18. Kapitel: Sweet Dreams

Mittwoch, 17. August 2022, 04:14 Uhr

Eine wohlige Wärme hüllte ihn ein. Es war warm, ja, sogar heiß. Wie ein Feuer, ein knisterndes und prickelndes Feuer. Er konnte spüren, wie es in ihm loderte und kribbelte, auf seiner Haut, in seinen Adern, überall. Und es wurde immer heißer. Da waren plötzlich Fingerspitzen, so zart und sanft und doch so intensiv, dass sie das Feuer weiter anheizten. Fingerspitzen, die ihm über seine Wange fuhren und über seine Lippen. Da war ein Kopf; er spürte ihn mehr als dass er ihn sah. Er spürte die Wangen mit den leichten Stoppeln, er spürte die wild abstehenden Haare. Das Feuer loderte, breitete sich tiefer in seinem Körper aus. Und wieder Fingerspitzen, jetzt nicht mehr an seinen Lippen, sondern an seinem Hals, an seinen Schultern, an seinem Schlüsselbein, an seiner Brust, rund um seine Brustwarzen herum, an seinem Bauch, in seinem Bauchnabel, an seinen Leisten, an seinem Glied. Vor Hitze war es nicht mehr auszuhalten. Dann war da plötzlich eine Zunge, eine sehr bestimmte und neckische Zunge, die mit ihm spielte, ein Mund, der ihn umfasste, und inmitten von all dem Feuer sah er tiefblaue Augen, blau wie das Meer, Wasser wie Feuer, wie –

„Aaah!“ Noah erwachte mit einem Aufschrei. Er sah sich verwirrt um. Im Zimmer herrschte komplette Dunkelheit. Ihm wurde bewusst, dass er zitterte. Kein Wunder, denn er war klitschnass, und das war nicht nur Schweiß. Ach du Scheiße.

„Was is?“, hörte er Nicos verschlafene Stimme vom anderen Ende des Zimmer.

„Äh, alles okay. Hab nur geträumt!“

Er bemühte sich, seine eigene Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen, auch wenn er innerlich immer noch bebte. Hoffentlich würde Nico schnell wieder einschlafen, damit er in Ruhe ins Bad gehen, sich abtrocknen und die Boxershorts wechseln konnte. Ausgerechnet Nico, der gerade noch … Aber das war ja nur ein Traum gewesen.

Es fiel Noah schwer, anschließend wieder einzuschlafen. Kurz nachdem es ihm nach langem Hin- und Herwälzen doch noch gelungen war, klingelte der Wecker mit dem Refrain von Whatever it takes.

Er hörte Nico „Och nööö!“ stöhnen und hätte sich ihm am liebsten angeschlossen. Das war einer jener Tage, an denen er einiges dafür gegeben hätte, kein Leistungssportler zu sein, der mit der Aussicht auf anderthalb Stunden körperliche Qual beim Kraft- und Ausdauertraining um 6 Uhr aufstehen musste. Wenn er stattdessen noch ein bisschen Schlaf bekommen könnte … Noch so einen Traum wie vorhin … Schluss jetzt! Er schob den Gedanken sofort beiseite und stand auf. Die Imagine Dragons hatten recht. Er musste tun, was er zu tun hatte, um seine sportlichen Ziele zu erreichen. Es würde ihm guttun, auf der Hantelbank an seine Grenzen zu gehen. Er musste diesen verrückten Traum hinter sich lassen und zur Realität zurückkehren. Er schlich sich ins Bad und betrachtete im Vorbeigehen seinen Mitbewohner im Bett. Nicos Haare standen nach der Nacht wild ab und seine Augen waren noch klein und verschlafen, aber dennoch tiefblau. Vom Traum ablenken, dann mal viel Erfolg dabei!

Beim Training wurde Noah tatsächlich so geknechtet, dass immerhin die Müdigkeit im Nu verschwand. Kaum hatte er sich auf dem Crosstrainer aufgewärmt, schickte Pascal ihn gleich auf die Hantelbank und betonte noch einmal die Bedeutung der Schulter- und Oberarmmuskulatur, gerade beim Sprung mit einem längeren Stab, den man mehr biegen musste. Schließlich lastete im Moment des Absprungs das Dreifache des Körpergewichts am Oberarm. Als ob ich das nicht wüsste, dachte sich Noah. Was nichts daran änderte, dass die zehnte Wiederholung mit der Langhantel sauschwer war. Whatever it takes - Wenn ihn das über 5 Meter und weiter bringen würde, war es das wert. Er lächelte Thor matt zu, als er mit seinem Teamkollegen die Plätze an der Hantelbank tauschte.

Nach Beendigung des Trainings fühlte sich Noah gleich besser. Die härtesten 90 Minuten des Tages waren geschafft und nun durfte er sich mit einem ordentlichen Frühstück belohnen. Er schlenderte am Büffet des Speisesaals entlang. Er hatte einen Bärenhunger, wusste aber nicht so ganz worauf.

Da erblickte er Nico, der frisch geduscht mal wieder umwerfend gut aussah. Noah musste schmunzeln, als er das Motiv auf seinem weißen T-Shirt sah: Auf einer Erdkugel tanzten lachende grüne Erbsen unter der blauen Aufschrift „Peas on Earth“. Dazu passte die eng anliegende dunkelblaue Jeans ausgezeichnet, fand Noah, und bemühte sich nicht zu lange auf Nicos knackigen Po zu starren. Stattdessen schaute er nach vorne, um festzustellen, an welcher Schlange sein Mitbewohner hier anstand. Aha, Spiegeleier.

„Na, heute auch Lust auf Eier?“ Mit leicht nach oben gezogenen Augenbrauen und einem schelmischen Grinsen sah sich Nico zu ihm um.

„Äh, ja. Eier sind toll.“ Noah kam nicht umhin zu erröten, bemühte sich aber, in einem ebenfalls neckischen Tonfall zu antworten. So neu war die Anspielung ja jetzt nicht.

Nachdem Nico seinen Teller mit dem Spiegelei entgegengenommen hatte, drehte er sich zu ihm um: „Sag mal, was war denn los letzte Nacht? Hast du schlecht geträumt? Albtraum?“

„Nein, eigentlich gar nicht so schlimm … Eher so wirres Zeug.“ Was sollte Noah denn sonst antworten? Also, ich habe geträumt, wie du mir einen Blowjob gegeben hast und das war ziemlich geil?

„Ist schon crazy, was manchmal in Träumen abgeht“, meinte Nico.

„Kannste wohl sagen“, sagte Noah. Besser konnte man es nicht ausdrücken.

Sie steuerten auf einen großen Tisch zu, an dem bereits Luisa und Nele ihr Müsli löffelten. „Aber das Krasseste ist, wenn man einen luziden Traum hat“, fuhr Nico an Noah gerichtet fort.

„Luzider Traum?“ Davon hatte Noah schon mal gehört, ohne dass er den Begriff einordnen konnte. Auch die Mädchen unterbrachen ihre Unterhaltung, die sich, wie er ihren letzten Gesprächsfetzen entnahm, um eine Reality-TV-Show mit Singles unter Palmen drehte. Dann schon lieber luzide Träume.

„Kennt ihr das auch, wenn ihr euch bewusst seid, dass ihr träumt? Wenn ihr eure Handlungen im Traum beeinflussen könnt?“, fragte Nico mit eifriger Stimme.

„Ich hab mal davon gehört, aber es noch nie selbst erlebt“, gab Noah zu und stürzte sich auf sein Spiegelei. „Du etwa?“

„Ja, ab und zu. Und es ist jedes Mal so geil“, erzählte Nico begeistert. Sein Spiegelei lag noch unberührt da. „Dieser Moment, wenn du realisierst, dass du träumst und somit plötzlich alle Möglichkeiten hast, ist einfach der Wahnsinn.“

„Es gibt doch diesen Film. Inception , oder?“, meinte Luisa, nachdem sie einen Schluck von ihrem Apfelsaft genommen hatte. „Ich hatte immer gedacht, das ist reine Science Fiction.“

„Ist es auch. Also eine Traumwelt für einen anderen Menschen zu erschaffen, um ihn heimlich auszuspionieren, ist natürlich Hollywood. Aber luzides Träumen ist echt! In dem Film werden sogar ein paar Tricks angesprochen, wie man es trainieren kann. Zum Beispiel, indem man sich ab und zu fragt, wo man ist, wie man dorthin gekommen ist und ob das Sinn ergibt. Das kann dazu führen, dass du dir diese Fragen auch im Traum stellst und dann vielleicht erkennst, dass es eben keinen Sinn ergibt, wie du dorthin gekommen bist. Also zum Beispiel, wenn du in irgendeiner absurden Situation bist, umgeben von absurden Menschen, vielleicht Klassenkameraden aus der Grundschule, die nicht gealtert sind. Dann realisierst du, dass du träumst und kannst deine Handlungen im Traum steuern.“

Nele schob ihre leere Müslischale beiseite: „Ich glaub, ich hatte so einen luziden Traum auch mal. Aber leider nur kurz, dann bin ich aufgewacht. Voll schade! Ich hätte echt gerne dieses Gefühl – jetzt kann ich machen, was ich will, denn es passiert ja nicht wirklich!“ Ihre Augen glänzten, als sie Noah einen vielsagenden Blick zuwarf.

„Das ist ja das Geile“, stimmte Nico ein. „Plötzlich hast du alle Möglichkeiten und nichts zu verlieren, musst nicht lange überlegen und keinerlei Konsequenzen fürchten. Wünschen wir uns das nicht alle?“

„Ich weiß nicht“, meinte Noah nachdenklich. „Es gibt zwar Dinge, auf die ich gut verzichten könnte, wenn es keine Konsequenzen hätte. Die Hantelbank zum Beispiel.“ Er lächelte. „Aber ansonsten bin ich nicht der Typ, der dann total aufdrehen würde, Autos knacken und in einer Kamikaze-Fahrt durch die Stadt sausen würde. Nee danke.“

„Noah, der Autoknacker“, kicherte Luisa.

„Es muss ja nicht gleich die Kamikaze-Fahrt sein. Man muss auch seine Werte und Ideale nicht verlieren“, meinte Nico an ihn gewandt. „Ganz im Gegenteil, man kann ja von einer besseren Welt träumen. Wo man gegen das Böse kämpft und gewinnt. Wo man seine Hemmungen hinter sich lässt und sich etwas traut und …“

„Es ist Amelie!“ Aylin stand plötzlich vor ihrem Tisch und wirkte total aufgelöst.

„Was ist mit Amelie?“, fragte Noah.

„Amelie ist diejenige, wegen der dieses Schwein rausgeflogen ist!“

Noah verstand immer noch nichts und sah an den Gesichtsausdrücken von Nico, Luisa und Nele, dass auch sie Aylin nicht ganz folgen konnten. „Amelie, das Lauf-Nesthäkchen? Was ist mit ihr, und um welches Schwein geht es?“, fragte Luisa.

„Das Schwein Johannes Freitag. Er hat Amelie während der Physiotherapie begrapscht.“