Mittwoch, 17. August 2022, 17:56 Uhr
„Hallo, ich bin Sabine“, sagte die zierliche junge Frau, die ihnen im 4. Stock des Studierendenwohnheims die Tür öffnete.
Noah merkte, wie er aus seinen Gedanken gerissen wurde. Jetzt wurde es ernst. Für seinen Geschmack hatten sie Greifswald viel zu schnell erreicht. Sie hatten noch weiter Musik gehört, dabei über dieses und jenes geredet, und ganz im Sinne von Aerosmiths I don’t Wanna Miss a Thing hatte Noah jeden Moment davon genossen. Nico hatte den Fiat am Stadtrand nahe des Bahnhofs geparkt, um der Parkplatzsuche in der Innenstadt zu entgehen, auch wenn Noah eingewandt hatte, dass Greifswald nicht Berlin sei. Nach einigen Minuten zu Fuß vorbei am Dom und dem Marktplatz mit den historischen Häusern in Backsteinarchitektur waren sie schließlich am Studierendenwohnheim angekommen.
Sabine trug ein beigefarbenes Oberteil und einen knielangen braunen Rock. Mit ihrer blassen Haut, den dunkelblonden Haaren und den dunklen Augen erinnerte sie Noah sofort an Julius. Sie war ungeschminkt.
„Wer von euch ist Noah?“, fragte Sabine, während sie vom einen zum anderen blickte.
„Ich – und das ist mein Mitschüler Nico“, erklärte Noah. „Danke, dass wir vorbeikommen durften.“
„Mein Beileid zum Tod deines Bruders. Das muss ein großer Schock für dich gewesen sein“, sagte Nico mit ernster Stimme.
„Danke.“ Sabine seufzte leise. „Ja, ich kann es noch immer nicht wirklich glauben. Aber kommt erstmal rein.“
Sie führte die beiden einen Gang entlang zur Küche des Wohntraktes. Diese war für eine Gemeinschaftsküche recht klein und überladen; neben der Spüle stapelte sich der Abwasch. Doch der Küchentisch mit sechs schmalen Stühlen war frei geräumt und sah einladend aus. In der Mitte stand eine kleine gelbe Vase mit einer pinken Plastiknelke.
„Kann ich euch etwas anbieten? Wir haben Eistee.“
„Äh, ja, dann nehme ich einen. Danke“, sagte Noah, während er sich setzte. Nico schloss sich ihm an.
Auf einmal kam Noah die Situation ziemlich unangenehm vor. Auf der Autofahrt mit Nico war alles so unbeschwert gewesen, doch nun waren sie hier, bei einer jungen Frau, die sie nicht kannten, um mit ihr über ihren toten Bruder zu sprechen. Warum hatte er sich darauf bloß eingelassen?
Nachdem Sabine drei Gläser mit Eistee geholt hatte, setzte sie sich neben die beiden jungen Männer. Sie betrachtete ihr Glas und sagte dann leise: „Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich erwarte, dass Julius anruft. Und dann wird mir bewusst, dass er das nie mehr tun wird.“
Noah wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er hätte sich einen Plan machen sollen. Er, der sonst immer gut vorbereitet war, der alles unter Kontrolle hatte, fühlte sich mit diesem Gespräch heillos überfordert.
Stattdessen ergriff Nico das Wort und fragte mit ruhiger Stimme: „Das verstehe ich. Habt ihr denn oft telefoniert?“
„Mindestens einmal pro Woche. Und ab und zu haben wir uns auch Nachrichten geschrieben. Allerdings gab es wohl einige Dinge in seinem Leben, die er seiner großen Schwester nicht erzählt hat.“ Ihre Stimme hatte einen bitteren Unterton, in der eine Art Verletztheit mitschwang.
Darauf konnte Noah eingehen. Er räusperte sich und begann: „Ja, er hat wohl einiges für sich behalten. Wenn er so schwarz gesehen hat, dass … Also, ich habe jedenfalls nicht bemerkt, dass er in einer depressiven Phase war.“
„Depressive Phase? Nein, Julius war nicht depressiv.“ Sabine sah ihn überrascht an. „Er war eigentlich gut drauf. Das ist es ja, was ich nicht verstehe. Wir haben noch am Donnerstag telefoniert, nach dem Trainingscamp in Bayern. Das Camp schien ihm gefallen zu haben und er sprach ganz positiv davon. Und doch hat es ihn irgendwie verändert. Er meinte irgendwann gegen Ende des Gesprächs etwas in die Richtung, er habe keine Lust mehr auf dieses Spiel und wolle aussteigen.“
Noah war verwirrt. „Welches Spiel?“
„Ich weiß es nicht.“ Sabine fuhr sich durch die dunkelblonden Haare und seufzte. „Ich habe gleichzeitig gekocht und telefoniert. Da hab ich nur mit einem Ohr zugehört … Irgendwie dachte ich, er müsse aus seinem Zug aussteigen und hab nicht näher hingehört. Erst als ich am Samstag erfahren habe, dass er … dass er tot ist, musste ich an diesen Satz denken und dass es vielleicht eine Vorankündigung seines Todes war. Um Himmels Willen, ich hätte mehr nachhaken müssen!“ Die Verzweiflung in ihrer Stimme wuchs.
„Nein, hättest du nicht“, meinte Nico bestimmt. „Hinterher sagt man sich das natürlich, aber in der Situation konnte niemand wissen, was passieren würde.“ Noah war beeindruckt, wie einfühlsam er dem Ernst der Situation gerecht wurde.
Seine eigenen Gedanken dagegen rasten: „Julius hatte also keine Lust mehr auf ein Spiel und wollte aussteigen. Aussteigen aus dem Leben? Das Leben als Spiel?“
Sabine erwiderte leise: „Als Kinder haben wir häufig das Spiel des Lebens gespielt. Vielleicht war das die Assoziation.“
„Oder der Sport als Spiel“, mutmaßte Nico.
„Wenn Julius aus dem Leistungssport aussteigen wollte, passt das zu dem, was er im Abschiedsbrief schrieb“, sagte Noah. „Kein Gewinner zu sein und all das. Aber … sich deswegen umzubringen? Dafür hätte er doch bloß die Schule wechseln müssen. Gerade wenn er eigentlich gut drauf war, wie du sagst, wäre das die rationale Entscheidung – “
Plötzlich klingelte Sabines Handy. „Entschuldigt mich kurz.“ Sie blieb sitzen, während sie sich das Telefon ans Ohr hielt. Ein angespannter Ausdruck zeigte sich auf ihrem Gesicht. „Ja, Chrissie, ich mach’s heute Abend und schick dir dann meine Notizen … Du, ich bin grad beschäftigt, wir besprechen das später. Fang doch schon mal mit Abschnitt drei an.“
Noah nestelte an seinem Eistee und beobachtete, wie Sabine auflegte. „Sorry, das war meine Lernpartnerin wegen der Hausarbeit. Ich studiere Germanistik.“
„Germanistik, interessant … Große Literatur!“, sagte Nico mit einem sehnsüchtigen Blick. „Was hat Julius denn für Zukunftspläne nach dem Abi gehabt?“
„Gute Frage, ob er wirklich Pläne hatte“, sagte Sabine. „Wisst ihr denn schon, was ihr nach dem Abi machen wollt?“ Noah spürte bei diesem Thema einen inneren Stich. Doch Sabine schien es als rhetorische Frage gemeint zu haben, denn sie redete weiter: „Das überlegen sich viele ja erst kurz vor den Prüfungen oder danach. War bei mir und in meinem Freundeskreis auch so. Aber Julius hat sich durchaus für mein Studium interessiert. Er hat in den letzten Monaten häufiger gefragt, was wir alles in Germanistik machen, wie die Vorlesungen und Seminare genau sind. Trotz anstrengender Hausarbeiten gefällt’s mir nämlich echt gut. Ich hätte mir vorstellen können, dass es auch etwas für ihn sein würde. Textarbeit und Sprache, das machte ihm Spaß.“
Noah nickte. „Deutsch hatte Julius als Leistungskurs und da war er – soweit ich weiß – ziemlich gut drin.“ Plötzlich stockte er. Es war, als ob er sich an etwas erinnerte, aber er bekam den Gedanken nicht gefasst. Was war das? Vielleicht würde er später noch daraufkommen; für den Moment gab es genug offene Fragen. Also fuhr Noah fort: „Trotzdem verstehe ich das mit dem Sport nicht. Wieso sollte er sich das Leben nehmen, wenn er mit dem Sport aufhören wollte? Und wieso wollte er überhaupt mit dem Sport aufhören? Er hatte sich zuletzt gesteigert und hätte allen Grund dazu gehabt, den Meisterschaften positiv entgegenzusehen. Oder?“
„Eigentlich schon. Ich habe mir darüber bereits den Kopf zerbrochen und nach Antworten gesucht. Auch auf Julius‘ Laptop war nicht viel drauf. Vielleicht hat er kurz vor seinem Tod einiges gelöscht, wenn er mit allem abschließen wollte.“
Nico nahm einen Schluck von seinem Eistee. „Noch mal zum Trainingscamp, das ihm so gut gefallen hat. Was hat er da genau erzählt?“
Sabine überlegte. „Zwei Wochen war er im Camp in Bayern, ab und zu hat er mal eine Nachricht oder ein Bild geschickt. Er schrieb, es sei hart – klar, das erwartet man bei einem Trainingscamp – aber die Laufeinheiten würden ihm guttun. Und er erwähnte die Leute. Ja, stimmt, das wiederholte er auch am Telefon. Er habe richtig nette Leute kennen gelernt.“
„Leute kennen gelernt? Julius?“ Noah stand der Mund offen. Er spürte, wie ihn Sabine ansah. „Tschuldigung“, fügte er hinzu. „Das meinte ich nicht so. Nichts gegen Julius, er war ein guter, ruhiger Mensch. Aber er war nicht gerade … gesellig.“
„Ich weiß. Er hatte schon in seiner Kindheit nicht besonders viele Freunde und war gern allein. Das war sicher im Internat nicht anders, oder?“
Noah nickte, während Nico das Gespräch zurück zum Trainingscamp brachte: „Und Julius sprach also von richtig netten Leuten im Trainingscamp? Meinte er jemand bestimmtes?“
„Das wurde nicht ganz klar. Er hat sich recht schwammig ausgedrückt, als ob er absichtlich nicht ins Detail gehen wollte. Aber er teilte auf dem Camp sein Zimmer mit einem Läufer aus Süddeutschland. Daniel …“
„Daniel Wagenknecht?“ Auf Nicos Gesicht zeigte sich ein erstauntes Lächeln.
„Das ist doch der Superstar, der als so unnahbar gilt! Der große Rivale von Malte und Cem!“, rief Noah und sah Nico fragend an. „Ist der wirklich so? Du müsstest ihn doch auch kennen.“
Nico nahm einen Schluck von seinem Eistee und erklärte dann: „Nein, persönlich kenne ich ihn nicht so gut. Wegen der Verletzung liegt mein letzter Wettkampf schon etwas zurück. Aber mein Eindruck ist, dass die Geschichte vom abgehobenen Daniel Wagenknecht nur dazu dient, die Rivalität zwischen unserem Internat und den Süddeutschen anzuheizen. Überleg dir doch mal, wie Malte selbst drauf ist. Und dass Daniel ein Top-Läufer ist, steht außer Frage.“
„Julius schien ihn jedenfalls nett zu finden“, meinte Sabine, während sie mit dem Finger auf ihrem Handy wischte. „Wartet, ich hab doch den Chat … Hier ist das Foto, das Julius mir aus dem Camp geschickt hat. Am Ende der ersten Woche.“
Auf dem Bild waren ein paar junge Männer in Laufkleidung auf einer Lichtung im Wald zu sehen. Einige dehnten sich, während andere entspannt auf dem Boden saßen. Ein Mann mit dunklen Haaren saß etwas näher an der Kamera und zeigte lächelnd den Daumen nach oben. Noah erkannte Daniel Wagenknecht, wie er ihn auf Bildern und im Fernsehen gesehen hatte. Die Bildunterschrift von Julius lautete: „Schön ist es hier. Hartes Training tut gut. Und wirklich nette, ehrliche Leute, wie Daniel aus Stuttgart!“
Nico rückte näher an Noah heran, um mit ihm auf den Handy-Bildschirm zu schauen. Seine Nähe löste wieder ein Flattern in Noahs Magen aus, welches sich verstärkte, als Nicos Hand auf dem Weg zum Handy zufällig seine eigene streifte. Er zuckte leicht zusammen; auf Nicos Gesicht dagegen war ein zufriedenes Lächeln zu erkennen. „Nette, ehrliche Leute“, las dieser betont. „Interessant.“
Nico rutschte wieder ein bisschen von ihm weg, um stattdessen Sabine zu fokussieren. Er reichte ihr das Telefon und sagte dann mit ausdrucksstarker Stimme: „Also hat sich Julius mit Daniel angefreundet. Oder vielleicht war da sogar noch mehr zwischen den beiden?“
Noah spürte, wie ihn der Schreck durchfuhr. Auf diese Idee wäre er nicht gekommen. Vor allem aber gefiel ihm die Richtung, in die sich das Gespräch entwickelte, überhaupt nicht.
Auch Sabines Gesicht zeigte Überraschung: „Du meinst, dass Julius in Daniel verliebt gewesen sein soll? Nein, das glaube ich nicht.“
„Aber was wissen wir denn über Julius’ Liebesleben? War er schon mal verliebt? Stand er auf Frauen oder Männer?“, bohrte Nico nach.
„Also, mir hat Julius nie etwas erzählt, äh, in diese Richtung“, sagte Noah leicht zögernd. Konnten sie das Thema jetzt mal abhaken? Ihm ging das etwas zu nah. Sabine dagegen schien ruhig und nachdenklich: „Ob er jemals richtig verliebt war, weiß ich nicht. Er hatte nie eine Freundin, von der er mir erzählt hätte. Aber insgesamt stand er doch eher auf Frauen, denke ich. Zumindest basierend darauf, wie wir uns als Teen-ager unterhalten haben.“ Sie musste schmunzeln, schien in Erinnerungen zu schwelgen.
„Okay, dann haben sich Julius und Daniel einfach platonisch gut verstanden. Julius hatte eine schöne Zeit im Trainingscamp. Aber wieso sollte er mit allem Schluss machen wollen kurz nachdem er feststellte, wieviel Spaß ihm das Laufen machte?“, fragte Nico.
Noah überlegte: „Vielleicht waren die bevorstehenden Meisterschaften dann doch zu viel Druck, so wie er im Abschiedsbrief schrieb. Das gehört bei Wettkämpfen dazu. Trainer, Eltern, Geldgeber des Internats haben alle ihre Erwartungen – und natürlich man selbst.“
„Über Leistungsdruck hat er mir nicht viel erzählt und wenn nur so nebenbei. Aber wo du gerade den Trainer erwähnst … Julius meinte häufiger, dass sein Trainer ihn hart rannehmen und triezen würde“, erinnerte sich Sabine.
„Das glaub ich bei J.J. gerne“, sagte Nico. „Wann hat er das denn gesagt?“
„Das muss schon etwas her sein, es war jedenfalls keine neue Erkenntnis.“
Noah hatte plötzlich eine Idee. Er musste an Amelie denken. Was, wenn sie nicht das einzige Opfer war, sondern Julius ebenfalls? Er versuchte vorsichtig nachzufühlen, ob Sabine etwas wusste: „Unter seinem Trainer hat er also gelitten. Hat er auch mal einen Physiotherapeuten namens Johannes erwähnt?“
Sabine legte den Kopf schief: „Physiotherapeut? Nein, nicht dass ich wüsste. Wenn jemand eine große Rolle in seinem Sportalltag gespielt hat, dann der Trainer mit seinen harten Methoden.“ Sie setzte sich auf ihrem Stuhl um. „Vielleicht ist es genau dieser Widerspruch: Laufen war etwas, das Julius immer gern gemacht hat, das ihm Kraft und innere Ruhe gegeben hat. Aber gleichzeitig brachte Laufen auf Leistungssportniveau den Druck, den harten Trainingsalltag und die hohen Erwartungen vor dem Wettkampf mit sich. Und das hat aus ihm wohl alle Kraft ausgesaugt.“
Noah nickte schwach. In diese Richtung hatte er auch schon gedacht. Das ergab einen Sinn.
Sabines Blick ging in die Ferne, als sie weitersprach: „Wisst ihr, dass Julius erst in der Pubertät ernsthaft mit dem Laufen angefangen hat? Er hatte so mit zwölf, dreizehn eine schwierige Phase und war sehr unglücklich mit sich und seinem Körper. Zu klein und zu dünn fand er sich. Durch das Mobbing seiner Mitschüler in der Unterstufe wurde das noch schlimmer. Irgendwann fing er an, sich zu ritzen. Dadurch ist meinen Eltern und mir bewusst geworden, wie ernst die Sache war.“
„Und dann?“ Noah hörte ergriffen zu. Das war also der Grund für Julius‘ Narben gewesen, das offene Geheimnis, über das Julius nie geredet hatte, weil es Jahre zurück lag. Und das trotz aller Gerüchte im Internat wohl nichts mit dem Seelenzustand vor seinem Tod zu tun hatte. Oder etwa doch?
„Eine Therapie bei einer Jugendpsychologin hat Julius damals geholfen, zusätzlich zu Gesprächen mit den Lehrern, damit das Mobbing nachließ. Die Psychologin hatte die Idee, dass Julius die Quelle seiner inneren Kraft finden sollte, wie sie es nannte. Das war für ihn der Ausdauersport in Form von Laufen. Es fühlt sich so falsch an, dass ausgerechnet das Laufen jetzt so viel Druck mit sich brachte, dass er es nicht mehr aushielt.“ Sie schluckte.
„Danke, dass du uns das alles erzählst“, sagte Noah leise. „So sehr es schmerzt, was passiert ist, so hilft es auch, mehr über Julius zu erfahren, um es zu verstehen.“
„Ja, das finde ich auch“, gab Sabine zu. „Danke, dass du die Idee mit dem Treffen hattest. Es tut wirklich gut, mit jemandem zu reden, der Julius auch gut kannte.“
Nach einer Pause fuhr sie fort: „Aber letztendlich weiß nur Julius selbst, warum er diesen Schritt gegangen ist. Zuerst wollte ich es gar nicht wahrhaben und dachte an einen tragischen Unfall.“
„Unfall?“, wiederholte Nico fragend.
Noah musste zugeben, dass er über diese Möglichkeit ebenfalls nachgedacht, aber sie schnell ausgeschlossen hatte: „So leicht fällt man nicht vom Dach, Julius war häufig dort oben und kannte sich aus. Außer wenn er … unter Alkohol oder Drogen gestanden hätte.“
„Und Julius trank nie was“, fügte Sabine hinzu, bevor Noah es aussprechen konnte. „Außerdem zeigt der Abschiedsbrief ja, dass es seine Entscheidung und kein Unfall war. Als mir die Polizei den Brief gezeigt hat, stand ich so unter Schock, dass ich die Wörter kaum aufnehmen konnte. Nur Druck und Bitte verzeiht mir haben sich in meinem Gehirn eingebrannt. Ihm zu verzeihen, das versuche ich jetzt. Irgendwie müssen wir lernen, diese Entscheidung zu akzeptieren, auch wenn wir sie nie werden verstehen können.“
Als Noah und Nico sich wenig später von ihr verabschiedeten, erzählte Sabine, dass sie froh war, jetzt nicht allein zu sein. „Die Freunde hier im Wohnheim tun mir gut und lenken mich ab. Außerdem mache ich jetzt in den Semesterferien ein Praktikum bei einem Verlag. Vielleicht kann ich nach dem Studium dort eine Stelle bekommen!“
Bei diesen Aussichten nahm ihr Gesicht einen lebhaften Ausdruck an. Noah fand es bewundernswert, wie Sabine es schaffte, mit der Trauer um ihren Bruder umzugehen und mit Zuversicht in die Zukunft zu schauen.
„Das klingt super!“, sagte er ehrlich erfreut. „Wir drücken dir die Daumen, dass es klappt.“
„Danke“, erwiderte sie. „Für euch beide auch alles Gute, viel Erfolg beim Abi – und beim Sport. Schaut zu, dass euch der Druck nicht fertigmacht und ihr die Freude daran nicht verliert.“
Als Noah hinter Nico die Treppe des Studierendenwohnheims hinunterging, hingen beide ihren Gedanken nach. Das Gespräch mit Sabine hatte bei Noah einen tiefen Eindruck hinterlassen. Er dachte an all die Informationen, die sie bekommen hatten, all die Puzzleteile, die neu dazugekommen waren. Was wirklich in Julius‘ Kopf vorgegangen war, als er aussteigen wollte, würde wohl niemand je wissen können. Dennoch fühlte er sich Julius nach diesem Gespräch näher. Und es beruhigte sein Gewissen, dass er wohl keine offensichtlichen Zeichen für die Schwierigkeiten seines früheren Mitbewohners übersehen hatte. Er musste nach vorne blicken.
Als Noah den unteren Treppenabsatz erreichte, öffnete Nico gerade die Tür. Plötzlich hielt er in der Bewegung inne und sagte: „Ach du Scheiße!“