“
Noah schluckte. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Am liebsten wollte er das Thema vermeiden. „Äh, danke. Ich … ich kann das noch gar nicht glauben. Wirklich schrecklich.“
Für einen Moment gingen sie schweigend nebeneinander her. Der kleine Weg führte sie vom Internat am See entlang. Noah nahm wahr, wie die Spätnachmittagssonne das Wasser funkeln ließ und die Wellen sanft ans Ufer rollten. Eigentlich viel zu schön für diesen beschissenen Tag, dachte er. Außer ein paar Jugendlichen, die am Rand des kleinen Waldes picknickten, waren keine anderen Menschen in der Nähe zu sehen. Nur ein paar Enten und Wasserhühner schwammen am Ufer entlang. Und jetzt würden Luisa und er hier sitzen und über den Tod reden? Konnte sie ihn stattdessen nicht etwas ablenken?
Luisa ließ sich ins Gras fallen. Mit hochgezogenen Knien setzte Noah sich neben sie und wartete mit einem wachsenden Kloß im Hals darauf, dass sie etwas sagte. „Ich kannte Julius ja kaum. Aber es ist so traurig“, brachte sie mit gesenktem Blick hervor. Dann wandte sie sich Noah zu und ihre dunklen Augen verengten sich: „Ich habe gehört, dass er wieder richtig tief in die Depression gerutscht ist – hast du davon irgendwas mitbekommen?“
Noah horchte auf. Nun wurde es interessant; Luisa schien etwas zu wissen, was er nicht wusste. „Wer sagt das? Und was meinst du mit wieder tief in die Depression?“
„Aylin hat irgendwas in die Richtung erzählt. Keine Ahnung, ob das stimmt. Aber es macht schon Sinn, oder? Ich meine, er hat sich doch früher geritzt; das konnte ja jeder sehen.“
„Hmmm, ja“, überlegte Noah. „Aber das ist schon lange hergewesen.“
„Du weißt auch nicht, ob Julius in letzter Zeit in Behandlung war? Ich meine, wenn man überhaupt nicht mehr leben will, muss es einem schon richtig scheiße gehen. Von daher passt das mit der Depression, oder?“
„Kann schon sein“, hörte sich Noah schnell antworten. Luisas Argumente machten Sinn, keine Frage. Doch wie war es möglich, dass ihm eine solch schwere psychische Erkrankung an seinem Mitbewohner nicht aufgefallen war? Er spürte den Drang, sich zu rechtfertigen, sowohl vor sich selbst, als auch vor Luisa. „Ich habe ihn wegen der Ferien nicht viel gesehen und er war … er war ohnehin nie der gesprächige Typ.“
„Das bist du ja auch nicht gerade“, sagte Luisa geradeheraus. Sie machte eine Pause und blickte ihn eindringlich an. „Noah, du weißt, dass du zu mir kommen kannst, wenn du reden willst. Ob über den Tod von Julius oder irgendwas anderes.“
Noah nickte langsam. „Ja, ich weiß. Danke, es geht schon. So gut hab ich Julius ja auch nicht gekannt.“
Er hörte eine Möwe kreischen. Eine Unterbrechung der Stille – läutete sie vielleicht das Ende dieses Gesprächs ein? Einen Themenwechsel?
„Das Leben muss weitergehen“, sagte Noah schließlich. „Lass uns über was anderes reden.“
Auch Luisa schien über die Gelegenheit dankbar. Sie nickte langsam. Dann hellte sich ihr Gesicht plötzlich auf: „Hey, ich hab dir noch gar nicht zur Medaille gratuliert!“
Stimmt, da war was … am Tag zuvor, der gefühlt schon so weit zurücklag. „Danke! Und dir auch! Silber im Siebenkampf, wie geil!“, fügte er schnell hinzu.
„Ich bin echt happy damit! Es gibt Leute, die behaupten, Silber würde sich nicht so gut wie Bronze anfühlen, weil du dich als Bronzegewinner freust, überhaupt auf dem Treppchen zu stehen, und mit Silber enttäuscht bist, dass es kein Gold ist. Find ich aber nicht. Jede Medaille ist super! Und man muss schließlich noch Ziele für die Zukunft haben!“
Noah konnte nicht anders, als über den üblichen Optimismus seiner Freundin zu schmunzeln. Es war gut, wieder hier zu sein. Fast so, als wäre nichts geschehen.
„Deine neue Bestleistung konnte ich leider nicht miterleben“, sagte Luisa. „Da war bei uns gerade Speerwurf dran. Aber was Thor erzählt hat, ist der Wahnsinn. So cool, wie du da drübergeflogen sein musst!“
Noah dachte zurück an den Moment. „Das war echt ein unbeschreibliches Gefühl, neue Bestleistung und Siegertreppchen bei den Jugendmeisterschaften. Der perfekte Abschluss der Sommerferien.“
Ein leichter Wind kam auf, der die kleinen Wellen mit noch mehr Kraft ans Ufer rollen ließ. Noah hatte schon lange festgestellt, dass der Schweriner See für einen Binnensee recht starke Wellenbewegungen hatte. Nun fielen sie ihm besonders auf. Auf und ab, auf und ab. Er verfolgte die Wellen mit dem Blick.
„Abschluss der Sommerferien … und morgen geht die Tretmühle aus Schule und Training wieder los. Aber hey, es ist dein letztes Jahr!“
Oh, nein, bitte nicht auch noch dieses Thema , durchfuhr es Noah, während er gequält lächelte. Über sein Entscheidungsproblem für die Zukunft wollte er jetzt nicht reden. Auf der verzweifelten Suche nach einem anderen Thema blickte er Luisa an und entdeckte einen dunkelroten Fleck an ihrem Hals, halb verdeckt vom Saum ihres T-Shirts.
„Tja, dann kannst du jetzt nicht mehr den ganzen Tag mit Thor rumknutschen, sondern nur in den Pausen zwischen Schule und Training“, stellte er neckend fest.
Unter Luisas gespielter Empörung war die Glückseligkeit, die der Gedanke an ihren Freund hervorrief, nicht zu verbergen: „Hey, wir haben auch in den Ferien nicht den ganzen Tag geknutscht, sondern viel trainiert. Außer in der Woche Urlaub, als wir mit Thors Familie in Norwegen waren. Aber du kannst dir denken, dass vor den Augen seiner Eltern und Großeltern auch nicht viel mit Knutschen war.“
Ihr Blick wanderte verträumt in die Ferne und über den See hinweg. „Hach, trotzdem war es schön, wie Thor mich seiner Oma und seinem Opa vorgestellt und mir seine Lieblingsplätze in Oslo gezeigt hat. Der Blick vom Holmenkollen über den ganzen Oslofjord ist ein Traum! Auch ein paar Wörter Norwegisch hat er mir beigebracht. Jeg elsker deg heißt Ich liebe dich …“ Ihr Gesicht nahm einen seligen Ausdruck an und sie strich sich eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, hinter die Ohren.
Noah musste schlucken und sagte: „Ich freue mich für euch, wirklich.“
Das stimmte. Es stimmte wirklich. Noah hatte schließlich dazu beigetragen, dass sich seine beiden Freunde nähergekommen waren, und er war sehr froh darüber.
Noah und Luisa waren schon lange platonisch befreundet, doch vor ungefähr einem Jahr hatte sie ihn plötzlich geküsst und gefragt, ob er sich mehr mit ihr vorstellen könnte. Bis heute wusste er nicht, ob Luisa ernsthaft in ihn verliebt gewesen war oder nur ein wenig Erfahrung sammeln wollte. Aber die Situation hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen.
Für ihn ging das einfach nicht. Er hatte es damals geschafft, ihr zu erklären, dass es nichts mit ihr zu tun habe, sondern dass eine Liebesbeziehung in seinem erschöpfenden Alltag zwischen den Zielen eines Einser-Abiturs und sportlichen Höchstleistungen einfach keine gute Idee war. Außerdem wollte er ihre Freundschaft nicht aufs Spiel setzen. Beides entsprach der Wahrheit; schließlich sah Noah in seinem durchkontrollierten Leben weder den Bedarf noch die Möglichkeit für große Gefühle. Dennoch hatte er seiner besten Freundin etwas vorenthalten: den eigentlichen Grund, weshalb sie bei ihm nie eine Chance hätte.
Wie gut für Luisa, dass sie wenig später mit Thor zusammen kam. Es hatte sich für sie gelohnt, den Halbnorweger näher kennen zu lernen, der auf Fremde unnahbar wirkte, aber einen weichen und herzlichen Kern hatte. Für Noah war Thor über seine Rolle als Mannschaftskollege hinaus zu einem guten Freund geworden und für seine platonische Freundschaft zu Luisa war diese Konstellation ideal.
Noah blickte gedankenverloren auf den See, während Luisa vor sich auf die Wiese schaute und ein Gänseblümchen pflückte, das sie zwischen ihren Fingern drehte. Ein Stockenten-Paar watschelte ein paar Meter von ihnen entfernt, das Männchen mit dem grünen Kopf direkt neben dem braun-schwarz gefiederten Weibchen.
„Ach, Noah, du solltest auch jemanden haben. Ich weiß, was du gesagt hast .... dass Schule und Sport für dich das Wichtigste sind und so. Aber ich würde es dir echt gönnen, auch mal richtig verknallt zu sein. Vielleicht solltest du dir einfach einen Ruck geben und versuchen, ein Mädchen näher kennen zu lernen. Hey, wo wir beim Thema sind …” Ihr Gesicht erstrahlte plötzlich und sie grinste verschwörerisch.
„Ich hab eine neue Mitbewohnerin zum neuen Schuljahr. Nele Heukamp. Sie ist supernett! Ich kenne sie schon länger vom Siebenkampf. Sie war immer klar die beste im Weitsprung, mit ihren ewig langen und flinken Beinen. Deshalb ist sie jetzt weg vom Mehrkampf und setzt ganz auf Weitsprung. Hast du sie mal kennen gelernt? Rotblonde Haare, grüne Augen, echt hübsch …”
Noah überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf.
„Sie ist eher der ruhige Typ, hat aber ihre toughen Seiten. Ein bisschen wie du. Ich werde sie dir beim Abendessen vorstellen, dann können wir ihr hier alles zeigen.” Sie begann, auf ihrem Handy zu tippen.
Noah nickte, doch innerlich wuchs in ihm eine gewisse Beklommenheit. Luisas Unterton ließ ihn befürchten, dass sie auf etwas abzielte, was ihm überhaupt nicht passte.
„Ähem, Luisa”, begann er vorsichtig. „Klar kann ich Nele helfen, sich einzuleben. Aber bevor du dir jetzt irgendwas in den Kopf setzt … Ich bin mit meinem Leben sehr zufrieden. Und im letzten Jahr vor dem Abi kann ich wirklich keine Ablenkung gebrauchen. Die nächsten Monate werden hart.”
„Das bezweifle ich nicht“, meinte Luisa. Dann beugte sie sich in seine Richtung und blickte ihm eindringlich in die Augen. „Aber Noah, du bist der letzte, der sich um die Noten Sorgen machen muss. Und sportlich läuft’s bei dir ebenfalls super. Mach dich nicht verrückt. Ab und zu ist es auch schön und wichtig, mal was zu erleben.“
In diesem Moment vibrierte Luisas Handy. „Komm, wir machen uns auf den Weg zum Abendessen. Thor ist schon im Speisesaal und Nele wartet im Foyer.“
Langsam erhob sich Noah und ging mit Luisa ins Hauptgebäude.
Das hochgewachsene, schlanke Mädchen in der hellblauen Jeans und dem weißen „I love New York“ T-Shirt war wirklich hübsch; das musste Noah zugeben.
„Das ist Nele, von der ich dir erzählt habe“, stellte Luisa sie vor. Neles Gesicht zeigte ein süßes Lächeln, eingerahmt von den rotblonden Haaren, die sie sich zurückgebunden hatte. Sie streckte Noah freundlich die Hand entgegen, die er eine Sekunde zu spät entgegen nahm, während Luisa erklärte: „Und das ist Noah, mein bester Freund. Ein Überflieger im Stabhochsprung und in der Schule. Wenn du mal Probleme in Mathe hast, weißt du, an wen du dich wenden kannst.“
Luisa blickte Noah herausfordernd an, woraufhin er sich beeilte „Äh, ja, klar“ zu sagen. Was auch sonst? Noahs Mathe-Kenntnisse standen bei vielen Mitschülerinnen und Mitschülern hoch im Kurs und solange es nicht zuviel Zeit in Anspruch nahm, half er gerne.
„Echt? Da komme ich drauf zurück … Mathe ist überhaupt nicht meins. Mein bisheriger Mathelehrer war aber auch ne Schlaftablette“, gab Nele ein bisschen verlegen zu. „In welche Stufe gehst du denn?“, wollte Noah wissen.
„In die elfte. Meine Eltern meinten, der Beginn der Oberstufe ist der richtige Zeitpunkt für den Wechsel. Jetzt oder nie! Hier hab ich die Chance, im Weitsprung durchzustarten. Das Training soll ja ziemlich hart sein, aber ich freu mich drauf!“ Nele war die Begeisterung anzumerken.
„Das ist die richtige Einstel–“, begann Luisa, hielt aber dann inne. Sie näherten sich den großen Flügeltüren zum Speisesaal, vor denen gerade ein hitziges Streitgespräch im Gange war.