Mittwoch, 17. August 2022, 09:50 Uhr
Noah versuchte durch diesen Vormittag zu kommen, der zu viele Fragen und zu wenige Antworten bereithielt. Was war zwischen Amelie und Johannes passiert? Aylin hatte berichtet, wie ihre Mitbewohnerin immer noch krank im Bett lag, aber nicht sagen wollte, was ihr fehlte. Unter Tränen habe sie schließlich hervorgebracht, dass Johannes sie während der Physiotherapie begrapscht habe. Über weitere Details schwieg sie; es sei schwer genug gewesen, mit der Schulleitung die ganze Sache durchzugehen. Aylin war völlig außer sich gewesen, und auch Noah hatte die Neuigkeit getroffen. Er dachte an Amelie, die 15-jährige Nachwuchshoffnung, welche die älteren Jungs wie ihn stets mit bewundernden Blicken bedacht hatte, und nun selbst Gold bei den Jugendmeisterschaften geholt hatte. Was musste sie in den letzten Tagen durchgemacht haben? Wie konnte Johannes nur so etwas tun – was auch immer es genau gewesen sein mochte?
Diese Fragen würde Noah nicht sofort klären können, zumindest nicht jetzt während der Doppelstunde Deutsch. Er blickte zu Nico, der neben ihm über sein Lektürenheft gebeugt saß und sich irgendwelche Notizen auf einem Blatt Papier machte. Hoffentlich merkte sein Sitznachbar nicht, dass er ihn beobachtete, wie er den Kuli hielt, wie ihm eine Haarsträhne in die Stirn fiel, wie er sich kurz an der Wange kratzte … Wie hatte sich diese Wange in Noahs Traum angefühlt? Schluss jetzt, zurück zu Goethes Faust! Noah las die Szene noch einmal und dachte über den Ausdruck des Pudels Kern nach. Wenn er schon nicht wusste, was mit Amelie passiert war oder wie gerne er eigentlich Nicos Wange an seiner eigenen spüren würde, dann sollte er zumindest seine gute Mitarbeitsnote in Deutsch retten.
Auch während des Mittagessens war Amelie das Thema Nummer Eins. „Das muss schrecklich für sie sein“, meinte Luisa. „Hat sie denn jemanden, mit dem sie redet? Was ist mit ihren Eltern?“
„Ihre Eltern sind gerade in Australien auf Geschäftsreise. Die Schulleitung hat ihr zwei unserer Psychologinnen und Mental-Coaches vorbeigeschickt, aber sie sagt, sie will den ganzen Scheiß nicht nochmal und nochmal durchkauen, sondern am liebsten alles vergessen. Wie konnte er ihr das nur antun!“ Aylin stand immer noch die Empörung ins Gesicht geschrieben.
„Hat Amelie sich denn geäußert, ob das eine einmalige Sache war was der Physiotherapeut mit ihr gemacht hat? Oder geht es um regelmäßige sexuelle Belästigung?“, fragte Nico.
„Keine Ahnung. Aber so wichtig ist das ja auch nicht. Wichtig ist, dass es sie total aus der Bahn geworfen hat. Kann sein, dass sie das ihr ganzes Leben mit sich herumtragen wird“, entgegnete Aylin.
„Das ist schon krass“, sagte Luisa. „Am Samstag ist sie noch der Star mit der Goldmedaille um den Hals und ein paar Tage später am Boden zerstört.“
„Vielleicht ist es bei der Physio nach dem Sieg passiert“, überlegte Nico und rührte langsam mit dem Löffel durch seine Suppe. „Oder der Sieg hat ihr den Mut gegeben, nun über ein Ereignis zu sprechen, das länger zurückliegt.“
„Wenn man mehr über die Umstände wüsste, könnte man herausfinden, ob es noch andere Opfer gibt“, sagte Noah. Eigentlich konnte er sich das nicht vorstellen. Aber er hatte sich bis zu diesem Tag auch nicht vorstellen können, dass Johannes ein Mädchen begrapschen könnte.
So war er ganz froh, als das Gespräch nach einer Weile zu den Schulfächern und Hausaufgaben wechselte, bevor Aylin sich auf den Weg machte, Amelie etwas vom Essen vorbeizubringen.
Auch Luisa und Thor erhoben sich, um ihre Tabletts wegzuräumen. Noah war noch mit den letzten Löffeln des Obstsalates beschäftigt, als Nele zu ihm aufrutschte. Sie platzierte ihr Tablett neben ihm und lächelte ihm zu. „Darf ich?“ Noah nickte etwas abwesend.
„Noah“, begann Nele mit lebhafter Stimme. „Du bist ja so ein Mathe-Genie. Hättest du vielleicht ein oder zwei Minuten, um mir was zu erklären?“ Das Hard Rock Café Madrid T-Shirt spannte sich über ihrem Busen. Noah war bewusst, dass er ihr Parfüm riechen und die Sommersprossen auf ihrem Gesicht zählen könnte, wenn er sich dafür interessiert hätte.
Er legte sein Besteck ab und versuchte lässig zu wirken: „Ich muss in ein paar Minuten los zum Training, aber klar, worum geht es denn?“ Dabei sah er aus den Augenwinkeln, wie Nico schräg gegenüber die Situation mit einer Mischung aus Skepsis und Amüsiertheit beobachtete. „Ich bring schon mal mein Tablett weg“, rief sein Mitbewohner und stand auf.
Nele dagegen schien überglücklich und holte voller Eifer ihr Mathebuch heraus: „Echt? Das ist supernett von dir, Noah! Weißt du, in meiner alten Schule in Leer haben wir nämlich nicht so komplizierte Sachen gemacht, und jetzt kommt Herr Wozniak plötzlich mit diesem Beweis von Euklid, warum die Wurzel aus 2 eine irrationale Zahl ist. Ich verstehe einfach nicht, wie man von hier nach hier kommt.“ Sie schob das aufgeschlagene Buch zu Noah und fuhr mit dem Finger über die betreffenden Gleichungen. Ihre Augen leuchteten erwartungsvoll.
„Ah, das ist ganz leicht. Wir haben zwei Zahlen p und q...“, begann Noah zu erklären und bemühte sich, seine Stimme neutral klingen zu lassen, während seine Finger im Mathebuch nahe an ihren lagen.
„Soll ich eure Tabletts auch schon mitnehmen?“ Plötzlich stand Nico wieder vor ihnen. Er blickte Noah intensiv an. Dieser nickte und erwiderte: „Äh, ja, gerne.“
„Das ist voll lieb von dir, dann haben wir mehr Platz!“, rief Nele begeistert und wandte sich wieder Noah zu. „Also, was passiert jetzt im nächsten Schritt?“
Noah hielt die Erläuterungen so einfach und knapp wie möglich, und nach wenigen Minuten rief Nele freudestrahlend: „Ich hab’s verstanden! Und du bist toll im Erklären, Noah, vielen vielen Dank!“
Mit leuchtenden Augen fügte sie hinzu: „Vielleicht kann ich mich ja bald mal revanchieren!“
Noah antwortete schnell: „Ja, äh, klar. Aber ich muss jetzt wirklich los und mein Sportzeug holen.“
Als Noah durch den Speisesaal ging, sah er, dass Nico an der Eingangstür stand und den Saal überblickte. Sein Blick glitt über die anderen Tische, von Malte und Cem am Fenstertisch und zu einer Gruppe Elftklässler am Tisch daneben, bis er schließlich Noah ansah. „Bist du soweit?“
„Du hättest nicht auf mich warten müssen“, antwortete Noah, als sie den Speisesaal verließen und nebeneinander den Gang entlang liefen. Mist, das klang vielleicht etwas zu scharf, stellte er fest. Schnell fügte er hinzu: „Aber nett, dass du es trotzdem gemacht hast.“
Nico blickte ihn an. „Sie ist nice. Ein sehr attraktives Mädchen, das auch noch super FIFA spielen kann.“
„Nele?“ Noah blieb stehen.
„Ja, Nele“, wiederholte Nico und ging weiter. „Sie legt sich sehr bei dir ins Zeug“, fügte er hinzu, als Noah zu ihm aufgeschlossen hatte.
„Ja, aber …“, begann Noah und schwieg dann. Das Gespräch war ihm unangenehm. Worauf wollte Nico hinaus? Wollte er ihn auf die Probe stellen?
Sie waren vor der Glastür am Eingang zu ihrem Wohnbereich angekommen. Nico fixierte ihn mit einem Grinsen, das Sarkasmus und Schalk in sich vereinte. „Ja aber? Hast du etwa kein Interesse an ihr?“
„Nein, hab ich nicht.“
Nico musste gar nichts erwidern; sein bohrender und erwartungsvoller Blick machte Noah klar, dass er weiter ausholen musste. Also gut. „Erstens hab ich vor dem Abi überhaupt keine Zeit für eine Beziehung.“
Nico kommentierte das nicht. Er fragte stattdessen leise „Und zweitens?“ und rückte näher an Noah heran.
Noah wurde rot; er merkte wie sein Herz schneller schlug. Was sollte er sagen? Sollte er es wagen? Jetzt hier mitten auf dem Gang vor der Glastür? Er betrachtete intensiv seine Sneakers und hob dann ganz langsam seinen Blick. „Zweitens … ist Nele nicht mein Typ“, sagte er.
„Nicht dein Typ …“, wiederholte Nico Wort für Wort in einem Tonfall, der sehr interessiert klang.
„Gut, dass ich euch treffe!“ Plötzlich wurde die Glastür von innen aufgerissen und Thor stand vor ihnen. Noah erschrak und trat einen Schritt zurück, ebenso wie Nico. „Der Wäschetrockner spinnt, und da ist noch mein Sportzeug drin. Könnt ihr mal kurz gucken?“
Sie folgten Thor über den Gang zum Gemeinschaftsraum. „Hast du schon dem Hausmeister Bescheid gesagt?“, fragte Nico mit etwas abwesender Stimme.
Noah versuchte, seinen beschleunigten Herzschlag zu beruhigen. In gewisser Weise war er Thor dankbar für die Unterbrechung. Was hätte er denn auf die Frage, wer sein Typ war, antworten sollen? Dass er auf Männer stand und insbesondere auf den Mann, der sich gerade grinsend vor ihm befunden hatte? Tief in seinem Inneren wünschte sich Noah, er hätte genau das geantwortet. Aber dann war er doch wieder froh, dass er sich nicht soweit hatte vorwagen müssen.
„Hausmeister Paulsen habe ich nicht gefunden, aber der schafft es ja noch nicht mal, sich um den kaputten Drucker zu kümmern“, sagte Thor. „Vielleicht habe ich beim Trockner nur was falsch eingestellt.“
Das war tatsächlich der Fall, wie Nico sogleich erkannte. Während er Thor half, die blockierte Trocknertür zu öffnen, atmete Noah tief durch. Er ging in sein Zimmer, um seine Sportsachen zu holen. Beim schnellen Blick auf sein Telefon stellte er fest, dass er eine neue E-Mail hatte. Julius‘ Schwester hatte ihm geantwortet:
„Hallo Noah, danke für deine Nachricht. Wenn du magst, kannst du gerne vorbeikommen und wir unterhalten uns ein bisschen über Julius. Passt es dir gleich heute Nachmittag oder morgen? Ich wohne im Studierendenwohnheim in Greifswald, Adresse anbei. Viele Grüße Sabine“
Gleich heute Nachmittag? Nach Ende des Trainings um 16 Uhr standen die Hausaufgaben an, aber wenn er sie auf den Abend verschob, wäre das machbar.
„Wie komme ich bloß nach Greifswald?“, überlegte er laut. „Du willst nach Greifswald?“ Noah blickte sich um und sah, dass Nico ins Zimmer getreten war und ihn fragend ansah.
„Ja, Sabine hat geantwortet, ich kann gleich heute vorbeikommen. Ich muss mal schauen, wie gut die Verbindung ist, wenn ich von Schwerin aus –“
„Ich kann dich fahren“, unterbrach Nico ihn.
„Du?“ Noah starrte ihn überrascht an. „Du hast ein Auto?“
Nico lächelte geheimnisvoll. „Eine weiße Tesla-Limousine!“
„Häh? Du verarschst mich!“
Nico lachte: „Klar verarsche ich dich. Zumindest ein bisschen. Also, einen Tesla hätte ich schon gerne. Damit muss ich wohl noch ein paar Jahre warten, bis ich genug Kohle beisammen habe. Aber ein Auto hab ich tatsächlich, einen alten Fiat 500. Leider noch Benziner – ich hätte voll gerne ein E-Auto!“
„Wie cool, dass du überhaupt ein Auto hast!“, rief Noah begeistert. „Von dir als Berliner hätte ich das am allerwenigsten erwartet.“
„Stimmt, in Berlin braucht man das meist nicht. Aber hier auf dem platten Land ist es wohl ganz nützlich“, sagte Nico und zwinkerte ihm zu. „Also, wenn du willst, fahr ich dich gerne.“
„Wirklich? Wenn das okay für dich ist, wäre das natürlich superpraktisch für mich. Ich meine – du hast Julius ja überhaupt nicht gekannt.“
„Aber es interessiert mich, mehr über den Menschen zu erfahren, der vor mir hier in diesem Zimmer gewohnt hat. Und der Teil des Laufteams war. Abgesehen davon ist so ein Ausflug nach Greifswald wesentlich spannender als Hausaufgaben.“
„Hey, die Hausaufgaben müssen wir dann am Abend nachholen!“, stellte Noah richtig. „Aber meinetwegen können wir direkt nach dem Training los.“
„Training für dich, währenddessen Eingangsuntersuchung bei Doktor Florenzi für mich“, seufzte Nico, lächelte dann aber gleich wieder. „Ich freue mich auf den Road Trip!“