17. Kapitel: Ein virtuelles Fussballspiel

Dienstag, 16. August 2022, 19:49 Uhr

So fanden sie sich nach dem Abendessen zu sechst im Gruppenraum der Wohneinheit ein. Noah saß zwischen Nico und Felix auf dem Sofa, auf das sich auch noch Nele quetschte, während Luisa und Thor für sich zwei Stühle zusammenrückten. Noah war sich bewusst, wie nah er Nico war, noch viel näher als in den Schulstunden als Banknachbar. Nur wenige Zentimeter trennten ihre Beine voneinander; würde er sich beim Spielen bewegen, würden sie sich berühren. Er spürte die Aufregung in sich steigen.

Luisa begann: „Die Idee für dieses Blitzturnier kommt eigentlich von Nele“, woraufhin diese bescheiden lächelte. „Nele, magst du kurz erklären, wie du dir das vom Spielmodus her gedacht hattest?“

„Erstmal freue ich mich riesig, dass ihr alle dabei seid!“ Sie blickte freudig in die Runde und Noah bekam einmal mehr das Gefühl, dass sie ihn besonders intensiv ansah. Instinktiv rückte er ein wenig nach hinten und stieß dabei an Nico – was sich wie ein Stromschlag durch seinen Körper übertrug. Mit einem Ohr hörte er mit, wie Nele etwas von einer Spieldauer von 8 Minuten pro Spiel und dem Losverfahren der Paarungen erzählte.

Thor und Felix wurden für das erste Spiel ausgelost. Während sie eifrig die Tasten der Konsole drückten, versuchte Noah zu verfolgen, was genau auf den Bildschirm passierte. Jetzt hatte einer von Thors Stürmern es geschafft, den Ball ins Tor zu bringen, begleitet von Thors Jubel und Felix‘ Flüchen. „Du solltest es nicht so machen wie Felix. Lieber mit dem Mittelfeldspieler zurücklaufen und die Abwehrkette stabil halten“, hörte er plötzlich Nico in sein Ohr flüstern. So leise, so heimlich, so aufregend.

„Hast du noch mehr Insider-Tipps?“, fragte er leise.

„Ganz viele!“ Auch ohne seinen Kopf zu Nico umzudrehen, konnte er dessen Grinsen spüren.

Nachdem Thor Felix geschlagen hatte, wurde Nele gegen Luisa ausgelost. Auch dieses Mal flüsterte Nico ihm einige Kommentare zu. Nico schien es Spaß zu machen, sein Wissen auf diese Weise zu teilen, während Noah allein schon seine Nähe und die samtige Stimme an seinem Ohr genoss. Auf diese Weise hätte er gut und gerne den Rest des Turniers verbringen können. Doch nachdem Nele überraschend klar gegen Luisa gewonnen hatte, war es offensichtlich, welche Paarung noch übrig war.

„Keine Angst, ich spiele fair und werde keine allzu ausgefeilten Tricks anwenden. Was aber nicht heißt, dass ich dich gewinnen lasse!“, sagte Nico laut. Dann reichte er eine Steuerung an Noah weiter. „Also, zum Laufen brauchst den linken Stick, den Pass machst du mit dem X und Schießen …“ Während Noah noch mit den Augen die Tasten suchte, spürte er plötzlich, wie Nico seine Hand nahm und diese auf die Kreistaste legte. „Schießen machst du mit dem Kreis.“ Er versuchte, nicht innerlich zu explodieren. Das hier war meilenweit außerhalb seiner Komfortzone, seine Hand in Nicos auf der Spielkonsole . Ganz ruhig, es geht hier bloß um ein virtuelles Fußballspiel, sagte er zu sich selbst. Das glaubst du doch selbst nicht, sagte eine andere innere Stimme.

Als das Spiel begann, war wenigstens Nicos Hand wieder von seiner entfernt. Noah versuchte, sich auf die Steuerung der Spieler zu konzentrieren, Spieler anklicken, laufen, passen, ja das klappte irgendwie. Er merkte, dass Nico ihn kommen ließ und ihn nicht zu früh angriff, doch durch seine Abwehr war kein Durchkommen. Bald preschte Nico mit dem Ball in die Gegenrichtung: „Los, versuch mich zu stoppen!“

Noahs Ehrgeiz war gepackt, und nachdem er ein bisschen ausprobieren musste, welcher Spieler geeignet war, gelang es ihm tatsächlich, den Angriff abzuwehren. Ja, das machte sogar ein bisschen Spaß! Als Nico das nächste Mal den Ball zu seinem Stürmer abspielte, konnte er zwar nichts ausrichten und kassierte ein Tor, dafür gelang ihm kurz darauf ein Gegenangriff in Nicos Strafraum hinein. Passte sein Mitbewohner gerade wirklich nicht auf oder wollte er ihm absichtlich einen Treffer gönnen? Als Noah ins Tor traf, zeigte dessen Gesicht jedenfalls keine Spur von Unmut, eher Freude. Natürlich gewann Nico am Ende, wie zu erwarten war, mit 3:1. Doch Noah war gar nicht so unglücklich darüber, wie er sich geschlagen hatte und vor allem machte es ihn sehr glücklich, in Nicos strahlendes Gesicht zu blicken.

Um anschließend den Gesamtsieger zu krönen, wurden aus den bisherigen Gewinnern zunächst Thor und Nele ausgelost. Sie entschied das Duell knapp für sich. Nico lobte Neles Taktik und stellte heraus, was sie alles gut machte. Im FIFA-Spielen war das Mädchen echt stark, das musste Noah zugeben.

Dann hieß es Nico gegen Nele. Während dieser Partie konnte Noah seinen Mitbewohner einmal ganz offen beobachten, seinen auf den Bildschirm gerichteten und konzentrierten Blick, die leicht zuckenden Mundwinkel, die langen und flinken Finger, die behände über die Steuerung huschten … Das Spiel war schnell und trickreich; beide Mannschaften schenkten sich nichts. Am Ende musste sich Nico knapp geschlagen geben. „Alle Achtung!“, rief er anerkennend und gratulierte Nele. „Du machst das wohl öfter?“

„FIFA-Spielen ist die Lieblingsbeschäftigung von meinem kleinen Bruder und wir haben schon einige Kämpfe auf dem Bildschirm ausgetragen“, antwortete sie.

„Statt einem kleinen Bruder habe ich zwei ältere zu bieten. Aber seit wir nicht mehr zusammen wohnen, sind unsere FIFA-Turniere seltener geworden“, meinte Nico, wobei eine gewisse Melancholie mitschwang.

„Dann können wir das ja häufiger machen“, rief Nele begeistert. „Macht Spaß und mit ein bisschen Übung werden wir alle besser, das gilt im echten Sport ebenso wie bei FIFA.“

Da musste Noah ihr recht geben. Dass dieser Kommentar vermutlich an ihn gerichtet war, ignorierte er. „Ich verabschiede mich mal in Richtung Macbeth und Integralrechnung!“

Zurück auf seinem Zimmer atmete er erstmal tief durch und beendete die Textanalyse für Englisch. Er blickte auf sein Telefon: Seine Mutter hatte ihm geschrieben und wollte wissen, wie es ihm ging nach Julius‘ Tod und ganz alleine auf dem Zimmer … Oh. Noah musste schmunzeln, als er seine Antwort tippte. Zeit von Nico zu erzählen! Es würde sie beruhigen, dass ihr Sohn einen neuen Mitbewohner hatte, mit dem er sich gut verstand. Ob sie auch noch so beruhigt wäre, wenn sie wüsste, für welch turbulentes Herzklopfen und verrückte Gefühlsausbrüche dieser verantwortlich war? Aber sie musste ja nicht alles wissen.

Noah legte das Telefon zur Seite und öffnete das Mathebuch. Kaum hatte er angefangen, die trigonometrischen Funktionen zu integrieren, breitete sich eine innere Ruhe aus.

„Na, schon ein Jahrhundertproblem der Mathematik gelöst?“, fragte ihn wenig später Nico, der mit einer Flasche Holunder-Limonade in der Hand ins Zimmer kam. „Ich für meinen Teil würde lieber noch weiter FIFA spielen, als mir den Kopf über der partiellen Integration zu zerbrechen.“

„Vom Prinzip her ist die partielle Integration ganz simpel. Einfach die Produktregel umgedreht, so wie die Integralrechnung die Umkehrung der Differentialrechnung ist. Das ist ja das Schöne an der Mathematik; alles ist auf logische und eindeutige Weise miteinander verbunden.“

„Wenn man es verstanden hat, kann es durchaus eine gewisse Schönheit haben“, gab Nico zu. „Zumindest so lange, bis man den ganzen Kram wieder vergisst.“

„Ich werd dir helfen, dein Gedächtnis aufzufrischen“, sagte Noah und lächelte. In seinem Bauch kribbelte es wieder, als er seinen Drehstuhl an Nicos Schreibtisch rollte. „Wie warst du in deiner alten Schule denn so in Mathe?“

„Mal ne Zwei, häufiger mal ne Drei – ich bin eigentlich recht gut mitgekommen, ohne zuviel Aufwand zu betreiben. Ein Mathe-Genie wie du werd ich nie werden, aber wenn ich in diesem Notenbereich durchs Abi komme, bin ich happy.“ Nico rückte näher an ihn heran, während er das Mathebuch und einen Collegeblock zwischen ihnen platzierte.

„Also gut“, meinte Noah und schrieb eine Funktion auf. „Kannst du noch die Produktregel? Lass uns diese Funktion ableiten und anschließend machen wir für die partielle Integration genau das Umgekehrte.“

Er reichte den Kugelschreiber an Nico weiter, wobei sich ihre Hände kurz berührten. So weich und angenehm und dennoch mit der Intensität eines Stromstoßes! Nico schrieb, Noah korrigierte, erklärte, ermunterte ihn.

„Ist ja easy. Du bist super darin, komplizierte Sachen einfach zu erklären“, sagte Nico, nahm einen Schluck von seiner Holunder-Limonade und blickte Noah von der Seite an. Bewundernd? Noah schmolz sowieso schon dahin.

„Danke, aber das sind keine komplizierten Sachen. Ich kann dir auch eine etwas schwierigere Aufgabe geben.“ Er nahm den Kugelschreiber wieder an sich und schrieb weiter. Nicos Nähe ließ ihn innerlich glühen. Konnte er tatsächlich das Holunder-Aroma in seinem Atem spüren?

„Mathe mit dir macht sogar ein bisschen Spaß“, sagte Nico nach einer Weile und legte den Stift hin. „Aber für heute reicht’s. Ich gehe davon aus, dass du uns wieder morgen früh um sechs aus dem Schlaf reißen willst.“

„Selbstverständlich.“ Noah konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie räumten ihre Sachen auf, und Nico ließ sich auf sein Bett fallen.

„Ich lese noch ein bisschen zur Entspannung“, meinte Nico.

Auch Noah nahm sich ein Buch. Die Probleme der höheren Mathematik hatte er sich in den Ferien gekauft, um in die Themen eines Mathe-Studiums hineinzuschnuppern. Vielleicht würde ihm das bei seiner Zukunftsentscheidung helfen. Doch während er über komplexe Zahlen nachdachte, konnte er dem Drang nicht widerstehen, über den Rand seines Buches einen heimlichen Blick zu Nico zu werfen. Er versuchte den Titel seines Buches zu entziffern, aber dieser war zu klein gedruckt. „Was liest du denn da?“, fragte er schließlich. Seine Neugier hatte gesiegt!

Nico zeigte ihm mit vielsagendem Blick das Taschenbuch, auf dessen Titel zwei Pfeile mit ihren gezogenen Bögen vor blauem Hintergrund abgebildeten waren. Sie waren so positioniert, dass sie zusammen die Form eines Herzens bildeten.

The Song of Achilles ?“, las Noah fragend.

„Es geht um Achilles aus dem Epos von Homer. Der Held des trojanischen Krieges, das sagt dir etwas, oder?“

„Das hölzerne Pferd, in dem sich die griechischen Krieger versteckt haben? So konnten sie doch Troja erobern, nicht wahr? Und Achilles war der mit der Ferse.“

Nico kicherte. „Ja, der mit der Ferse. Ansonsten war er ein Supertyp. Unglaublich gut aussehend, athletisch, stark, sexy …“ Seine Stimme wurde übertrieben schwärmerisch. „Er war eben ein Halbgott, der Sohn der Meeresnymphe Thetis. Er hatte viele charakterliche Stärken, war loyal, hilfsbereit und wusste, was er wollte. Aber hier in der modernen Nacherzählung kommen auch seine Schwächen gut raus, er war manchmal ziemlich impulsiv, stur und nachtragend. Das macht ihn sehr menschlich und genau das mag ich an dem Buch. Und dann die Perspektive aus der es erzählt wird …“ – er machte eine Pause – „nämlich von seinem Lebensgefährten Patroclus.“

Noah verschluckte sich fast an seiner Antwort: „Achilles war … war … schwul?!“

Während Noahs Herz plötzlich raste, schien Nico diesen Moment auszukosten: „Und ob! Dass Achilles und Patroclus zusammen waren, wird auch im Epos von Homer erwähnt. Allerdings hat man sich jahrhundertelang große Mühe gegeben, das zu überlesen oder kleinzutreten, weil es nicht ins heteronormative Weltbild gepasst hat. Von daher ist das hier eines meiner Lieblingsbücher: Man erlebt all die Ereignisse des altbekannten klassischen Epos, aber aus der Sicht von Patroclus, der Achilles‘ große Liebe war, von Teenagerzeiten bis zu seinem viel zu frühen Tod.“

Noah war immer noch perplex von dieser Offenbarung und wusste nicht, was er sagen sollte. Das Lieblingsbuch seines Schwarms war eine schwule Liebesgeschichte. War das ein Wink mit dem Zaunpfahl und unterstrich somit all die vielsagenden Blicke und Kommentare von Nico in den letzten Tagen? Er war überfordert, stammelte mit Mühe etwas wie: „Klingt spannend. Also romantisch … die große Liebe bis zum Tod.“ Sehr tiefsinnig, Noah, ärgerte er sich über sich selbst.

„Ich kann es dir gerne mal ausleihen. Also wenn du“ – Nico beugte sich nach vorne, um Noahs Buchtitel zu lesen, „die Probleme der höheren Mathematik gelöst hast.“ Er zwinkerte Noah zu, woraufhin dieser rot anlief.

Noahs Herz klopfte so wild, dass er befürchtete Nico könnte es hören. War jetzt der richtige Moment, sich vor ihm zu outen? Und nicht nur das, sondern ihm seine Gefühle zu offenbaren?

Dass Noah bis über beide Ohren verknallt war, konnte er vor sich selbst nicht mehr leugnen. Doch so sehr er diesen Zustand genoss, so sehr fürchtete er den nächsten Schritt. Was, wenn er Nicos Signale doch falsch interpretiert hatte und zurückgewiesen werden würde? Oder, fast noch furchteinflößender, was wäre, wenn er nicht zurückgewiesen würde? Was, wenn Nico seine Gefühle erwidern und mit ihm zusammen ausleben würde? Würde er dann nicht komplett die Kontrolle verlieren?

Die Gedanken kreisten durch Noahs Kopf, und sein Körper stand unter Strom, auch noch, als Nico das Licht löschte. Das letzte, was Noah von ihm hörte, war: „Gute Nacht! Sweet Dreams!“