12. Kapitel: Lieblingsplatz

Montag, 15. August 2022, 19:42 Uhr

Ganz ruhig bleiben , wiederholte Noah wie ein Mantra, als er mit seinen Mathesachen unter dem Arm neben Nico durch das Foyer und um das Hauptgebäude herum in Richtung See ging. Er schlug den Weg zum bewaldeten Uferabschnitt ein, wo sich Laub- und Nadelbäume abwechselten. Die Äste einiger Bäume reichten bis ans Wasser und sorgten zusammen mit den wild verästelten Wurzeln für einen urigen Eindruck. Der leichte Wind raschelte durch die Blätter; in der Ferne war das Geschnatter der Wasservögel zu hören. Wenig später blieb Noah vor einem Ahornbaum stehen, dessen Wurzeln sich links und rechts vom Stamm erstreckten und eine grob viereckige Fläche einrahmten.

„Das ist dein Platz? Sieht bequem aus“, meinte Nico anerkennend und blickte auf den Sitzplatz am Stamm des Baumes.

„Setz dich“, sagte Noah.

„Nur kurz zum Ausprobieren. Ich will ihn dir ja nicht wegnehmen.“ Nico ließ sich vorsichtig nieder und lehnte sich an den Stamm, während Noah sich daneben hockte und ihn betrachtete.

Nico sah ein paar Augenblicke lang auf den See und sagte dann mit verträumter Stimme: „Hier könnte ich bleiben. Den Wellen zuschauen und chillen. Hat sich jeder von euch so sein eigenes Plätzchen gesucht?“

„Ich glaube, einige gehen ans Ufer, wenn sie alleine sein wollen. Aber nicht alle. Zum Beispiel Julius–“ Er stockte und schauderte. Er spürte Nicos Blick auf sich, als er weitersprach: „Julius ging nicht an den See, sondern aufs Dach. Auch ganz am Ende.“ Er schluckte.

„Das war dein früherer Mitbewohner, nicht wahr?“, fragte Nico vorsichtig, woraufhin Noah nickte.

„Ich … habe davon gehört. Scheiße.“ Nicos sonst so cooles Auftreten war plötzlich der Zurückhaltung gewichen. Er sprach langsam, als würde er über jedes Wort nachdenken. „Das tut mir so leid für dich. Wenn ich mir vorstelle, dass jemand, den ich gut kenne, sich umbringt…“

„So gut kannte ich ihn gar nicht“, erwiderte Noah. Erneut wollte er das Thema herunterspielen, wie so häufig in diesen Tagen. Gleichzeitig bewirkte Nicos offener und forschender Blick etwas in ihm, so dass er das aussprach, was seit der schlimmen Nachricht immer wieder durch den Kopf ging: „Natürlich denke ich jetzt, dass ich ihn besser hätte kennen sollen … Ich weiß, diese Gedanken helfen nicht, aber ich kann sie nur schwer abstellen.“

„Doch, es hilft dir, darüber nachzudenken“, entgegnete Nico mit einer ungewohnt sanften, aber dennoch entschlossenen Stimme. „Der Tod von jemandem, den man kannte, egal wie eng oder doch nicht so eng, ist etwas, was man verarbeiten muss. Darüber nachdenken hilft. Und reden …. Wenn du willst.“

Noah sah ihn an. Er wusste, dass Nico recht hatte und wusste auch, dass er dazu nicht bereit war. Nicht jetzt.

„Mag sein. Aber ich muss jetzt lernen.“ Er senkte den Blick und holte sein Mathebuch hervor.

„Dann will ich dich mal nicht länger von Mathe abhalten“. Nico stand mit einer gewissen Enttäuschung in der Stimme auf. „Und dir nicht länger deinen Platz wegnehmen.“

War Nico jetzt sauer auf ihn und wollte gehen? Damit hatte Noah nicht gerechnet. Aber sein neuer Mitbewohner setzte sich an einen anderthalb Meter entfernten Baum, holte seine Kopfhörer aus der Hosentasche und steckte sie in sein Smartphone.

Noah versuchte währenddessen an seinem Lieblingsplatz die innerliche Aufregung durch die wohlbekannte Logik der mathematischen Herleitungen zu übertönen. Ableitung der Tangensfunktion, Wellenlinien, Wellenlinien des Wassers. Nico, der im Schein der tief stehenden Sonne mit geschlossenen Augen ganz entspannt am Baumstamm saß. Zurück zur Tangensfunktion.

Es war nicht leicht, sich zu konzentrieren, aber es waren die ruhigsten Minuten, seit Nico wie ein gefühlter Wirbelwind vor ein paar Stunden in seinen geregelten Internatsalltag getreten war. Und es besänftigte ihn ungemein, dass er immerhin noch in der Lage war, die trigonometrischen Funktionen korrekt abzuleiten. Er spürte ein Lächeln auf seinen Lippen.

Nach einer Weile blickte er wieder zu Nico, der mit geschlossenen Augen im Sitzen leicht wippte, vermutlich zur Musik auf seinen Ohren. Genug der Mathematik, entschied Noah und fragte: „Was hörst du?“

Wie dumm, dachte er im gleichen Moment – Nico konnte ihn natürlich weder hören noch sehen – als sogleich die Antwort kam: „ Red Hot Chili Peppers .“ Hatte Nico ihn etwa gerade auch heimlich beobachtet?

Bevor Noah darüber nachdenken konnte, war Nico aufgestanden, hockte sich neben ihn und hielt ihm einen Kopfhörer hin. Daraus erklang gerade das Intro von Californication . Noah sog die Gitarrenklänge in sich auf, sog Nicos Nähe in sich auf. Er roch gut, fand Noah. Es war schwer zu definieren, aber diese Mischung aus Erdbeer – war das sein Kaugummi? –, dem Waldboden und etwas sehr Individuellem, Männlichem machte ihn absolut an.

Plötzlich war das Lied zu Ende, und Nico meinte mit Blick auf den See: „Warst du schon mal in Kalifornien?“

„Nee, du etwa?“

Nico schüttelte den Kopf: „In den Staaten noch nie, aber ich hab mit sechzehn ein Austauschjahr in Kanada gemacht. In der Nähe von Vancouver. Die Menschen da sind anders als in Deutschland, offener und unkonventioneller, und die Weiten sind unglaublich, diese Natur … Man kann ewig laufen. Einfach nur wow. War damals echt gut für mich, mal rauszukommen aus dem Berliner Kiez und aus einer anderen Perspektive auf alles zu gucken. Nebenbei ist mein Englisch viel besser geworden und ich lese nur noch Bücher im englischen Original.“

„Damit machst du meine Mutter arbeitslos, sie ist Literaturübersetzerin“, sagte Noah und musste schmunzeln. Aber was Nico erzählt hatte, beeindruckte ihn. „Könntest du dir vorstellen, länger in Kanada zu leben?“

„Für kurze Zeit gerne, aber nicht auf Dauer. Da würde ich die Berliner Luft doch zu sehr vermissen. Ich glaube, ich habe vieles an Deutschland und meinem Leben erst aus der Ferne besser wertschätzen gelernt. Warst du mal länger im Ausland?“

Für so etwas war in Noahs durchgetaktetem Leben natürlich keine Zeit. „Nur im Urlaub mit meinen Eltern und immer mal kurz für Wettkämpfe“, sagte er. „Letztes Jahr hab ich an den Jugendeuropameisterschaften in Helsinki teilgenommen. Aber vom Land hab ich nicht viel gesehen. Warst du auch dabei?“ Noah überlegte, ob Nico ihm wohl aufgefallen wäre.

Dieser sah mit einem melancholischen Gesichtsausdruck auf den See. „Nee, ging nicht. Meine Achillessehne.“ Dann blickte er mit lebhafterer Miene wieder zu Noah: „Aber Californication macht mir immer Lust auf die Staaten. Stell dir vor, das hier ist nicht der Schweriner See, sondern der Pazifik. Wir sitzen am Strand von L.A., Malibu vielleicht, und sehen den rauschenden Wellen und den braun gebrannten Surfern mit ihren Brettern zu.“

„Da sind wir vielleicht 2028 tatsächlich“, fiel Noah ein. „Also nicht zum Surfen. Aber wenn wir es zu Olympia schaffen.“

„Das ist dein großes Ziel, nicht wahr?“ Nico blickte ihn intensiv aus seinen blauen Augen an.

Noah gab die Frage zurück: „Deins etwa nicht? Dafür bist du doch hierher gewechselt, oder?“

„Klar wär das geil, nach den Sternen zu greifen … Aber wenn’s doch nichts wird, gibt’s noch genug andere Träume“, sagte Nico. „Und die sind wesentlich realistischer zu erreichen. Stichwort Staaten, da würde ich wahnsinnig gerne die Route 66 von Chicago nach L.A. fahren. Mit einem Tesla. Ein Mega-Road-Trip, jeden Tag an einem anderen Ort, mich absolut frei fühlen. Und vielleicht komme ich dann gerade rechtzeitig in L.A. an, um dich im Stadion springen zu sehen.“ Er grinste über das ganze Gesicht.

Der letzte Satz löste in Noah ein wohliges Kribbeln aus, und fast hätte er sich von dem Grinsen anstecken lassen. Doch die entspannte Art, wie Nico über Träume sprach, rief in ihm wieder die innere Zerrissenheit über seine eigene Zukunft hervor. „Und es ist okay für dich, einfach ein anderes Ziel zu verfolgen, wenn aus Olympia nichts wird? Ich weiß nicht, ob ich das könnte.“ Er blickte auf das Wasser. „Wenn ich nach dem Abi auf Stabhochsprung setze, dann muss sich das wirklich auszahlen. Ansonsten kann ich mich auch gleich ins Mathestudium reinhängen inklusive Forschungsgruppe, Job am Lehrstuhl und was weiß ich. Das würde auf jeden Fall meinen Mathelehrer glücklich machen. Und meinen Vater. Während mein Trainer und meine Mutter die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würden, warum ich mein sportliches Talent und jahrelanges hartes Training vergeude.“

Er war von sich selbst überrascht, diese Worte in einem ziemlich verbitterten Ton ausgesprochen zu hören. Was würde Nico jetzt von ihm denken? Dass er ein verwöhnter Junge mit seinen Luxusproblemen war? Nico blickte ihn tatsächlich verwundert an: „Was für viele Leute da involviert sind! Du willst deine Mutter glücklich machen und deinen Vater, du willst deinen Mathelehrer glücklich machen und deinen Trainer. Merkst du was?“

„Du sagst jetzt nicht, ich solle nicht sie glücklich machen, sondern mich selber?“

„Das wäre doch mal ein Anfang.“

„Wenn ich bloß wüsste, welche dieser Möglichkeiten mich glücklich macht!“ Er berichtete von den attraktiven, aber sich gegenseitig ausschließenden Zukunftsperspektiven, die ihm noch heute Herr Wozniak sowie Martin beim Training ausgemalt hatten. Dann meinte er seufzend: „Ich weiß, dass ich hier im Internat glücklich bin. Es ist zwar hart, aber ich wenn ich in Sport und Schule alles gebe, habe ich super Noten und Leistungen. Dann bin ich glücklich, und meine Eltern, Lehrer und Trainer ebenfalls. Hier muss ich keine schweren Entscheidungen treffen.“

Auf Nicos Gesicht zeigte sich ein verschwörerisches Lächeln, als er verkündete: „Dann hab ich ne geniale Lösung!“ Er machte eine Pause, um den Effekt zu verstärken. Noah war gespannt.

„Du musst einfach durchs Abi durchfallen. Dann darfst du eine Ehrenrunde drehen und noch länger im Internat bleiben.“ Nicos Stimme war neutral, als er dies mit ernster Miene verkündete.

Noah sah ihn für einen Augenblick ungläubig an und musste dann schallend lachen. Strategisch durchs Abi zu fallen, er, der Jahrgangsbeste. Was für eine Idee. Auch Nico prustete los und blickte in Noahs lachendes Gesicht.

„Toller Tipp, danke!“

„Hey, für einen Moment hast du wirklich gedacht, dass ich die Patentlösung für dein Problem habe!“ Nico kicherte noch, dann wurde seine Stimme wieder ernster, aber auch sanfter. „Aber es geht hier ums wirkliche Leben, nicht um ein mathematisches Problem, dessen einzige richtige Lösung du suchst. Vielleicht hilft es dir, mit einer anderen Erwartungshaltung ranzugehen.“

„Erwartungen … Willst du damit sagen, ich erwarte zu viel vom Leben? Oder zu viel von mir?“

„Du erwartest von dir selbst, ein unmögliches Problem zu lösen. Mann, das ist natürlich ein Rezept für Enttäuschung. Versuch mal, etwas Druck rauszunehmen. Klar musst du dich entscheiden, ob und wie du nach dem Abi weiter Leistungssport machen und was du sonst noch willst. Aber es geht erstmal um die nächsten Monate und Jahre; du musst nicht dein ganzes Leben durchplanen. Das geht im Übrigen sowieso nicht. Dafür hält das Leben viel zu viele Überraschungen bereit!“ Es lag etwas Geheimnisvolles in Nicos Stimme, als er diese letzten Worte sagte. Es wirkte so, als spräche er sie ebenso zu sich selbst wie zu Noah.