11. Kapitel: Alte Sagen

Montag, 15. August 2022, 17:53 Uhr

„Ich führ dich kurz in der Wohneinheit rum und dann können wir zum Abendessen gehen. Dabei kannst du auch Thor, Luisa und ein paar andere Leute kennenlernen“, erklärte Noah. Er hatte sich fest vorgenommen, Nico gegenüber die Oberhand zu behalten und sich von den bedeutungsvollen Blicken des Neuen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

Noah öffnete die Tür und trat auf den Gang. Er zeigte nach rechts Richtung Glastür: „Da hinten bist du wohl reingekommen. Wir sind immer 12 Schüler in einer Wohneinheit, Jungs und Mädels getrennt, aber sonst gemischt nach Altersstufen und Disziplinen. Die Idee ist, dass wir von den Gemeinsamkeiten und Unterschieden profitieren.“

„Deswegen bin ich als Langstreckenläufer ja mit einem Stabhochspringer wie dir auf einem Zimmer.“ Nico blickte ihn interessiert an und fragte dann: „Sind die anderen Langstreckenläufer eigentlich auch hier?“

„Nein, Malte und Cem zum Beispiel sind in der Wohneinheit eine Etage über uns.“ Noah begann den Gang hinunterzugehen und zeigte nacheinander auf die sechs Türen der Zweierzimmer, die sich zu beiden Seiten des Gangs erstreckten. „Hier wohnt Thor. Er macht Stabhochsprung wie ich und wohnt zusammen mit Felix, der sich auf Hochsprung spezialisiert hat.“

„Und der Stab macht wirklich so einen großen Unterschied?“

„Der Stab macht einen verdammt großen Unterschied!“ Und schon war Noah mit erregter Stimme mitten in einem Vortrag darüber, wie die Kraft beim Hochsprung aus den Beinen und beim Stabhochsprung aus den Armen kommt sowie über die Bedeutung des Stabes als Katapult. Nico unterbrach ihn schließlich grinsend: „Schon kapiert. Ich glaube dir gerne, dass der Stab wichtig ist. Immer gut, einen langen Stab zu haben.“

Diese Bemerkung ließ Noah wieder die Röte ins Gesicht steigen. Wie hatte der Berliner das jetzt gemeint? Noah traute sich kaum darüber nachzudenken. Er wandte sich ab, was Nico wohl mitbekam und immer noch grinsend sagte: „Sorry, der war platt, das geb ich zu.“ Dann zeigte er auf das linke Ende des Ganges, wo genau entgegengesetzt zur Eingangstür eine angelehnte Tür zu sehen war. „Und wo geht’s da hin?“

„Der Gemeinschaftsraum unserer Wohneinheit“, antwortete Noah und war froh über den Themenwechsel. Sie traten in das geräumige Zimmer. Rund um mehrere elektronische Geräte war eine Sitzecke mit Sofa und einigen Stühlen angeordnet. An einer Wand befand sich eine kleine Küchenzeile mit Kühlschrank, ebenso wie eine Waschmaschine samt Trockner. „Der Fernseher stammt noch aus der Zeit, bevor es Netflix gab. Du siehst, wir haben hier sogar noch einen DVD-Player, auch wenn ich außer meinen Eltern niemanden kenne, der DVDs besitzt“, meinte Noah. „Aber es ist praktisch, dass wir hier alles haben, was wir brauchen. Im Kühlschrank kannst du dir einen kleinen Vorrat an Snacks anlegen. Ach, und da hinten unter dem Tisch an der Wand ist noch der Drucker.“ Er beugte sich hinunter und stellte verärgert fest, dass dieser immer noch rot blinkte: „Mist. Das Teil ist schon seit vor den Ferien kaputt. Hausmeister Paulsen muss sich echt mal um die Reparatur kümmern. Bis dahin kannst du im Schulbereich drucken, jedenfalls zu Unterrichtszeiten. Oder die anderen drucken für uns in ihren Wohneinheiten. Mein Bio-Projekt habe ich damals zum Ausdrucken an Luisa geschickt.“

Nico schien sich weniger für den Drucker als für die Play-Station zu interessieren, die er neben Fernseher und DVD-Player entdeckt hatte. Er pfiff durch die Zähne: „Nicht schlecht … Das heißt, abends trifft man sich hier zum Abhängen und FIFA-Zocken?“

Noah war hin- und hergerissen. Er wollte cool wirken, aber dennoch ehrlich sein. „Manche schon, ich aber … eher nicht so. Meistens gibt es abends noch was für die Schule zu tun, wenn in der Lernzeit nicht genug Zeit war. Und selbst wenn ich chille, knobele ich lieber über Mathe oder lese was, anstatt FIFA zu spielen. Da bin ich nämlich echt schlecht drin.“ Er lächelte bescheiden.

„Ach, das glaub ich gar nicht“, sagte Nico und blickte ihn herausfordernd an, bevor er sich zum Gehen wandte. „Und wenn doch, umso besser für mich. Dann zocke ich dich ab!“

***

Als sie wenig später im Speisesaal mit beladenen Tabletts auf den Tisch mit den Freunden zusteuerten, hörte Noah schon von weitem Luisas aufgebrachte Stimme: „Hey, ich glaub, ich mach’s bald wie Nele und spezialisiere mich auf Weitsprung. Sie kann wenigstens das trainieren, was ihr Spaß macht. Ich liebe Weitsprung und Hochsprung, und was für einen Fokus hat mein Trainingsplan für die nächste Woche? Kugelstoßen!“

„Guten Abend allerseits!“, rief Noah und merkte, wie sich die Blicke auf ihn und Nico richteten. „Wir haben noch einen Neuzugang. Das ist Nico aus Berlin. Er macht Langstreckenlauf.“ Nico zeigte sein strahlendes Lächeln, hob die Hand zum Gruß und setzte sich neben Noah an den Tisch.

„Ich bin Luisa und mache Siebenkampf. Am liebsten würde ich aber Sechskampf machen, also ohne Kugelstoßen!“ Sie musste lächeln. „Mein Trainer hat ja recht, dass ich darin ein besonders großes Verbesserungspotential habe, aber schon nach den zwei Stunden heute tun mir Schulter und Nacken sauweh.“

„Lass dir doch morgen einen Termin bei Johannes geben“, schlug Thor vor. „Das ist unser Physiotherapeut“, fügte er an Nico gewandt hinzu, bevor er Luisa anlächelte und leise zu ihr sagte: „Wenn er nichts freihat, kümmere ich mich um deinen Nacken. Und um dich …“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

Dann reichte er Nico die Hand: „Ich bin übrigens Thor.“

„Thor … Dann müsstest du eigentlich Hammerwurf machen“, sagte Nico langsam und grinste.

Thor schaute ihn zunächst verwundert an. Dann schien es bei ihm zu dämmern: „Ach, du meinst den nordischen Gott aus den Sagen, die mir meine Mamma vorgelesen hat? Und das schon lange bevor es die Marvel-Filme gab?“

„Thor, der Donnergott, der Herrscher über das Wetter. Ihm haben wir den Donnerstag zu verdanken; es heißt nicht umsonst auf Englisch Thursday. Und als Gott des Krieges war er unbesiegbar, wenn er seinen Hammer Mjöllnir warf. Ich liebe Sagen und Mythologie, sowohl die griechischen als auch die nordischen. Große Gefühle im ewigen Kampf Gut gegen Böse!“ Nicos Augen funkelten begeistert. „Aber du machst trotz deines Namens keinen Hammerwurf?“

„Das ist lustig. Hammerwurf hab ich tatsächlich noch nie ausprobiert“, gab Thor schmunzelnd zu. „So wörtlich nehmen sie das zum Glück mit den alten Sagen auch in Norwegen nicht. Sport heißt dort vor allem Wintersport, frag mal meine Mamma als ehemalige Biathletin!“

Luisa spießte ein Stück von ihrem Hühnchen auf. „Also, wenn es nach den Namen gehen würde, dann müsste Noah die Welt vor dem Ertrinken bewahren. Passt auch irgendwie. Dass er eine Arche hätte, wäre mir zwar neu, doch immerhin hat er die Lage immer voll unter Kontrolle.“

Schön wär’s, dachte sich Noah. Das mit der Kontrolle schien sich in den letzten Tagen zunehmend schwieriger zu gestalten. Erst Julius‘ Tod, dann dieser neue Mitbewohner, der mit allem was er tat oder sagte auf Noah immer faszinierender wirkte.

Noah streckte sich nach dem Salzstreuer, der schräg vor seinem Tischnachbarn stand. Im gleichen Moment griff Nico nach seiner Serviette. Seine rechte Hand berührte leicht, nur ganz leicht, Nicos Unterarm. Es fühlte sich an wie ein Stromstoß, voller Energie und irgendwie … prickelnd. Noah zog seinen Arm zurück und merkte, wie er leicht errötete. Sollte er sich entschuldigen? Nein, er entschied sich, von der Situation abzulenken und stattdessen das von Nico begonnene Spiel mitzuspielen. Vielleicht konnte er so mehr über ihn erfahren.

„Dann bist du also der Nikolaus, der den Kindern Geschenke bringt?“, fragte er. „Hast du wenigstens am sechsten Dezember Geburtstag?“

„Hmm, gute Menschen mit Geschenken glücklich zu machen und böse zu bestrafen könnte mir gefallen. Aber nee, Geburtstag hab ich im September, wenn man besser draußen feiern kann als im Winter!“

Noah wollte gerade sagen, dass er sich das gut vorstellen konnte, da er selbst im Dezember geboren war, als Luisa rief: „Was, du hast im September Geburtstag? Ich auch! Schlag ein, wir Septemberkinder sind die besten!“ Sie hielt Nico ihre Hand hin und er erwiderte den High-Five lächelnd. „Auch wenn wir wohl andere Jahrgänge sind … Ich hab am fünfzehnten September 2004 Geburtstag. Volljährigkeit, ich komme!“

Nico nahm einen großen Schluck von seinem Wasserglas, stellte es wieder ab und sagte dann: „Zwölfter September 2003.“

„Dann gehst du in die Dreizehnte? Und bist kurz vor dem Abi hierher gewechselt?“, fragte Thor überrascht. Nico nickte kurz und schien etwas sagen zu wollen, doch Luisa kam noch einmal auf das Thema Volljährigkeit zu sprechen: „Ich frag mich ja, ob es sich mit achtzehn anders anfühlt. Einerseits freue ich mich riesig, andererseits denke ich mir, dass es eigentlich nur symbolisch ist … und um vielleicht in einen Club zu kommen, wenn man mal ausgeht. Doch unser Alltag wird wohl weiterhin aus Lernen und Training bestehen.“

„Bis zum Abi bestimmt, aber dann kommt die große Freiheit“, meinte Nico. „Die Freiheit, das zu tun, was wir wollen. Endlich eigene Entscheidungen treffen und den eigenen Weg gehen.“

Noah schluckte. Das, was er als große Last empfand, dieses Entscheidungsproblem, für das es keine Lösung gab, stellte Nico als große Freiheit dar?

In diesem Moment kam Nele auf sie zugetrottet. Sie wirkte ziemlich erschöpft. „Diese Doktor Florenzi ist echt tough, ich könnte nach dem Medizin-Check erstmal zwei Tage pennen. Müssen wir echt immer zu ihr, wenn wir uns mal nicht gut fühlen?“

Nele ist ja auch neu hier, stimmt!, stellte Noah fest. Das musste er völlig verdrängt haben. War es wirklich erst zwei Stunden her, dass Nico aufgetaucht war und alle seine Gedanken vereinnahmt hatte?

„Wenn du mehr als einen Tag Schule oder Training wegen Krankheit verpasst, musst du dich von ihr oder einem der anderen Ärzte untersuchen und krankschreiben lassen“, sagte Thor. „Blau machen geht also nicht so leicht?“, fragte Nico und zog die Augenbrauen hoch.

„Ey, die merken, wenn man simuliert“, gab Aylin zu und schnitt eine Grimasse. „Aber wenn du wirklich krank bist, geben sie dir die Zeit, die der Körper braucht. Als ich letztes Jahr die Lungenentzündung hatte, bestand die Florenzi darauf, dass ich noch mit dem Training warte. Dabei hatte ich mich schon wieder recht fit gefühlt.“

„Aber wir muten uns beim Leistungssport schon genug zu“, sagte Luisa seufzend und griff sich wieder an ihre Schulter. Thor nahm ihre Hand und sagte leise zu ihr: „Komm, wir machen uns einen entspannten Abend zu zweit.“

Kurz nachdem sich die beiden verabschiedet hatten, stand Aylin ebenfalls auf: „Ich hänge noch ein bisschen mit Cem ab.“ Sich ständig zoffen und doch immer wieder zusammenhalten – Noah würde die komplexe Beziehung der Geschwister wohl nie ganz verstehen können.

Doch nun hatte er andere Probleme. Es saßen nämlich nur noch Nele, Nico und er am Tisch, und die Weitspringerin lächelte ihn auffordernd an, während sie sich eine rotblonde Haarsträhne aus dem Gesicht strich. „Noah, es war voll schön, gestern mit dir Ligretto zu spielen. Hast du heute Abend schon was vor?“

„Äh, ja, hab schon was vor“, antwortete er schnell. Als er ihr enttäuschtes Gesicht sah, bemühte er sich hinzuzufügen: „Also, ja, es war voll schön gestern, aber ich … muss dringend Mathe machen. Habe einige knifflige Aufgaben.“ Er spürte Neles Blick von vorn und gleichzeitig Nicos interessierten Blick von der Seite. Die Flucht in die Welt der Mathematik war das, was er jetzt brauchte.

„Dann vielleicht ein anderes Mal?“, fragte Nele hoffnungsvoll und Noah nickte mechanisch, bevor er sich verabschiedete und sein Tablett wegbrachte. Nico begleitete ihn. „Ich geh gleich ein bisschen spazieren und schaue mir die Umgebung hier am See an. Ist bestimmt schön am Abend.“

Da musste Noah ihm zustimmen. Wenn die Strahlen der untergehenden Sonne golden auf die Wasseroberfläche fielen und es dabei so ruhig war, dass man nur das leichte Plätschern der Wellen ans seichte Ufer hörte, dann war das am Ende eines langen Tages unglaublich beruhigend. Tatsächlich saß er ab und zu dort mit seinem Mathebuch auf dem Schoß und ließ die Atmosphäre am See einen idyllischen Hintergrund für seine Realitätsflucht bilden.

Bevor er den Gedanken ganz zu Ende gedacht hatte, sagte er zu Nico: „Ich kenne da eine Stelle, wo es ganz ruhig ist. Mein Lieblingsplatz, wenn ich draußen lerne. Kann ich dir gerne zeigen, ich hole nur kurz meine Mathesachen.“

Mist. Kaum hatte er diese Sätze gesprochen und Nicos Lächeln als Antwort wahrgenommen, erkannte er den Haken an der Sache. Wie sollte er sich von den Herausforderungen des Tages erholen, wie sollte er von seinem faszinierenden und aufwühlenden neuen Mitbewohner eine kleine Pause in der Mathematik finden, wenn dieser direkt neben ihm sitzen und so unverschämt gut aussehen würde? Aber da musste Noah nun durch.