16. Kapitel: Das Geschehene verarbeiten

Dienstag, 16. August 2022, 16:21 Uhr

In welcher Szene kam noch mal das Macbeth-Zitat vor, das sie analysieren sollten? Noah schob sich einen Löffel seines Joghurts mit Nüssen in den Mund, während er in der Lektüre blätterte. Auch nach der Dusche hielt das Glücksgefühl des erfolgreichen Trainings an, und er bemerkte das zufriedene Lächeln auf seinem Gesicht – trotz der Englisch-Hausaufgaben, auf die er an diesem Nachmittag gut hätte verzichten können.

Er lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und streckte seine Arme. Die körperliche Anstrengung steckte ihm in den Gliedern; vielleicht deutete sich auch schon ein leichter Muskelkater des morgendlichen Krafttrainings an. Doch Noah nahm es als das gute Gefühl der getanen Arbeit wahr. Er musste jetzt diese Hausaufgabe zu Papier bringen. Am besten bevor Nico zurück aufs Zimmer kam und es mit dem konzentrierten Arbeiten schwierig werden könnte.

Mit diesem Ansporn gelang es ihm tatsächlich, seine Gedanken zu Macbeth auszuformulieren. Er hatte fast den letzten Punkt erreicht, als Nico die Zimmertür öffnete. Frisch geduscht war er, seine noch feuchten Haare standen zu allen Seiten ab, und Noahs schneller schlagendes Herz fand wieder einmal, dass er umwerfend gut aussah. Dennoch war nicht zu übersehen, dass Nico ziemlich kaputt war. So wie er sich aufs Bett fallen ließ, machte er auch keinen Hehl daraus.

Noah lächelte. „Na, wie war dein erstes Lauftraining?“

„Interessant.“

„Was für ein Wort …“

„Aber es stimmt.“ Nico blickte an die Decke. „Ich spüre zwar meine Beine kaum mehr, aber es ist ein geiles Gefühl hier auf dem großen Sportplatz zu laufen. All diese Eindrücke, diese Menschen, die alles für den Sport geben.“ Er blickte Noah an. „Du bist toll gesprungen.“

Noah spürte, wie sich die innere Wärme ausbreitete. „Ich habe gesehen, dass du bei meinem letzten Sprung in der Nähe warst.“ Er berichtete vom längeren Stab und war überrascht, dass Nico zwar grinste, aber keinen doppeldeutigen Kommentar machte.

Stattdessen meinte er: „Tja, mit solchen Erfolgen kann ich nicht mithalten. Malte und Cem laufen echt in einer anderen Liga. Beeindruckend, fast ein bisschen angsteinflößend.“ Er seufzte. „J.J. hat mir klar gesagt, dass ich noch einen langen Weg vor mir habe. Er will in den nächsten Wochen sehen, was in mir steckt, um dann zu bestimmen, wie man am besten Medaillenmaterial aus mir machen kann.“ Er bewegte seine Zeigefinger, um das Wort Medaillenmaterial in Anführungszeichen zu setzen.

„Das passt zu J.J. Hart und direkt, aber er bringt seine Sportler auf die oberen Podestplätze. Wer weiß, vielleicht landest du doch im Olympia-Team für L.A.?“ Er sah Nico an und dachte an ihr Gespräch am See am vergangenen Abend zurück. Californication.

„Guter Witz.“ Nico verzog das Gesicht zu einem grimmigen Grinsen. „Nach meinen persönlichen Zielen und Träumen hat er nicht gefragt. Aber das mit dem Lauf-Olympia-Team überlasse ich doch lieber Malte, der führt sich jetzt schon so auf. Wie der mich höhnisch angegrinst hat, als er mich überrundet hat, mit Cem in seinem Windschatten! Ich weiß nicht, ob der J.J.s Einschätzung teilt, dass man aus mir Medaillenmaterial machen kann.“

„Ist das wirklich so hyper-kompetitiv bei euch Läufern, jeder gegen jeden? Bei uns Stabhochspringern will auch jeder sein bestes geben, aber wir feuern uns gegenseitig an und freuen uns für den anderen, der einen gelungenen Sprung macht. Ich habe gehört, dass auch an der Weltspitze eine freundschaftliche Atmosphäre unter den Konkurrenten herrschen soll; sie helfen sich gegenseitig beim Transport der Stäbe und so weiter.“ Noah überlegte. „Kann sein, dass es daran liegt, dass wir im entscheidenden Moment nicht gegeneinander springen, sondern jeder für sich gegen die Schwerkraft. Wogegen bei euch Läufern … Du siehst während deines Laufes permanent die anderen und deine Position im Vergleich zu ihnen.“

„Hmmm, interessante Sichtweise“, meinte Nico. „Klar ist Laufen ist von Natur aus kompetitiv, auch wenn ich mir versuche zu sagen Run your own race und scheiß drauf, wie viel schneller Malte läuft. Trotzdem gibt es auch unter uns Läufern einen guten Zusammenhalt, zumindest in meinem früheren Team. Kann sein, dass ich hier als Neuer bloß erstmal reinfinden muss. Malte hat heute sein Revier markiert; ob er immer so ist, kann ich nicht einschätzen. Er und Cem scheinen sich beim Training jedenfalls gut zu unterstützen.“

„Laut Aylin klappt das vor allem deswegen, weil Malte der bessere ist und Cem alles dafür tut, ihm wie ein Hündchen hinterherzulaufen.“

Nico kicherte. „Passender Vergleich!“ Dann wurde er ernst. „Aber sag mal, wie passte denn eigentlich Julius dort rein? Vielleicht verstehe ich das Laufteam besser, wenn ich weiß, was Julius für ein Typ war und wie er mit den anderen klarkam?“

„Ach, Julius …“ Noah tat einen tiefen Seufzer. Der Gedanke an ihn rollte wie eine innere Flutwelle durch seinen Körper. Eine Flutwelle, der er nicht entkommen konnte. „Julius war immer der Ruhige, der Unbeteiligte, der Mitläufer. Auch wörtlich genommen. So wie ich das mitbekommen habe, war er eine ganze Ecke langsamer als Malte und Cem und lief nie ganz vorne mit.“

„Wie hat er sich mit Malte verstanden?“

„Besonders eng waren sie sicher nicht. Julius war mit niemandem eng und das schien ihn nicht zu stören. Ich glaube nicht, dass Malte und Julius ein größeres Problem miteinander hatten. Julius war klar langsamer als Malte und hat sein Ego nie gefährdet. Doch was Julius wirklich über Malte gedacht hat, ob er ihn nervig und arrogant fand oder ihn vielleicht heimlich bewundert hat … Keine Ahnung.“

„Und wie ist er mit J.J. als Trainer klargekommen? Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass J.J. einem klare Ansagen macht, wenn man seine Erwartungen nicht erfüllt und doch kein Medaillenmaterial wird.“

„Darüber habe ich auch schon nachgedacht“, seufzte Noah. „Julius hat nicht erwähnt, dass J.J. ihn zuletzt besonders stark kritisiert hätte. Warum sollte er auch, wenn Julius sich verbessert hat und dieses Trainingscamp in Bayern absolviert hat? Kurz vor den Meisterschaften sollte es eher motivierende statt demotivierende Worte gegeben haben, selbst von J.J. Das mit seinem Tod ergibt eben keinen Sinn.“

Nico nickte langsam. Noah merkte, dass er ihm guttat, all den Gedanken, die seit drei Tagen in seinem Kopf kreisten, Ausdruck zu verleihen. Er sah an Nico vorbei auf die Wand gegenüber und sprach weiter: „Diesen Druck, den er in seinem Abschiedsbrief erwähnt hat, den spüren wir zwar alle irgendwie, aber ich hätte nie gedacht, dass Julius das so belastete, dass er … dass er keinen anderen Ausweg mehr gesehen hat. Da müssen noch einige andere Probleme hinzugekommen sein. Wieso hat er denn nie was gesagt? Warum habe ich nicht mitbekommen, wie depressiv er war? Hätte ich aufmerksamer sein müssen, hätte ich mehr nachfragen sollen?“ Er merkte, wie seine Stimme bei den letzten Worten fast erstickte.

Auch Nicos Stimme wurde weicher: „Was auch immer in Julius‘ Inneren vorgegangen ist, es war seine Entscheidung und dich trifft dabei keine Schuld. Aber ich kann verstehen, dass du dir diese Fragen stellst. Das ist wohl Teil des Prozesses, das Geschehene zu verarbeiten. Du konntest es nicht verhindern und Julius schien auch nicht gewollt zu haben, dass du es verhinderst.“

„Sein Tod ist halt so … sinnlos und ich komme nicht umhin zu denken, dass ich vielleicht doch irgendeinen Hilferuf übersehen habe. Auch wenn wir in den Ferien noch weniger Kontakt hatten als sonst. Generell redeten wir hauptsächlich über Belanglosigkeiten des Alltags, wer geht morgens zuerst ins Bad, was hatten wir noch mal in Bio auf, und so was. Eigentlich passte das gut für uns beide … Aber jetzt wünsche ich mir, ich hätte ihn besser gekannt.“

Noah schluckte und schnäuzte sich die Nase. Nein, nicht heulen, nicht jetzt, nicht hier vor Nico. Der saß auf seinem Bett und blickte Noah mit einem Blick an, in dem sich Verständnis, Mitleid und Ermunterung spiegelten. Eine unausgesprochene Ermunterung weiterzureden. Und so redete Noah über Julius und wie er ihn kannte und erlebt hatte, über Julius im Schulunterricht und im Mitbewohneralltag in diesem vergangenen Jahr.

„Du sagst zwar, du kanntest ihn nicht gut“, meinte Nico nach einer Weile. „Das verstehe ich in gewisser Weise, da ihr euch nicht so nah standet. Aber dennoch finde ich, du hast ein ziemlich klares Bild von ihm gezeichnet. Ich könnte mir vorstellen, was dir vielleicht helfen kann, mit seinem Tod umzugehen.“

Noah sah ihn interessiert an. „Was denn?“

„Du könntest mit seiner Familie Kontakt aufnehmen. Mit jemandem über Julius zu reden, der ihm nahe stand und der andere Seiten von ihm kannte. Vielleicht verstehst du ihn dann als Mensch besser – und auch seinen Tod. Hast du nicht erwähnt, dass Julius eine Schwester hatte?“

„Äh ja, Sabine. Sie studiert irgendwas in Rostock, nein, Greifswald“, überlegte Noah. Sollte er wirklich diese Sabine kontaktieren? Instinktiv wollte er ablehnen, doch er musste zugeben, dass Nicos Argumente Sinn ergaben. Was hatte er schon zu verlieren? Vielleicht wollte Sabine nicht mit ihm reden, aber wenn doch, dann könnten ihre Gedanken womöglich Licht ins Dunkel um Julius‘ Tod bringen. So tippte Noah tatsächlich wenig später ‚Sabine Adam Greifswald‘ in die Suchmaschine. „Hier! Sie ist in einer Studierendenorganisation aktiv. Da ist ihre E-Mail-Adresse.“

„Na dann los“, meinte Nico. Noah überlegte, wie er die Nachricht formulieren wollte, hielt es dann kurz. Er kondolierte zum Tod ihres Bruders, stellte sich kurz als Julius‘ Mitbewohner vor und fragte, ob sie Interesse an einem Gespräch hätte.

Kaum hatte er die E-Mail abgeschickt, klopfte es an der Tür. Luisa und Thor steckten ihre Köpfe herein: „Kommt ihr zum Abendessen?“

Noah fuhr entsetzt zusammen: „Ist es schon so spät?!“ Er musste doch noch die Englisch-Aufgabe zu Ende schreiben und Mathe machen! Durch das Gespräch über Julius war die Zeit wie im Flug vergangen. Doch das war es wert gewesen und Noah musste feststellen, dass er sich leichter fühlte. Und wie großartig Nico zuhören konnte und ihn obendrein noch ermutigt hatte! Ja, Nico konnte ein richtig guter Freund sein … auch wenn sich tief in ihm einiges dagegen sträubte, Nico nur als guten Freund anzusehen. Plötzlich flatterten die Schmetterlinge wieder wie wild.

Auf dem Weg zum Speisesaal riss ihn Luisa aus seinen Gedanken: „Was habt ihr heute Abend noch vor? Wir suchen Mitspieler für ein FIFA-Blitz-Turnier an der Konsole.“

„Klingt cool, etwas Ablenkung nach einem anstrengenden Tag!“ Nicos Augen begannen zu leuchten. Der Anblick von Nicos strahlendem Gesicht gefiel Noah sehr, die Aussicht auf FIFA eher weniger. „Ich bin dabei, du auch?“, wandte sich Nico an ihn. Thor unterbrach ihn sogleich: „An Noah hatten wir gar nicht gedacht, der ist ja nie für FIFA zu haben.“

„FIFA ist echt nicht so meins“, sagte Noah. „Außerdem muss ich noch Mathe machen.“

„Ach ja, die Integralrechnung“, meinte Nico mit einer abfälligen Handbewegung. „Aber darüber muss höchstens ich mir Gedanken machen, nicht du! Und so ein Blitz-Turnier geht ja nicht den ganzen Abend, da bleibt sicher noch genug Zeit für deine Integrale. Gib dir einen Ruck!“

Er lächelte Noah herausfordernd an. Dieser Blick hatte nichts mehr von der Ernsthaftigkeit von vorhin, als sie über Julius geredet hatten. Nein, das war neckend, vielleicht sogar flirtend?

„Ich hab das ewig nicht mehr gespielt und bin da echt nicht gut drin“, gab Noah zu.

„Dann erkläre ich es dir“, sagte Nico und fügte zwinkernd hinzu: „Und es ist sehr beruhigend zu wissen, dass es Dinge gibt, die du nicht perfekt beherrschst!“