Montag, 15. August 2022, 22:57 Uhr
Noah konnte nicht einschlafen. Er und Nico waren bald zurück aufs Zimmer gegangen, nachdem die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war. Er wollte für den nächsten Tag fit sein. Im Bett blickte er noch einmal in sein Mathebuch, während Nico sich im Bad die Zähne putzte. Wenig später war das Licht gelöscht, doch durch Noahs Kopf strömten die Gedanken. Er dachte an Nico. Nico, der cool und souverän war, der Träume hatte und sich doch den Gegebenheiten anpassen konnte. Nico, der sagte, was er dachte, der manchmal ein bisschen unverschämt sein konnte, aber, wie das Gespräch am See gezeigt hatte, auch eine einfühlsame und verständnisvolle Seite besaß. Nico, dessen tiefblaue Augen und schelmisches Grinsen ihn vom ersten Augenblick an fasziniert hatten. Nico, der nur wenige Meter entfernt von ihm schlief.
Noah wusste, er musste schlafen, um am nächsten Tag Topleistungen in Schule und Sport zu erbringen. Nicht zuletzt hatte er sich vorgenommen, Nico ein bisschen zu beeindrucken. Dafür musste er ausgeruht sein, doch wie sollte er so schlafen? Er seufzte und warf sich auf die andere Seite.
Schlief Nico schon oder hatte er in dieser ersten Nacht im neuen Bett auch Probleme einzuschlafen? Er dachte an seine eigene Anfangszeit im Sportinternat, als er noch viel jünger gewesen und ihm alles so neu vorgekommen war. Nico wirkte nicht wie jemand, der irgendwo Anfangsschwierigkeiten haben würde, aber natürlich konnte man nicht wissen, was in seinem Kopf vorging. Dachte er vor dem Einschlafen zurück an Berlin, an seine Familie, seine Freunde … Hatte er in Berlin eine Freundin, hatte er – Noah spürte einen inneren Stich – einen Freund?
Seine Gedanken verharrten bei der Intensität, mit der Nico ihn mehrmals grinsend angeblickt hatte. So etwas hatte er bei einem heterosexuellen Mann noch nie gesehen. Gab es nicht so etwas wie ein Gaydar, um zu erkennen, ob sein Gegenüber auch auf Männer stand? Oder interpretierte er da zu viel hinein? Noah verfluchte seine Unerfahrenheit, er verfluchte sein Gehirn, das ihn alles überanalysieren und doch zu keiner Erkenntnis kommen ließ. Und er verfluchte die Uhr, die weiter vorantickte. Er musste schlafen, verdammt noch mal! Er warf sich auf die andere Seite.
Irgendwann musste er doch eingeschlafen sein, als ihn ein Geräusch weckte. Es knarzte. War das die Tür? Er öffnete vorsichtig die Augen und richtete sich im Bett auf. Mondlicht fiel durch die nicht ganz zugezogenen Vorhänge, so dass er eine Gestalt im Türrahmen erkannte. Nico?
„Sorry, hab ich dich geweckt?“ Nico schloss die Tür und erklärte dann: „Ich war nur im Gemeinschaftsraum. Hatte Durst. Dabei hätte ich mir auch im Bad was holen können, wird mir jetzt klar …“
„Macht nichts“, gab Noah verschlafen von sich und ließ sich wieder auf sein Kissen sinken. Vielleicht brauchte sogar jemand wie Nico ein bisschen Zeit, um sich ans Leben im Internat zu gewöhnen.
Zum Glück schlief Noah nach der kleinen Unterbrechung schnell wieder ein. Dennoch hatte er das Gefühl, noch ganz weit weg zu sein, an einem unbestimmten, aber angenehmen Ort, als er von weither die Klänge von Whatever it takes vernahm. Er brauchte einen Moment, um wach zu werden und den Weckruf seines Telefons auszustellen.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst“, hörte er Nico im anderen Bett mit kratziger Stimme sagen.
„Was ist nicht mein Ernst?“ Noah reckte sich.
„Dass du jetzt aufstehen willst. Wieviel Uhr ist es? Fünf?“
Noah musste widerwillig grinsen. „Sechs Uhr. Von Wollen kann keine Rede sein, aber das gehört nun mal dazu. Ich habe Whatever it Takes nicht ohne Grund als Wecker genommen. Um halb sieben werden wir im Trainings-Center erwartet. Kraft und Kondition. Wenn du willst, gehe ich zuerst ins Bad.“
„Mach nur“, brummte Nico. „Gibt’s hier wenigstens Kaffee?“
„Nachher beim Frühstück.“ Als er langsam an Nico vorbei ging, merkte er, wie auch die Schmetterlinge in seinem Bauch erwachten. Er betrachtete, wie sich unter Nicos Bettlaken die Proportionen abzeichneten, wie seine blonden Strähnen auf dem Kopf nach allen Seiten abstanden, wie der Dreitagebart seine Wangen dunkel schattierte, wie seine rechte Hand über den geschlossenen Augen lag … Nur dass die Augen gar nicht geschlossen waren! Noah zuckte zusammen, als er sich Nicos heimlichen Blicks bewusst wurde. Dann ging er mit einem Lächeln auf den Lippen ins Bad.
Wenig später lief er voran und zeigte seinem neuen Mitbewohner den Weg zum Trainings-Center. Nico blickte erstaunt auf die vielen anderen Jugendlichen um sie herum, die ebenfalls die blau-weiß-grüne Sportkleidung des Internats trugen: „Das heißt, wir schwitzen alle gleichzeitig zu dieser unmöglichen Zeit?“
„Ja, aber das verteilt sich gut. Jeder arbeitet nach einem individuellen Plan. Solange du noch keinen hast, werden sich die Fitnesstrainer spontan etwas einfallen lassen.“ Er grinste Nico an und meinte dann: „Zur Not stellt man dich anderthalb Stunden aufs Laufband. Das kann ja bei einem Langstreckenläufer nicht falsch sein, oder?“
„Haha.“
Womit Nico seine erste Trainingseinheit wirklich verbrachte, konnte Noah nicht verfolgen. Pascal verwies Nico an seine Kollegin Katja weiter, welche die Ausdauersportler betreute, während Noah sich auf dem Crosstrainer aufwärmte.
„So, Noah“, meinte Pascal anschließend mit einem Klemmbrett unter dem Arm. „Martin hat mir berichtet, dass wir deine Kraftintensität steigern wollen, vor allem an Bizeps, Trizeps, Schultern, Brust. Das heißt Hypertrophietraining zur Erhöhung des Volumens der einzelnen Muskeln und Maximalkrafttraining zur intermuskulären Koordination. Auf gut Deutsch: Kraftstation rauf und runter!“
Oh. Das Gespräch mit Martin über die neuen Trainingsziele musste er verdrängt haben. Hatte er sich etwa mehr Gedanken über Nico und dessen Training gemacht als über sein eigenes? Wie gut, dass sich Nico gerade außer Sichtweite befand. Tat er das überhaupt? Noah merkte, wie er heimlich den Blick durch den großen Raum über die Köpfe der trainierenden Jugendlichen hinweg schweifen ließ, doch Nico war wohl gerade von einem Gerät verdeckt. Mensch, er musste sich zusammenreißen und sich auf sein Training fokussieren. Genau das hatte Martin gefordert.
Die Übungen an der Kraftstation akkurat auszuführen verlangte nicht nur enorme Anstrengung, sondern auch Konzentration. Noah brauchte einige Minuten, um hineinzufinden und seine Gedanken und Kräfte zu sammeln. Auf Bankdrücken folgten Trizeps-Strecken und Bizeps-Curls; Pascal korrigierte und unterstützte ihn. Es war hart, es war ermüdend, es war schweißtreibend. Aber es konnte auch ein erfüllendes Gefühl sein, dem Körper viel abzuverlangen und seine Leistungsgrenzen nach oben zu verschieben.
Bei den abschließenden Dehnübungen, Sit-Ups und Kniebeugen erneuerte Noah seinen Vorsatz, sich und seinen Alltag nicht durch Nico aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen. Er musste die Kontrolle behalten, so sehr er es auch genoss, wie sein Herz in Nicos Nähe heimlich höher schlug.
Entschlossen trat er den Rückweg ins Zimmer an, um zu duschen. Als er anschließend frisch gekleidet aus dem Bad trat, fand er Nico ermattet, alle Viere von sich gestreckt, auf dem Bett liegen. Was für ein Anblick! Er konnte sich ein Kichern nicht verkneifen: „Was ist denn mit dir passiert? Bist du etwa platt?“
„Ich bin putzmunter und könnte gleich einen Marathon laufen!“, kam es zynisch von Nico zurück. „Wenn ich erstmal meinen Kaffee bekomme. Aber nochmal zum Mitschreiben, das tut ihr euch jeden Morgen freiwillig vor der Schule an? Diese Schinderei ist das Internatsleben, von dem du nicht willst, dass es endet?“
Noah kostete den Moment aus: „Nur die Harten kommen in den Garten.“ Es fühlte sich gut an gegenüber dem so coolen und selbstsicheren Mitbewohner mal die Oberhand zu haben.
„Soso, nur die Harten“, wiederholte Nico mit einem bewusst doppeldeutigen Unterton und ließ seine Augen schelmisch funkeln.
„Ich … ich habe Hunger“, meinte Noah, wobei das Kribbeln in seinem Magen sicher nicht nur darauf zurückzuführen war. „Soll ich warten, bis du geduscht hast oder schon mal zum Speisesaal vorgehen?“
„Geh schon mal vor zum Frühstück, ich komm gleich nach“, sagte Nico und erhob sich mühsam.
Im Speisesaal füllte sich Noah sein Fruchtmüsli ab und ging zum Tisch mit dem Säften. Nele war gerade dabei, sich Orangensaft einzugießen. Als sie Noah erblickte, erfüllte ein Lächeln ihr Gesicht. „Hi Noah! Willst du auch O-Saft? Warte, ich schütte dir gleich etwas ein!“
„Äh, danke. Das ist ja ein Service!“
Sie trugen ihre Tabletts zu dem Tisch, an dem bereits Thor und Aylin saßen. Noah schob sich gerade genussvoll einen Löffel Müsli in den Mund, als Luisa sich auf den freien Platz ihm gegenüber fallen ließ. Sie wirkte außer Atem. „Hat dich das Training auch so geschafft wie Nico?“, fragte Noah und lächelte. „Aber der hat eine Ausrede, weil er neu ist.“
„Hey, ich habe eine Schulter, die mir sauweh tut und kriege keine Physio“, erklärte Luisa und nahm einen großen Schluck aus ihrem Wasserglas. „Und das Allerkrasseste ist der Grund dafür. Leute, haltet euch fest …“
„Hatte Johannes keinen Termin mehr frei?“, fragte Thor.
Luisas Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an und sie senkte ihre Stimme, woraufhin die anderen sie erwartungsvoll ansahen. „Johannes ist weg. Suspendiert. Er soll eine Schülerin sexuell belästigt haben.“ Sie betonte jedes Wort, so als könne sie es selbst kaum glauben.
Für eine Sekunde wurde es ganz still am Tisch. Noah merkte, wie ihm der Mund offen stehen blieb. Dann redeten plötzlich alle fragend durcheinander.
„Was?“, fragte Thor.
„Johannes Freitag? Der Physio, zu dem wir seit Jahren gehen?“, brachte Noah entsetzt hervor.
„Dieses Schwein!“, zischte Aylin.
„Was ist denn überhaupt passiert, Luisa?“, fragte Nico, der gerade dazugestoßen war und seine Kaffeetasse hörbar auf den Tisch stellte.
Das wollte Noah auch gerne wissen. Sexuelle Belästigung – davon hörte und las man erschreckenderweise im Jugendsport immer wieder. Aber doch nicht hier im Internat! Doch nicht Johannes Freitag! Noah mochte den Mittdreißiger, der ihnen bei Verrenkungen und überanspruchten Muskeln stets weiterhalf, auch wenn die Übungen manchmal schmerzten.
Luisa holte merklich Luft, bevor sie erzählte: „Ich weiß auch nicht viel. Nach dem Training hab ich Pascal gefragt, ob Johannes schon da ist, damit er sich meine Schulter anschauen kann. Da meinte er, Johannes ist raus, weil er eine Schülerin sexuell belästigt haben soll. Er ist wohl suspendiert, bis die Sache geklärt ist. Katja kam noch dazu. Sie hat anscheinend gesehen, wie Johannes ziemlich niedergeschlagen aus dem Schulleiterbüro gekommen ist. Das hätte ich nie von ihm gedacht.“
„Weiß man denn, wer das Mädchen ist?“, fragte Nele.
Luisa schüttelte den Kopf.
„Egal wer es ist, sie muss ganz schön mutig sein“, fand Aylin. „Wenn so etwas passiert, gibt es immer noch viel zu wenige, die sich trauen, den Mund aufzumachen und solchen Schweinen das Handwerk legen.“
Nico sah sie an. „Du hast recht, leider schweigen immer noch viel zu viele Opfer von sexueller Belästigung und sexuellem Missbrauch. Aber trotzdem“ – er machte eine betonte Pause – „sollten wir in dem Fall vorsichtig sein. Wir wissen wir ja noch gar nicht, ob er wirklich ein Schwein ist.“
„Natürlich ist er ein Schwein, wenn er seine Position als Physiotherapeut ausnutzt um –“, begann Aylin aufbrausend, aber Nico fiel ihr ins Wort: „Ganz genau, wenn er das gemacht hat. Aber so wie ich gerade sehe, wissen wir noch nicht, was überhaupt geschehen ist. Was ist ihre, was ist seine Version der Dinge?“
„Ey, ich kann echt nicht glauben, dass du ihn verteidigst. Wenn er deswegen rausfliegt, wird ja wohl was an der Sache dran sein. Im Zweifel für das Opfer, sage ich!“ Aylins Tonfall klang richtig verächtlich. „Sonst ändert sich an diesem scheiß-patriarchalen System ja nie was.“
„Glaub mir, dass ich das patriarchale System auch scheiße finde“, erwiderte Nico. „Ich bin mit Leidenschaft dabei, wenn es darum geht, für Gerechtigkeit zu kämpfen. Aber mit vorschnellen Verurteilungen bin ich lieber vorsichtig.“
„Trotzdem verdient das Opfer einen Vertrauensvorschuss“, beharrte Aylin. „Und wenn es am Ende Aussage gegen Aussage steht und man nichts beweisen kann, sollte man ihr glauben!“
Noah hörte dem Wortwechsel interessiert zu. Dass Aylin starke Meinungen hatte und diese emotional verteidigte, wusste er. Doch auch Nico war sehr engagiert dabei und schien zu wissen, wovon er sprach.
„Leute, lasst uns mal von der Grundsatzdiskussion zurück zu Johannes kommen“, versuchte Luisa, die Gemüter zu beruhigen. „Ich muss zugeben, dass ich ihn nicht so eingeschätzt hätte.“
„Ich auch nicht. Als Physio hat man immer Körperkontakt, aber mir gegenüber ist er stets professionell gewesen“, meinte Noah. Dann fiel ihm ein: „Andererseits ist das meine männliche Perspektive. Wie habt ihr Mädels ihn denn erlebt?“
„Ich hatte immer das Gefühl, dass er nur seinen Job macht. Und das ziemlich gut. Deshalb schockiert mich das ja so“, sagte Luisa.
Aylin schien zu überlegen. „Ich kann mich auch nicht erinnern, dass er mir gegenüber eine Bemerkung gemacht hätte oder die Hand an die falsche Stelle gelegt hätte. Dann hätte ich ihm schon was erzählt!“ Sie lächelte bitter. „Aber das heißt ja jetzt nicht, dass er es nicht bei einem anderen Mädchen getan hat. Auch Menschen, die wir zu kennen glauben, können wohl ihre dunkle Seiten haben.“
„Um uns herum passiert anscheinend manches, von dem wir nichts ahnen“, sagte Thor ernst. „Das habe ich mir auch gedacht, als die Nachricht kam, dass Julius sich das Leben genommen hat.“
Noah schluckte. In diesem Moment sprach Luisa einen seiner Gedanken aus: „Schon gruselig, was hier in diesem Schuljahr alles passiert.“
„Hoffentlich war es das jetzt mit den bösen Überraschungen bis zum Abi“, fügte Noah hinzu. Aber so ganz schenkte er seinen Worten selbst keinen Glauben. War es ein Zufall, dass kurz nach Julius‘ Selbstmord ein bisher unbescholtener Physiotherapeut der sexuellen Belästigung beschuldigt wurde? Wie gut kannte Noah wirklich all die Menschen, mit denen er im Sportinternat jeden Tag zu tun hatte?
Der Gong zum Ende der Frühstückszeit riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah auf seinen Stundenplan. „Ich hab gleich Englisch-LK“, meinte er mit einen Blick zu Nico. „Du wohl auch.“
Nico nickte und leerte seine Müslischüssel. „Was macht ihr denn da gerade?“
„Jetzt in der dreizehnten steht Shakespeare an. Hat Frau Hartgraves vor den Sommerferien angekündigt. Macbeth. Meine Mutter als studierte Anglistin schwärmt davon. Vielleicht wird es Zeit, dass ich auch mitreden kann.“
„Macbeth ist echt gut! Macht und Gier und Mord, das sind Themen, die heute mindestens genauso aktuell sind wie zu Shakespeares Zeiten“, sagte Nico und bekam leuchtende Augen. „Aber ich sollte nicht zuviel spoilern, falls du es noch nicht gelesen hast. In Berlin hatten wir das schon. Falls du also bei der Textanalyse ein paar Insider-Tipps brauchst … Sorry, ich spreche hier mit Noah Bergmann, ich vergaß. Natürlich brauchst du die nicht.“
Noah musste grinsen. Die Englischstunde mit Nico versprach, interessant zu werden.