10. Kapitel: Teuer und sexy

Montag, 15. August 2022, 16:06 Uhr

Das Adrenalin schoss durch Noahs Körper. Seine Sinne waren aufs Äußerste gespannt. Mit pochendem Herzen öffnete er die Tür vorsichtig einen Spalt und linste ins Zimmer. Zuerst sah er das Bett, das bis vor drei Tagen Julius gehört hatte. Darauf lag ein geöffneter Koffer und darüber gebeugt stand jemand. Es war ein junger Mann in einem blauen T-Shirt, beigefarbenen Shorts und dunkelblauen Chucks. Athletisch schlank. Definitiv gut aussehend, sehr gut aussehend. Soviel war klar, auch wenn Noah ihn nur gebückt und von der Seite sehen konnte.

Sein Herz klopfte noch schneller und er öffnete die Tür weiter. Der junge Mann war gerade dabei, eine graue Jeans aus dem Koffer zu nehmen, als er durch das Knarren der Tür auf Noah aufmerksam wurde und sich aufrichtete. Er war fast so groß wie Noah selbst.

Ihre Blicke trafen sich. Noah erblickte strahlend blaue Augen, die ihn neugierig ansahen und perfekt zu den kurzen, aber wuscheligen dunkelblonden Haaren des Mannes passten. Ein paar Strähnen fielen ihm in die Stirn. Sein Gesichtsausdruck war erst von Überraschung gezeichnet, die sich schnell in ein freundliches Lächeln umwandelte. Noah dagegen merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss und sich noch verstärkte, als ihm klar wurde, wie er wohl gerade aussehen musste, so verschwitzt und erschöpft kurz nach dem Training. Er blickte an sich herunter, sah auf das ärmellose blau-weiße Trikot, das an ihm klebte, und auf die kurze grüne Hose. „Ich … äh … ich hatte grad Training“, brachte er zu seinem eigenen Erstaunen hervor. Was war das für eine verrückte Erklärung zur Begrüßung? Warum rechtfertigte er sich eigentlich dafür, in verschwitztem Zustand in sein Zimmer zu kommen? Vielmehr sollte er fragen, wer dieser Adonis war und was er hier machte!

Der Typ grinste auf Noahs Kommentar hin, musterte ihn in seinen Sportklamotten und meinte: „Das sehe ich.“ Dann fügte er hinzu: „Hallo erstmal! Ich bin Nico. Bin neu hier und ja … wie es aussieht, sind wir Mitbewohner.“ Seine Stimme klang kraftvoll und sein Gesicht wurde von einem Lächeln erstrahlt, das ihm sehr gut stand.

Er trat einen Schritt auf Noah zu und streckte ihm die Hand entgegen. Als Noah sie zögernd annahm und den festen, aber angenehm sanften Händedruck fühlte, spürte er noch einmal den Drang, sich für seinen schweißnassen Zustand zu entschuldigen. Zum Glück nahm die Vernunft Überhand und er sagte stattdessen: „Äh, dann herzlich willkommen. Ich heiße Noah.“

Noah versuchte, dem Blick aus den blauen Augen stand zu halten und Nico genauer zu betrachten. Sein Gesicht war schmal geschnitten mit klar definierten Wangenknochen; winzige Bartstoppeln deuteten an, dass er sich heute nicht rasiert hatte, was ihm einen noch männlicheren Ausdruck verlieh. Unter dem Kinn hüpfte sein Adamsapfel. Selbstbewusst wirkte er, aber dabei dennoch entspannt und cool. Irgendwie natürlich. Und vor allem total sexy.

Noahs Herz klopfte immer noch mit voller Kraft und ihm schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Sie reichten von Verwirrung, dass er so kurz nach Julius‘ Tod einen neuen Mitbewohner bekommen sollte, bis hin zu einer merkwürdigen Erregung, dass es ausgerechnet jemand war, der seinen feuchten Träumen hätte entspringen können.

Wie sollte er damit umgehen? Gerade jetzt zu Beginn des Abiturjahrgangs, wo er keinerlei Ablenkung von Schule und Leistungssport gebrauchen konnte? Was war mit ihm los? Und warum kam ihm dieser Händedruck viel länger vor als normal? Oh Gott, wie peinlich ist das alles.

„Freut mich, Noah“, sagte Nico, wobei seine Stimme etwas leiser klang als vorher. Fast samtig. Dann wandte er sich wieder seinem Koffer zu und sprach in neutralem Ton: „Ich werd mal weiter auspacken. Der freie Schreibtisch und der freie Schrank sind für mich oder wie ist das?“

„Ja, genau. Ich … ich geh dann mal duschen“, sagte Noah und nutze die Gelegenheit, ins Bad zu huschen. Diese Dusche brauchte er dringend! Kaum hatte er die Badezimmertür hinter sich geschlossen, lehnte er sich an die Wand, schloss die Augen und atmete tief durch. Er musste sich zusammenreißen! Was war das für eine verrückte Situation völlig außerhalb seiner Kontrolle?

Die Dusche, die Noah bewusst kälter eingestellt hatte als sonst, tat ihm tatsächlich gut und half ihm, seine Gedanken zu ordnen. Es war doch eigentlich wunderbar, dass er einen neuen Mitbewohner hatte und er nicht ein Jahr lang das leere Bett von Julius anstarren musste. Dazu hatte er das Gefühl, dass dieser Nico ein ganz anderer Typ als Julius war. Das wäre doch eine Chance für einen neuen Anfang. Wenn er nett wäre, vielleicht für eine gute Freundschaft. Oder sogar … Nein, genug davon. Noah musste sich zurückhalten. Kontrolliert und souverän, so war er und so musste er auftreten.

Dummerweise hatte er vergessen, frische Klamotten mit ins Bad zu nehmen. Das fing ja super an.

Nico lag auf dem Bett und las etwas auf seinem Smartphone, als Noah mit nacktem Oberkörper nur mit einem Handtuch um die Hüften aus dem Bad kam. Auf einmal bemerkte Noah, wie sein neuer Mitbewohner den Blick nach oben richtete. Er spürte, wie Nico ihn betrachtete, wie der Blick aus den blauen Augen über seine nassen Haare und sein Gesicht entlangglitt, weiter zu seinem Brustkorb und zu den vom Handtuch verhüllten Körperteilen. Dazu zeigte Nicos Gesicht ein vergnügtes Lächeln.

Noah wurde rot. Soviel dazu, sich kontrolliert und souverän zu zeigen. Er suchte hastig Unterwäsche, Jeans und T-Shirt zusammen. Ganz schön ungeniert, wie Nico gerade seinen Körper betrachtet hatte. Auch wenn er einen gewissen Stolz darüber empfand, dass der Neue von seinem Leistungssportler-Body beeindruckt zu sein schien. Er musste an das Zitat „Like what you see?“ aus amerikanischen Filmen denken. Doch Noah war nicht der Typ, der so etwas sagte.

„Sag mal, könntest du mir das WLAN-Passwort geben? Dieser Code, den ich im Sekretariat bekommen habe, tut’s irgendwie nicht“, riss ihn Nico plötzlich aus seinen Gedanken.

„Klar, ich zieh mich nur kurz an.“ Geht doch , dachte Noah und war stolz auf sich, dass seine Stimme recht normal und kontrolliert klang.

Im Bad brauchte er allerdings länger als gedacht, da er sich ausgiebiger als sonst im Spiegel betrachtete. Er sah seine braunen Augen unter den buschigen Augenbrauen und die Stupsnase, die er von seiner Mutter geerbt hatte. Eigentlich verwendete er nicht zu viele Gedanken auf sein Äußeres, doch nun überlegte er. War es okay, dass die eine dunkle Locke etwas abstand oder sollte er lieber Gel verwenden? Plötzlich schienen solche Dinge eine höhere Priorität zu haben. Oder war es nur Zufall, dass er ausgerechnet die schwarze Jeans gegriffen hatte, über die Luisa einmal gesagt hatte, er habe darin einen Knackarsch?

Schluss jetzt! Noah musste raus aus dem Bad und das Heft in die Hand nehmen. Schließlich war er derjenige, der sich im Sportinternat auskannte! Er konnte Nico nicht nur das WLAN-Passwort geben, sondern noch einiges weiteres zeigen. Und dann würde er die Fragen stellen, zum Beispiel danach, wo Nico herkam und was er so machte. Er wollte herausfinden, was der Neue für ein Mensch war. Und er würde sich von diesem Typen, der solch eine bemerkenswerte Ruhe ausstrahlte, nicht selbst aus seiner Ruhe bringen lassen.

Tatsächlich war es für Noah ein Leichtes, Nico mit dem WLAN-Passwort zu helfen. Zufrieden klappte dieser seinen Laptop zu, auf dem ein Aufkleber der Red Hot Chili Peppers prangte. Gar kein schlechter Musikgeschmack, dachte sich Noah. Er rollte auf seinem Schreibtischstuhl näher zu Nico, der im Schneidersitz auf dem Bett saß.

Noah öffnete den Mund. Jetzt musste sie kommen, seine erste Frage. „Welchen Sport … machst du eigentlich?“, brachte er hervor – und wurde im selben Moment von Nico unterbrochen, der genau die gleiche Frage stellte. Beide mussten lachen, und er stellte fest, dass es Nico ausnehmend gut zu Gesicht stand, wenn seine blauen Augen fast zwischen den Lachfältchen verschwanden.

Great minds think alike “, dachte Noah und war plötzlich entsetzt, diesen Gedanken ausgesprochen zu haben. Aber das konnte man doch in dem Moment sagen, oder?

Nico schien sich über die Bemerkung zu amüsieren: „So ist das. Dann fang du mal an und erzähl, welche verrückte Sportart dir den Schweiß ins Gesicht treibt.“

„Stabhochsprung“, antwortete Noah stolz.

Nico schien beeindruckt zu sein. „Cool! Das sieht immer toll aus, finde ich. Muss aber sauschwer sein!“

„Ja, der Bewegungsablauf ist sehr komplex und genau das liebe ich. Die Sprung-und-Katapultbewegung, der Sieg gegen die Schwerkraft. Es ist ein wahnsinniges Gefühl, die Kontrolle über die Bewegung zu haben und sich gleichzeitig für einen Moment ganz frei und schwerelos zu fühlen. Ein kontrollierter Höhenflug!“ Noah merkte, mit wieviel Begeisterung er sprach und wie gut er sich dabei fühlte. Sein Sport war sicheres Terrain.

„Wow“, sagte Nico. „Jetzt werd ich glatt ein bisschen neidisch. Fliegen ist bei mir nicht drin. Ich laufe einfach nur geradeaus und das ziemlich lange.“ Er grinste und fügte dann hinzu: „Das ist aber auch sehr befreiend.“

„Das glaub ich dir. Langstrecke machen hier einige.“ Wie Julius , fügte Noah in Gedanken hinzu. Doch das war nicht die Zeit, über Julius zu sprechen. „Und du bist jetzt hier aufs Internat gewechselt, um Laufen als Leistungssport zu machen? In welche Stufe gehst du denn?“

„In die dreizehnte. Und du?“

„Ich auch“, antwortete Noah und war gleichzeitig verwundert. „Das ist aber ungewöhnlich, ein Jahr vor dem Abi die Schule zu wechseln.“

„Stimmt. Aber ich glaube, der Neuanfang ist die richtige Entscheidung. Gelaufen bin ich immer gern, hatte bloß zuletzt Pech mit einer Verletzung. Achillessehne.“ Nico blickte hinab auf seine gekreuzten Füße. „Jetzt ist die Chance da, wieder richtig loszulegen. In Sport und Schule. Mathe und Englisch hab ich als LKs. Und du?“

„Echt jetzt? Ich auch!“ Noah merkte, wie er strahlte. Das bedeutete viel gemeinsame Zeit mit Nico, sowohl auf dem Zimmer als auch im Klassenraum. Sofern er sich nicht ablenken und nicht aus der Ruhe bringen ließ, sollte das doch ganz nett werden, oder?

„Wo kommst du denn her?“, wollte Noah wissen.

„Ick bin Berliner“, sagte Nico grinsend. „Haste det noch nich roosjehört? Wenn ich will, kann ich richtig berlinern. Bin da geboren und aufgewachsen.“ Der leichte Berliner Einschlag in Nicos Worten war Noah tatsächlich noch nicht aufgefallen; wahrscheinlich war er vom Rest von Nicos Erscheinung zu sehr in den Bann gezogen worden.

„Cool! Ich komme zwar aus Hamburg, kann aber nicht diesen wirklichen Hamburger Dialekt, so wie die alten Seemänner mit dem Jung-fern-s-tiiieg!“ Er sah erfreut, wie Nico bei dieser Imitation lachte. „Wahrscheinlich liegt es daran, dass weder meine Mutter noch mein Vater ihre Wurzeln in Hamburg haben.“

„Anders als in meiner Familie. Ich bin ein echtes Kind der Deutschen Einheit, meine Mom kommt aus Westberlin, mein Dad aus Ostberlin. Sie haben sich auf einer Studentenparty für Erstsemestler kurz nach dem Mauerfall getroffen. Sie hat Pharmazie an der FU studiert, er Ingenieurswesen an der HU. Es hat dann noch einige Jahre gedauert, bis meine beiden Brüder und ich zur Welt gekommen sind, aber es ist schon krass, wenn man sich das überlegt. Wir nehmen das heute so selbstverständlich hin. Doch ohne die Wiedervereinigung hätten sich meine Eltern wohl nie kennengelernt.“

Noah nickte nachdenklich. „Schon eine irre Geschichte. Du musst mir mal mehr über das Leben in Berlin erzählen.“

„Werde ich machen. Auf dem Kiez ist immer was los und ich liebe meine Stadt. Auch wenn das, was früher mal als arm und sexy galt, jetzt teuer und sexy geworden ist.“ Nico wirkte bei dieser Feststellung leicht melancholisch. Doch bevor Noah zu lange über das Wort „sexy“ aus Nicos Mund nachdenken konnte, sprach dieser weiter. „Aber jetzt hab ich erstmal ein ordentliches Loch im Magen. Du kannst mir doch sicherlich erklären, wo es etwas Essbares gibt. Und was hier sonst noch so abgeht.“