Mittwoch, 17. August 2022, 14:22 Uhr
Aylin führte einen sauberen Aufschwung aus, gefolgt von mehreren Felgenübungen, bei denen sie leichtfüßig das Reck umschwang. Ihr ganzer Körper war durchgestreckt und jeder Muskel angespannt, dennoch strahlte sie. Es war offensichtlich, wie sehr sie die Turnübungen am Reck mochte.
Noah konnte das nicht von sich behaupten, aber beim heutigen Training fühlte er sich voller Energie. Als er an der Reihe war, ging ihm selbst die sonst so ungeliebte Rückwärtsfelge leichter von der Hand. „Sehr gut, Noah! Und nochmal!“ Aber es war nicht nur der Ansporn von Martin, der ihn antrieb, sondern die positive Gesamtstimmung, in der er sich befand.
Die Gedanken an den weiteren Nachmittag erfüllten ihn mit Vorfreude. Ein Ausflug mit Nico zusammen! Zu zweit im Auto! Noah spürte ein Kribbeln allein bei dem Gedanken.
Und dann war da noch der Punkt, dass er durch das Gespräch mit Julius‘ Schwester womöglich mehr zu dessen Hintergründen erfahren könnte, was ihm vielleicht helfen würde, in dieser Hinsicht mit sich selbst ins Reine zu kommen. Dennoch freute er sich auf die Fahrt eindeutig mehr als auf das Ziel.
Kaum war das Training zu Ende, raste er auf sein Zimmer, wo sich Nico bereits fertig machte. „Na, hat die Florenzi dich für gesund befunden?“
„Ja, meine Achillessehne ist wieder sehr gut in Schuss, sagt sie. Bin gespannt, was da rauskommt, wenn sie zusammen mit J.J. meinen Trainingsplan erstellt. Das kann tough werden!“ Nico band sich seine Chucks zu. „J.J. war auch gerade bei ihr im Zimmer, als ich reinkam, und die beiden wirkten recht vertraut. Sehr vertraut sogar!“
„Steht J.J. nicht auf etwas jüngere Frauen als die Florenzi? Das erzählt zumindest Aylin“, erinnerte sich Noah. „Wie auch immer, lass uns mal losfahren. Das Wetter ist ja perfekt für einen Ausflug.“ Er konnte es wirklich kaum erwarten.
Die Sonne strahlte vom Himmel; nur in der Ferne zeigten sich einige vereinzelte Wolken. „Ich liebe den Sommer, da fühle ich mich immer so lebendig“, sagte Nico, als sie zum Parkplatz schlenderten. „Bist du auch so ein Sommermensch? Oder was ist deine Lieblingsjahreszeit?“
„Hmm, ich bin zwar im Dezember geboren, doch der Winter ist es definitiv nicht. Zu kalt und dunkel. Der Sommer hat natürlich was, ist mir aber manchmal schon zu heiß. Zu extrem. Ich denke, ich würde den Frühling nehmen. Wenn man nach den langen Hallenmonaten endlich wieder draußen auf der Anlage springen kann, unter freiem Himmel fliegen kann … Das ist echt das Beste!“ Noah merkte, wie seine Stimme einen verträumten Tonfall bekam.
Nico war inzwischen vor einem dunkelblauen Kleinwagen mit Berliner Kennzeichen stehen geblieben. Der Fiat hatte ein paar Kratzer, Dellen und Dreckspuren, war aber generell gut in Schuss. „Darf ich vorstellen? Mein fahrbarer Untersatz, bis ich reich genug bin, mir einen Tesla zu leisten!“
Noah war beeindruckt, als er einstieg. „Vielleicht sollte ich nach dem Abi auch mal den Führerschein machen. Bisher hatte ich zwischen Sport und Schule einfach keine Zeit. Wie hast du das geschafft?“
„Naja, ich bin nicht auf ein Sportgymnasium gegangen. Bisher zumindest nicht“, meinte Nico und schnallte sich an. „Sag mir mal die Adresse von dieser Sabine.“
Mit den Routenplanung auf dem Smartphone begann die Fahrt. Noah beobachtete, wie Nico routiniert ausparkte und auf die Landstraße abbog. Seine Finger umfassten locker das Lenkrad, er wirkte entspannt. „Autofahren macht dir Spaß, oder?“, fragte Noah.
„Oh ja, aber nur außerhalb der Stadt. Wenn man über weite Strecken durch die Landschaft fährt, ist das geil. Fast wie Laufen! Jetzt fehlt nur noch die Musik.“
„ Imagine Dragons! “
„Bitte nicht Whatever it takes , sonst muss ich wieder ans frühe Aufstehen denken!“ Nico tippte kurz etwas auf der Playlist seines Telefons und blickte dann wieder nach vorn. „Nicht dass deine Lieblingsband schlecht wäre, aber … Wirklich guter Indie Rock muss mindestens so alt sein wie wir.“
Wenig später erklangen die ersten Töne von Can’t Stop der Red Hot Chili Peppers . Noah beobachtete vergnügt, wie Nico mit der Musik mitging und wippte. Den Refrain sang Nico mit, und nachdem er Noah einen aufmunternden Blick zuwarf, stimmte auch er beim zweiten Mal mit ein. Es war ein wunderbares Gefühl unterwegs zu sein, die rockigen Töne in sich zu spüren und gleichzeitig Nicos Anblick zu genießen, der so cool, ausgeglichen und happy wirkte.
„Was sagst du dazu?“, fragte Nico, als sie nach Can’t Stop schon bei Otherside waren.
„Ja, die Red Hot Chili Peppers sind schon geil. Aber das war doch auch wieder eins von diesen Drogen-Liedern, wenn man mal auf den Text hört“, sagte Noah.
„Sex, Drugs and Rock’n’Roll!“, rief Nico lachend. In diesem Moment begann Amazing von Aerosmith . „Hehe, und gleich noch ein Drogen-Lied.“
Noah achtete auf den Text. Ja, es schien irgendwie um Drogenentzug zu gehen, allerdings auch um das Leben generell.
„Das Leben als Reise, das Leben als einen Weg, den man geht, und nicht als Ziel“, sagte Nico langsam. Noah sah ihn an. Schon bei dieser Autofahrt empfand er, dass der Weg das Ziel war, doch hier ging es um mehr. „Wenn man das ganze Leben als Reise betrachtet, dann hilft einem das, sich nicht so verrückt zu machen mit Zukunftsplänen.“
Tja, wenn das mal so einfach wäre, dachte Noah. Gleichzeitig gefiel ihm der Gedanke. „Und darauf ist der Sänger von Aerosmith im Drogenrausch gekommen und hat ein Lied geschrieben? Warum gibt es eigentlich so viele gute Drogen-Lieder?“
„Gute Frage“, sagte Nico. „Die bewusstseinserweiternde Wirkung, die die Kreativität anregt?“
„Oder die angeblich starken Gefühle, die Drogen mit sich bringen sollen? Also erst positiver und dann negativer Art“, überlegte Noah.
„Vielleicht gibt es einfach deshalb so viele Lieder über Drogen, weil es doch einen gewissen Anteil der Bevölkerung gibt, der damit Erfahrung hat. Unter Musikern sicher mehr als unter uns Leistungssportlern. Du hast bestimmt noch nie gekifft, oder?“
„Nein, natürlich nicht. Du etwa?“ Noah blickte seinen Mitbewohner an, dessen Augenfältchen sich sogleich zu einem leichten Grinsen verengten.
„Hey, das bleibt nicht aus, wenn man im verruchten Berlin aufwächst und nicht in einem behüteten Sportinternat in der Provinz!“ Als Noah nichts erwiderte, fügte er hinzu: „Aber von härteren Dingen als Gras habe ich immer Abstand gehalten.“
Noah wusste nicht ganz, wie er Nicos Drogenbekenntnis einordnen sollte, was eher daran lag, dass er mit dem Thema nur im Schulunterricht sowie in Büchern konfrontiert worden war und das allein auf theoretischer Ebene.
„Schockieren dich meine Jugendsünden?“, fragte Nico mit plötzlich ernster Stimme.
„Nein, also, eigentlich nicht. Ich glaube, es gibt schon Schlimmeres als gelegentliches Kiffen“, meinte Noah und lächelte dann. „Keine Angst, ich teile mein Zimmer noch weiterhin mit dir. Aber wenn du mir einen Joint anbietest, lehne ich trotzdem ab.“
„Ich habe keine mehr, don’t worry!“
„Bei mir ist es tatsächlich so, dass ich nie das Bedürfnis danach hatte“, gab Noah zu. „Selbst Alkohol reizt mich nicht. Du kennst ja die Faustregel, dass dich ein Vollrausch um zwei Wochen im Training zurückwirft, aber während alle immer darüber lamentieren, ist das für mich null Einschränkung. Nach den Meisterschaften in Hamburg haben meine Eltern eine kleine Feier veranstaltet – da musste ich mit einem Glas Sekt anstoßen.“
„Du musstest? Wie das klingt!“ Nico lachte. Er blickte sich um und beschleunigte, als er die Spur wechselte.
Noah lachte ebenfalls. „Das war schon okay, und auch der Situation angemessen, aber prinzipiell brauche ich das nicht.“
„So ist es eigentlich ideal“, meinte Nico. „Gerade, wenn du es probiert hast und weißt, dass du es nicht brauchst. Wir Sportler verzichten schließlich auf einiges. Aber es ist viel besser, wenn du auf etwas verzichtest, das du aus eigener Entscheidung nicht brauchst, als wenn du es nur wegen des Trainings tust. Ich hab schon überlegt, ob deshalb einige Sportler nach Karriereende Probleme mit Drogen und Alk halben. Sie fallen in ein schwarzes Loch und denken das, worauf sie jahrelang verzichten mussten, kann ihnen jetzt helfen.“ Er überholte einen LKW.
Noah schaute sich um und erblickte plötzlich etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte: „Guck mal, das ist doch ein Tesla!“, rief er begeistert.
Nico bekam leuchtende Augen. „Wie cool! Ein schwarzer Tesla Model S in der mecklenburgischen Provinz! Wer den wohl fährt?“
Aus der Musikanlage tönte mittlerweile das Orchester-Intro von Aerosmiths I don’t Wanna Miss a Thing . „Das ist aber jetzt kein Drogen-Lied mehr“, stellte Noah fest und merkte, wie ihn der kraftvolle Sound der Rockballade berührte.
„Nee“, sagte Nico und blickte Noah dann vielsagend an. „Und weißt du was, es gibt ohnehin einen viel besseren Weg als das Kiffen, um sich richtig high zu fühlen. Nämlich wenn man verliebt ist. Der beste Gefühls-Cocktail überhaupt.“
Noah erstarrte und errötete. Wie meinte Nico das jetzt mit dem Verliebtsein? So ganz allgemein oder so ganz speziell oder …? Er wagte es nicht, seinem Mitbewohner in die Augen zu sehen und war ganz froh, dass dieser seinen Blick wieder auf die Straße richten musste.
„Das mag schon sein“, sagte Noah langsam. Seine Gedanken kehrten zurück zu seinem Traum der vergangenen Nacht; er dachte an Nico neben sich im Auto und lauschte den intensiven Klängen der Rockballade.