14. Kapitel: Axolotl und Neuanfänge

Dienstag, 16. August 2022, 09:00 Uhr

Tatsächlich wurde die Englischstunde sehr interessant. Allein die Tatsache, dass Nico neben ihm saß, sorgte in Noah für eine neuartige Mischung aus kribbelnder Aufregung und wohltuender Wärme. Die Klasse las den Anfang von Macbeth mit verteilten Rollen und Noah hörte fasziniert zu, wie Nico als dritte Hexe viel Pathos in seine prophezeienden Worte legte. Ebenso wie Noah beteiligte sein Mitbewohner sich rege am Unterricht und Noah spürte dabei häufig seinen herausfordernden, leicht schelmischen Blick. Wollte Nico ihm etwas beweisen?

In der darauffolgenden Mathestunde war Nico nicht mehr ganz so souverän. Während Herr Wozniak Noahs Zusatzaufgaben lobte, ließ er den Neuen ein paar Integrale an der Tafel vorrechnen. Bei den einfachen Funktionen schlug Nico sich noch recht gut, doch kaum ging es an die partielle Integration, konnte er nur noch ratlos „Was ist das schon lange her …“ murmeln.

„Wenn Sie über die Sommerferien manches vergessen oder anderes in Ihrer alten Schule noch nicht durchgenommen haben, ist das kein Beinbruch. In den nächsten Wochen können wir daran arbeiten, die Lücken zu schließen“, meinte Herr Wozniak mit einem Blick, in dem sowohl Strenge als auch Ermunterung zu lesen war. „Vielleicht kann Ihnen Ihr Sitznachbar dabei etwas unter die Arme greifen?“

„Äh ja. Klar, gerne.“ Häufig half Noah Mitschülern. Unabhängig von der Wertschätzung, die ihm sein Wissen einbrachte, genoss er es, sich mit jemand anderem zusammen durch das sichere Territorium der Mathematik zu bewegen. Doch nun ging es um Nico. Die Aussicht auf gemeinsame Nachhilfestunden gab auch der wohlbekannten Integralrechnung den Hauch von etwas Unbekanntem, etwas Neuem, das Noah so noch nicht erlebt hatte.

Er sah, wie Nico zufrieden lächelte und fragte sich, ob die Aufregung, Neugier und Vorfreude auch auf seinem eigenen Gesicht abzulesen waren.

***

„Leute, was seid ihr alle langweilig!“ rief Aylin, als Noah sich zum Mittagessen an den Tisch setzte. Ihr Blick ruhte auf den Vollkornspaghetti Bolognese auf seinem Teller. „Bin ich denn die einzige von uns allen, die sich an das Lupinen-Tempeh getraut hat?“

„Wir lassen dich gerne das Lupinen-Tempeh testen, was auch immer das sein mag. So lange lob ich mir meine Nudeln“, meinte Thor und rollte sich die Spaghetti auf die Gabel.

Auch Noah war es nicht nach kulinarischen Experimenten zumute, an diesem ohnehin schon aufregenden Tag noch weniger als sonst. Er war froh, bisher gut durch die Schulstunden gekommen zu sein, ohne sich von Nicos Nähe zu sehr aus dem Konzept bringen zu lassen. Als sie in der letzten Stunde gemeinsam ins Biobuch geschaut hatten und er Nicos Atem nah bei sich gespürt hatte, war das nicht leicht gewesen.

Über die Biolehrerin wurde auch beim Essen geredet. „Die Heinke ist eigentlich ganz okay“, fand Luisa. „Aber sie ist recht streng, man sollte sich immer beteiligen.“

Noah legte seine Gabel ab und drehte sich zu Nico, der ihm schräg gegenüber sah. „In Bio kann man auch immer mit den Projektarbeiten punkten. Ich habe letztes Jahr eine über das Axolotl geschrieben. Das sind diese Lurche, die die Fähigkeit zur Regeneration haben und nach Verletzungen ihre Gliedmaße oder Organe wiederherstellen können.“

„Die Arbeit, für die du 15 Punkte bekommen hast? Und ich war in gewisser Weise dran beteiligt, weil ich sie für dich ausgedruckt habe?“, grinste Luisa.

„Dass Noah 15 Punkte bekommt, ist ja nichts besonderes“, sagte Thor in Richtung seiner Freundin.

„Es geht doch nicht um die 15 Punkte“, winkte Noah bescheiden ab. Er redete nicht gerne mit den anderen über seine Einsen, so wichtig sie ihm persönlich auch waren. „Sondern um Projektarbeiten generell. Und darum, dass Axolotl tolle Tiere sind!“

„Sich einfach seine Organe nachwachsen zu lassen, muss schon sehr praktisch sein“, meinte Nico. „Keine Angst mehr vor Krankheiten und Verletzungen! Oder ganz allgemein immer wieder neu anfangen, sich verändern und neue Wege gehen. Da gibt es ja noch einige Beispiele in der Biologie. Diese eine coole Pflanze – ich weiß gar nicht, wie sie genau heißt – schließt nachts ihre Blätter und öffnet sie am nächsten Morgen. Der Inbegriff des Neuanfangs. Da soll sogar der englische Ausdruck to turn a leaf herkommen.“

Noah hörte interessiert zu, während er sich den nächsten Löffel mit Spaghetti in den Mund schob. Neu anfangen, neue Seiten entdecken – das hieß auch, sich außerhalb der eigenen Komfortzone zu bewegen. Nicht seine Stärke.

Nele hingegen lächelte Nico an: „Das mit dem Neuanfang machen wir beide ja gerade. Bist du auch so gespannt auf das erste Training nachher?“

„Oh ja!“, rief Nico. „Mal schauen, wie mich die anderen Läufer so aufnehmen – und der Trainer. Wie ist der eigentlich so?“

„Kennst du J.J. noch nicht?“, fragte Thor verwundert. „In der Lauf-Szene ist der doch bekannt wie ein bunter Hund.“

„Klar, vom Namen her schon, aus den Medien und von Wettbewerben. Aber hier an der Schule bekommt ihr sicher viel mehr mit“, sagte Nico und rollte seine letzte Spaghetti auf.

„Das kann man sagen“, sagte Luisa zustimmend. „Das Internat ist mächtig stolz darauf, dass er als Trainer zu uns gekommen ist und nicht Daniel Wagenknecht und Co. in Stuttgart trainiert. Man merkt ihm noch diesen Star-Appeal von früher an, als er eine Medaille nach der anderen einheimste und sein Gesicht auf allen Werbeplakaten zeigte. Und irgendwie sieht er immer noch gut aus.“

„Ey, die schwarzen Haare sind doch längst nicht mehr echt, sondern gefärbt“, warf Aylin ein. „Aber zugeben, dass der Lack ab ist, kann er natürlich nicht. Da versucht er sich lieber künstlich jung zu halten. Hat er nicht diese Blondine geheiratet, die zwanzig Jahre jünger ist? Was die wohl an ihm findet?“

„Naja, Erfolg macht sexy und den hat er“, sagte Luisa und fing sich einen kritischen Blick von Thor ein. „Erst als Sportler und jetzt als Trainer. Er verlangt wohl viel von seinen Leuten, doch der Erfolg gibt ihm recht. Schau dir allein an, was unsere Läufer am Samstag abgeräumt haben: Malte und Cem mit Gold und Bronze, und dazu war Amelie die Sensation bei den Mädels.“

„Apropos Amelie, vielleicht war das Ganze doch ein bisschen viel für die Arme“, meinte Aylin und schob ihren leeren Teller des Lupinen-Tempehs zur Seite. „Heute ist sie ganz platt und liegt im Bett. Hoffentlich keine Grippe! Ich hole ihr gleich eine Portion vom Mittagessen.“ Sie stand auf.

„Sag ihr gute Besserung!“, rief Luisa, und Thor fügte grinsend hinzu: „Nimm für sie aber bitte die Spaghetti und nicht dieses Lumpen-Tempeh, sonst wird sie bestimmt nicht gesund!“

„Lupinen-Tempeh! Ist vegan und nachhaltig und hat viel Protein“, warf ihm Aylin entgegen. Sie schüttelte verständnislos den Kopf. Noah sah ihr nach, als sie sich auf den Weg zu ihrer kranken Mitbewohnerin machte.