Dienstag, 16. August 2022, 14:02 Uhr
Als Noah wenig später auf den Sportplatz trat, überkam ihn sofort ein Gefühl der Vorfreude auf seine Sprünge unter freiem Himmel. Er blickte nach oben auf die kleinen Schönwetterwölkchen, spürte die Sonne auf seinem Gesicht und freute sich darauf zu springen.
Während er zu seinen Teamkolleginnen und Teamkollegen lief, sah er sich auf dem Sportplatz um. Luisa hatte sich zu ein paar Kugelstoß-Spezialisten an die Anlage gesellt; er schmunzelte, als er daran dachte, wie ungern seine Freundin diese Disziplin ausführte. Zwei Speerwerferinnen sondierten gerade ihre Geräte; die Sprinterinnen und Sprinter bauten ihre Startblöcke auf, und auf der anderen Seite des Sportplatzes erblickte er Nico, Malte, Cem und die anderen Langstreckenläufer. Nico schien sich ebenfalls gerade im Stadion umzusehen, so dass sich ihre Blicke über die Distanz hinweg trafen. Noah musste unwillkürlich grinsen. Ob Nico wohl seine Sprünge beobachten würde?
Noah spürte einen neuen Anflug von Ehrgeiz. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass er seine Motivation noch steigern konnte, aber genau das war der Fall. Wann ging es denn endlich los? Nach dem Aufwärmen folgte das Einspringen, um Anlauf und Einstich zu testen, aber Noah brannte nur so darauf, seinen ersten richtigen Versuch zu absolvieren.
Die Latte lag zuerst bei 4,50 Metern – das sollte er doch souverän meistern! Mit einem der weicheren 4,50 Meter langen Aluminiumstäbe in der Hand wartete er noch ab, bis ein leichter Windhauch vorübergezogen war und lief dann los, schneller und immer schneller. Fokussiert auf den Bewegungsablauf und doch ohne bewusst darüber nachzudenken, stach er den Stab ein, bog ihn und sprang ab. Er liebte den Moment, sich gegen die Schwerkraft nach oben zu schwingen, diesen Augenblick, in dem die Welt Kopf stand und doch genauso war, wie sie sein sollte. Dann kam die Beschleunigung, mit der der gebogene Stab die Energie wieder an ihn abgab wie ein Katapult. Der Rausch des kontrollierten Fliegens, während Noah sich in der Luft drehte und mit großem Abstand sicher die Latte überquerte, war betörend.
Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen stand er von der Matte auf. Den perfekten Sprung gab es natürlich nicht. Das wusste er genauso gut wie Martin, der lobend den Daumen nach oben zeigte, während er ihn darauf hinwies, wie er die Position der Beine noch verbessern konnte. Aber mit diesem sicheren Sprung hatte Noah wieder einmal gezeigt, dass 4,50 Meter für ihn bloß eine Einstiegshöhe und keine Herausforderung waren.
Ob Nico auch gesehen hatte, wie agil er der Schwerkraft getrotzt und gen Himmel geflogen war? Noah sah, wie er hinter einer kleinen Gruppe Läufer um Malte und Cem seine Runden über den Sportplatz zog. Dass er dabei ein paar Schwierigkeiten hatte mitzuhalten, war wohl kein Wunder, hatte Malte erst am Samstag die Meisterschaften gewonnen, bei denen Nico gar nicht dabei gewesen war. Plötzlich musste er an Julius denken. Auch wenn er den Läufern früher beim Training nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte – ja, Nicos Anwesenheit konnte einen großen Unterschied machen – erinnerte er sich daran, dass Julius meist mit einigem Abstand hinter Malte und Cem gelaufen war. Julius, der kein Gewinner-Typ war. Julius, der sich deswegen in dunklen Stunden das Leben genommen hatte?
Schluss damit, er musste sich um seine Leistung kümmern, nicht um die von Nico, und durfte nun erst recht nicht an Julius denken. Er musste seine Aufmerksamkeit wieder seinem Sport widmen.
Während für Thor eine andere Höhe aufgelegt wurde, betrachtete Noah die ausliegenden Stäbe, alle 4,50 Meter lang, aber mit unterschiedlichen Härtegraden. Die weicheren bogen sich leichter, erforderten weniger Kraft und waren eher für die niedrigeren Höhen geeignet. Während eines Wettkampf stieg man auf die härteren um, die bei richtigem Krafteinsatz eine größere Katapultwirkung entfachen konnten. Die richtigen und vertrauten Stäbe zu haben, war für ihn und die anderen Springer so wichtig, dass sie diese zu den Wettkämpfen mitnahmen. Um den Transport innerhalb Deutschlands kümmerte sich das Sportinternat. Jedoch hatte Noah von Profisportlern gehört, die bei Reisen zu internationalen Turnieren stets mit den Fluggesellschaften wegen des Transports dieses Übergepäcks verhandeln mussten. Geschichten von zu spät oder gar nicht angekommenen Stäben gab es immer wieder.
Zum Glück musste sich Noah darüber momentan keine Gedanken machen; stattdessen überlegte er, ob er für die nächste Höhe schon einen seiner härteren Stäbe nehmen sollte. In diesem Moment stand Martin neben ihm und hielt ihm einen Stab hin, den er vorher noch nicht gesehen hatte: „Noah, bist du bereit für den nächsten Schritt? Es wird Zeit, dass du Erfahrungen mit dem 4,70er-Stab sammelst, so wie die großen Jungs.“
Noah sah ihn überrascht an. Ein längerer Stab bedeutete mehr Potential, um weiter nach oben zu kommen, erforderte aber auch mehr Kraft, um ihn zu biegen. Es war schwieriger, ihn zu kontrollieren. Bislang war Noah immer mit den 4,50 Meter langen Stäben der Jugendsportler und Zehnkämpfer gesprungen. In der Weltelite der Springer waren Stablängen von 4,90 Meter bis 5,20 Meter Gang und Gäbe. Noah wusste, dass er irgendwann umsatteln musste, wenn er seinen sportlichen Weg weiter gehen wollte. Aber musste das heute sein?
Was sollte er machen – seinem Trainer sagen, dass er sich nicht traute? Dass er wollte, dass alles so blieb wie bisher, obwohl er wusste, wie unrealistisch dieser Wunsch war? Das erste Training im neuen Schuljahr auf der Anlage war gleichzeitig ein Neuanfang. Neuanfänge – darüber hatten sie doch beim Mittagessen gesprochen. Wenn er doch nur ein Axolotl wäre! Oder diese Pflanze, die ihre Blätter immer wieder neu öffnete.
Martin schien sein Zögern zu bemerken: „Ich habe dir extra einen weicheren Stab rausgesucht. Länger, aber weicher. Der hat die gleiche Flex-Zahl wie dein bisheriger, du kannst also eine ähnliche Biegung erreichen. Ein Kompromiss für den Umstieg. Wenn du damit klarkommst, können wir später die härteren 4,70-Meter-Stäbe ausprobieren, vor allem, wenn dein Krafttraining Fortschritte macht.“
Trotzdem gab es beim längeren Stab einiges Neues zu beachten, vom längeren Anlauf bis zum niedrigeren Griff. Auch nach einigen Trockenübungen spürte Noah noch die innere Anspannung.
Nun wurde es ernst. Der erste Versuch über die altbekannten 4,50 Meter mit dem längeren Stab! Noah stellte sich auf die neue Anlaufstelle und sah nach vorn. Er fühlte den Stab in seiner Hand. Ungewohnt, außerhalb seiner Komfortzone und doch war da der Reiz, einen Schritt nach vorne zu machen, den Bedingungen des Profi-Sports näher zu kommen. Er lief los, steigerte sich, lief weiter, machte den Stab bereit zum Einstich – aber nein, es stimmte nicht. Er lief durch.
„Kein Problem, Noah, nächster Versuch!“, rief Martin ermutigend.
Ja, er wusste, aller Anfang war schwer. Das galt erst recht für einen neuen Stab. Nach ein paar weiteren Ratschlägen von Martin nahm er erneut Anlauf. Dieses Mal fühlte es sich besser an, der Anlauf kam gut hin, er stach ein und schwang sich nach oben – aber der Stab bog sich nicht richtig. Noah kam nicht hoch genug und stieß von unten an die Latte. Dieses Manöver musste für Unbeteiligte sicher nicht besonders elegant ausgesehen haben … Gerade als er sich von der Matte erhob, erblickte er Nico, der nur ein paar Meter von ihm entfernt auf der Bahn vorbeilief. Trotz der Anstrengung durch das Laufen meinte Noah, bei ihm einen amüsierten Gesichtsausdruck erkennen zu können. Na super.
„Sei beim nächsten Mal nicht so zaghaft!“, rief Martin. „Trau dich was, zeig dem neuen Stab, was du mit ihm machen willst und kannst!“
Auch seine Teamkolleginnen und -kollegen versuchten ihn zu motivieren. „Das wird schon“, meinte Aylin. „Wenn du einmal mit dem 4,70er warm geworden bist, hebst du richtig ab!“
Noah brauchte noch einige Versuche. Die Unsicherheit über die ungewohnte Situation, die Befürchtung, nicht klar zu kommen, war belastend. Aber beim x-ten Versuch – Noah zählte schon nicht mehr mit – kam er besser rein. Er biss die Zähne zusammen, stach den Stab ein und versuchte, sich mit all seiner Kraft nach oben zu schwingen – und das war dank des längeren Stabes plötzlich ziemlich weit oben. Das Verhältnis wirkte noch ungewohnt, doch Noah flog mit einem komfortablen Abstand sicher über die Latte. Er strahlte. Das hatte sich richtig gut angefühlt!
„Sehr gut für den Anfang. Darauf können wir aufbauen!“ Martin nickte anerkennend und in Noah machte sich Erleichterung breit. Es kam noch ein großes Stück Arbeit auf ihn zu, um mit dem neuen Stab so sicher und kontrolliert zu springen, doch der erste Schritt war getan. Er sah sich auf dem Sportplatz um. Nico war irgendwo eine halbe Runde entfernt – klar, dass er diesen guten Versuch nicht gesehen hatte. Aber vielleicht gab es ja noch mehr Gelegenheiten, ihm zu zeigen, was er konnte.
Tatsächlich schien Martin es sich vorgenommen zu haben, Noah an diesem Tag bewusst zu machen, was für neue Möglichkeiten der längere Stab bot. Anstatt sich auf die technischen Details im Bewegungsablauf zu konzentrieren, legte er die Latte höher und höher.
Die 4,60 Meter und 4,70 Meter nahm Noah erstaunlich sicher. Er konnte förmlich spüren, wie ihn der längere Stab weiter in die Höhe katapultierte, wenn er sich mit aller Kraft daran nach oben schwang. Es war ein Höhenflug auf neuem Niveau und es schaffte Selbstvertrauen, wie Noah zufrieden feststellte, als er während der Versuche der anderen seine Kräfte sammelte.
„Na, hast du Lust auf eine Wiederholung deiner Bestmarke vom Samstag?“, fragte Martin wenig später lächelnd. Noah nickte. Das war definitiv eine Herausforderung, schließlich war er die 4,80 Meter erst einmal bei einem Wettkampf gesprungen und das mit seinem gewohnten Stab. Er nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche und atmete tief durch.
Den ersten Versuch über die 4,80 Meter riss er, auch wenn er das Gefühl hatte, nicht schlecht gesprungen zu sein. Martin korrigierte den Griff des Stabes und gab einige weitere Tipps, doch auch der zweite Versuch ging daneben. Noah war angespannt, irgendwie musste es doch klappen, seine Erfahrungen mit dem alten Stab und die Möglichkeiten des neuen zu verbinden. Er konzentrierte sich auf die Bewegung, mobilisierte seine Kräfte und riss sich am Stab nach oben. So weh es tat, wenn alle Muskeln angespannt waren, so befreiend war es, mit der Kraft des Stabes zu fliegen. Hoch hinaus, über die Latte, die zwar leicht wackelte, als er sie mit dem Fuß berührte, aber liegen blieb. Wie toll war das denn!
Aylin und Thor klatschten, und auch Martin sagte anerkennend: „Super, Noah, so hatte ich mir das gedacht! Natürlich werden wir in der nächsten Zeit deine Sprünge in Zeitlupe analysieren und noch einiges verbessern. Aber du siehst, wozu du in der Lage bist, wenn du dich etwas traust. Kontrolliert und souverän wie immer, aber nun mit einem Profi-Stab – das kann noch hoch hinausgehen, wenn du willst!“
Nur am Rande bekam Noah mit, wie für die anderen in seinem Team unterschiedliche Höhen aufgelegt wurden und wie sie damit zurechtkamen. Wie lange ging das Training eigentlich schon? Im Höhenrausch hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Gerade wollte er das Handy aus seiner Sporttasche nehmen, um die Uhrzeit nachzusehen, da rief Martin alle Springer zusammen: „Jeder noch einen Sprung bei selbstgewählter Höhe zum krönenden Abschluss!“
Das konnte für Noah in diesem Moment nur bedeuten, dass er die 4,90 Meter probieren würde. Mit Ehrfurcht beobachtete er, wie die Latte aufgelegt wurde. Verdammt weit oben. Aber er spürte, dass er das packen konnte. Er hatte den längeren Stab, er hatte die Kraft, er hatte die Energie in sich.
Seine Teamkolleginnen und -kollegen klatschten, um ihn anzufeuern, wodurch auch einige andere Sportlerinnen und Sportler auf diesen wohl bedeutsamen Versuch aufmerksam wurden. Aus den Augenwinkeln sah Noah drei Speerwerfer zu ihm hinüberblicken. Dann schaltete er die Umgebung für sich aus und sprintete los, schneller und schneller. Der letzte Sprung, alles geben, volle Energieübertragung von allem, was er in sich trug, an den Stab und vom Stab wieder an ihn zurück. Er flog in den Himmel, rauschte durch die Luft, geradewegs über die Latte. Noch im Fallen durchströmte ihn ein seliges Glücksgefühl, getragen vom Jubel seiner zuschauenden Mitschüler. Und als er von der Matte aufstand, sah er Nico in einigen Metern Entfernung laufen. Ihre Blicke trafen sich und Nico gab ihm strahlend das „Daumen hoch“ Zeichen.
Noah hatte nicht gedacht, dass dies möglich war. Aber es schien, als ob sich seine Glücksgefühle in diesem Moment noch verdoppelten. Was für ein Training! Ein längerer Stab, der nicht so hart war. Bei dem Gedanken daran, welche Doppeldeutigkeiten Nico wohl in diese Worte interpretieren würde, wurde Noah rot.