Sonntag, 14. August 2022, 20:29 Uhr
Ligretto spielten sie im Schul- und Trainingsalltag häufig zwischendurch und Noah war meistens gern mit dabei. Bei dem Kartenspiel kam es auf Geschwindigkeit an und darauf, den richtige Überblick zu haben, wenn alle Spieler gleichzeitig die Karten nach Zahlen und Farben sortiert blitzschnell ablegten. Das machte Noah Spaß und eine Runde war im Nu vorbei – ideal, wenn die freie Zeit sehr begrenzt ist.
Auch jetzt war es schön, mit Luisa, Thor und Nele die Karten aufeinander fliegen zu lassen. Noah freute sich, schneller als Thor die grüne Sechs abgelegt zu haben, aber Luisa nutzte diesen Moment, um auf den Stapel daneben ihre rote Drei abzulegen, weshalb er seine eigene rote Drei nicht loswurde.
Nele lernte die Regeln schnell und war ab der zweiten Runde eifrig mit dabei. Noah merkte, wie sie dabei oft zu ihm hinüberschaute und ihn anlächelte, auch in Spielsituationen, in denen sie eigentlich nichts zu lachen hatte. Machte sie das, um sich noch ein paar Spieltricks von ihm abzugucken? Oder steckte mehr dahinter? Was wollte sie eigentlich?
Nach vier Runden reichte es Noah. Er verabschiedete sich und ließ die anderen zu dritt weiterspielen. Er brauchte etwas Zeit für sich. Insbesondere von Neles lächelndem Seitenblick hatte er genug. Doch auch unabhängig davon fühlte er sich wohler damit, in der letzten Stunde vor dem Schlafengehen nochmal in sein Mathebuch zu schauen. Zum Beginn des neuen Schuljahres konnte es nicht schaden, sein Wissen aufzufrischen. Außerdem tat ihm ein Besuch im strukturierten Reich der Zahlen immer gut.
Noah lehnte sich entspannt auf seinem Bett zurück, das Mathebuch auf seinen Knien. Die Logik der Integralrechnung hatte etwas Beruhigendes an sich, eine kontrollierte Welt mit klaren Regeln. Für das bestimmte Integral einer Funktion zwischen zwei gegebenen Punkten gab es einen eindeutigen Rechenweg. Ein Rechenweg, der zu einer Lösung führte, alles klar und logisch, ohne böse Überraschungen. Nicht wie ein Mitbewohner, der vor wenigen Tagen noch in dem Bett dort drüben gelegen hatte und nun einfach weg war. Der sich das Leben genommen hatte, ohne dass Noah etwas davon mitbekommen hatte.
Noah versuchte, sich wieder auf die Integrale zu konzentrieren und sich in die Welt der Mathematik zu flüchten. Es funktionierte für eine Weile. Was für ein gutes Gefühl, wenn die logarithmische Integration aufging und sich die Lösung zeigte. Keine Unwägbarkeiten, keine Seitenblicke, keine Signale, die man womöglich falsch deutete und auf die man irgendwie gezwungen war zu reagieren. Oder eben nicht.
Nele. Mit ihrer netten und charmanten Art, den weichen Gesichtszügen, den für eine Weitspringerin typischen langen Beinen und dafür erstaunlich weiblichen Proportionen würden sich viele Jungs um sie reißen. Nur Noah nicht. Und das war das Problem.
Ihm war schon seit einigen Jahren bewusst, dass der Gedanke an Mädchen bei ihm nichts auslöste – ganz anders als der Gedanke an Jungs. Er dachte zurück an Lars, in den er damals in der 7. Klasse in Hamburg verschossen gewesen war. Was hatte der für einen tollen Körper gehabt! Man hatte ihm ansehen können, dass er schon früh die Pubertät durchgemacht hatte. Natürlich war es bei einer heimlichen und unerwiderten Schwärmerei geblieben, doch Noah war dabei einiges klar geworden. Und auch jetzt hatte er als Leistungssportler jeden Tag viel mit durchtrainierten Körpern beiderlei Geschlechts zu tun. Wenn er sich in den Trainingspausen verstohlen umsah, dann waren es über die Jahre hinweg immer die gleichen Attribute gewesen, an denen sein Blick hängen blieb: breite Schultern, ausgeprägte männliche Brust- und Bauchmuskeln, der Sixpack, schmale Hüften und knackige Pobacken …
Noah spürte, wie es in ihm kribbelte. Wie war es wohl, eine tiefe männliche Stimme sanft am seinem Ohr zu hören? Wie würde es sich anfühlen, wenn sich eine Wange mit Bartstoppeln an seine schmiegte und neugierige Finger sanft über seine Brust strichen? Wenn sich fordernde Lippen an seinem Hals entlang küssten, dort wo auch Thor bei Luisa den Knutschfleck hinterlassen hatte? Wenn die Lippen und sanften Finger tiefer fuhren, über seinen Bauch und immer tiefer? Während seine eigene Hand diese Reise übernahm, unterdrückte Noah ein leises Stöhnen. Er war hart.
Das Mathebuch war längst auf dem Bett neben Noah gelandet. Mit der rechten Hand schob er seine Shorts und die Unterhose nach unten und umfasste sein Glied, während er mit der linken Hand über sein Telefon scrollte. Er brauchte das jetzt, er brauchte noch etwas Input für sein Kopfkino. Da waren sie, die heimlichen Websites mit den Fotos der leicht bekleideten Männer. Und die Fotos und Videos der Männer, die vollkommen nackt und dabei sehr gut bestückt waren … Er begann zu stöhnen, während die Bewegungen seiner rechten Hand immer schneller wurden.
***
Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen nahm Noah ein Taschentuch von seinem Nachttisch und trocknete sich ab, bevor er die Hose wieder hochzog. Er würde noch einen Moment in dieser Erfüllung verweilen und sich dann schlafen legen.
Das waren sie also, seine privatesten Gedanken, die ihm im harten Schul- und Trainingsalltag ein paar heimliche Momente der Lust bescherten. Und gerade weil sie so privat und persönlich waren, wusste niemand außer ihm davon. Sein kleines Geheimnis. Wen ging es schon etwas an, ob er sich beim Gedanken an eine Scheide oder einen anderen Penis einen runterholte? Es war irrelevant.
Vielleicht würde es irgendwann einmal relevant werden, falls er irgendwann einmal jemanden kennenlernte und sich nicht nur von seiner eigenen Hand berühren lassen würde. Noah musste zugeben, dass es Momente gab, in denen er sich wünschte, zu lieben und geliebt zu werden, so wie er es bei Luisa und Thor sah.
So jemanden hatte er noch nicht kennengelernt. Doch wenn er ehrlich war, hatte er auch noch nicht versucht, jemanden kennenzulernen. Wie auch? Natürlich hatte er von den Gay Dating-Apps gehört, aber dabei ging es doch nur um schnellen Sex, oder etwa nicht? Selbst wenn es jemanden in Schwerin oder in der Nähe gab, mit dem er sich über eine App treffen könnte, war Noah nicht der Typ für so etwas. Rummachen um des Rummachens willen mit irgendeinem Fremden. Igitt. Bei dem Gedanken schauderte Noah. Da ließ er lieber die Finger von.
Er wusste natürlich, dass er, wenn er nur in seinem Zimmer saß, lernte und trainierte, keine Möglichkeit hatte, große Gefühle zu erleben und Erfahrungen zu machen. Aber dann sollte es eben so sein. Und wahrscheinlich war es auch besser so. Verliebt sein, jemand anderes an sich heranlassen, aus dem kontrollierten Leben ausbrechen, sich verletzlich machen – das passte einfach nicht zu ihm. Wie sollte denn das gehen im Internatsalltag zwischen Abistress und Leistungssport? So hatte er gegenüber Luisa argumentiert und dazu stand er. Da Noah für so etwas sowieso keine Zeit hatte, war die Frage nach seiner sexuellen Orientierung irrelevant. Klare Schlussfolgerung.
Natürlich hatte er schon überlegt, wie sein Umfeld reagieren würde, wenn er die Worte „Ich bin übrigens schwul“ aussprechen würde. Seine Eltern waren weltoffene Menschen und hätten damit ziemlich sicher kein Problem. Oder? Es könnte natürlich sein, dass sie sich erstmal an den Gedanken gewöhnen müssten und dies für alle unangenehm werden würde. Aber er musste immerhin nicht befürchten, dass sie ihn nicht mehr als ihren Sohn lieben und unterstützen würden. Das redete er sich jedenfalls immer wieder vehement ein.
Auch Luisa, Thor, Aylin und viele der weiteren Teamkolleginnen und -kollegen hätten vermutlich kein Problem damit. Hoffentlich. Doch was ein paar andere Mitschüler anbelangte, war er sich nicht mehr so sicher. Selbst im Jahr 2022 musste man damit rechnen, dass ein Coming-Out im Leistungssport nicht nur positive Reaktionen hervorrufen würde; es gab noch immer Schwulenwitze in Umkleidekabinen und man hörte von Sportlern, die sich weigerten, mit einem Schwulen in eine Gemeinschaftsdusche zu gehen. Auf all das konnte Noah gut verzichten.
Schließlich wusste er, dass er als hochbegabter Einserschüler und Medaillengewinner ein paar Mitschülerinnen und Mitschüler hatte, die ihm den Erfolg neideten und nur darauf warteten, dass er eine Schwäche zeigte. Warum sollte er sich das Leben schwerer machen als nötig?
Er dachte an seine Zukunft, dachte an die mögliche Profi-Laufbahn. Schwule Sportler, die in der Öffentlichkeit standen, hatten es nicht leicht. So gab es immer noch die oft ausgesprochene, oft implizite Unterstellung der fehlenden Kraft, der fehlenden Männlichkeit. Zwar war das in der Leichtathletik nicht so ausgeprägt wie in den populären Mannschaftssportarten wie Fußball oder Eishockey. Außerdem hatten einzelne Sportler in den letzten Jahren mit ihrer Vorreiterfunktion viel erreicht. Noah dachte mit einem Lächeln auf den Lippen an Tom Daley. Ja, dem Briten konnte man sehr gut zusehen, wie er in seiner eng sitzenden Badehose vom 10-Meter-Brett sprang und mit seinen Saltos Medaillen holte! Dennoch war die Liste der offen schwulen Olympiasieger nicht gerade lang. Es war nicht zu bestreiten, dass man als geouteter Athlet mehr Hürden zu überwinden hatte und es deswegen nur so wenige taten.
Natürlich kannte Noah das alte Argument, dass sich nichts ändern würde, wenn alle so dachten. Aber warum machte er sich eigentlich damit gerade so verrückt? Er war schließlich kein Profisportler im Rampenlicht, der eine Beziehung geheim hielt. Er war bloß ein introvertierter Einserschüler im Sportinternat, der noch nie einen Jungen geküsst hatte, auch wenn er sich das manchmal wünschte. Die ganze Frage war in seiner aktuellen Situation irrelevant.
Noah erhob sich vom Bett, um seine Zähne zu putzen und sich dann schlafen zu legen. Er hatte jetzt im Schuljahr vor den Abiprüfungen, in dem es gleichzeitig galt, sich im Stabhochsprung von der Jugend- zur Erwachsenennorm zu steigern, schon genug Herausforderungen. Vielleicht hatte er ja Glück, und Nele würde ihre Aufmerksamkeit bald jemand anderem zuwenden, der sie erwidern würde. Hoffentlich.