Mittwoch, 17. August 2022, 19:48 Uhr
Noah blieb neben Nico stehen und starrte nach draußen. Vom Himmel, der bei ihrer Hinfahrt noch so schön blau gewesen war, prasselte nun der Regen herab. Und was für ein Regen! Die Tropfen trommelten mit voller Wucht auf das Vordach des Studierendenwohnheims und platschten in die immer größer werdenden Pfützen. Es bestand kein Zweifel, dass jeder, der sich ungeschützt in diesen Regen hinauswagte, nach wenigen Metern pitschnass sein würde.
Nico blickte Noah schräg von der Seite an: „Du hast doch sicher einen Regenschirm dabei? Jemand wie du, der immer alles unter Kontrolle hat …“ Es klang herausfordernd.
„Ausnahmsweise nicht“, gestand Noah in übertrieben bedauerndem Tonfall.
„Aber dann sicherlich eine Regenjacke oder so ein Ganzkörperkondom oder so was?“, fuhr Nico fort und schaute ihn aus seinen blauen Augen mit einer intensiven Belustigung an. Er hielt die Tür immer noch mit einer Hand auf, auch wenn er sich nun ganz Noah zugewandt hatte. Noah spürte seine Nähe, konnte seinen Geruch einatmen.
Ihm schoss die Röte ins Gesicht: „Ganzkörperkondom?“ Dann musste er grinsen und fügte hinzu: „Wie bedauerlich, dass ich so etwas nicht besitze.“
„In der Tat bedauerlich“, sagte Nico leise, während seine Mundwinkel ein amüsiertes Lächeln zeigten und seine Augen leuchteten.
Noah hielt seinem Blick noch einen Moment stand, dann drehte er sich zur Seite. Dieser Mann machte ihn verrückt, und irgendwie genoss er es. „Aber wer war noch mal auf die geniale Idee gekommen, das Auto so weit außerhalb zu parken?“
„Genial, nicht wahr?“, gab Nico grinsend zurück.
Im selben Moment schlug oben im Treppenhaus eine Tür zu und kurz darauf waren Schritte zu hören. So sehr Noah die Plänkelei mit Nico auskostete, so war klar, dass sie nicht ewig im Hauseingang stehen konnten. Er musste nun die Initiative ergreifen.
„Dann mal los!“, rief er Nico zu und sprang hinaus in den Regen. „Ich bin aus Hamburg, nicht aus Zucker! Und du bist doch Läufer, oder etwa nicht?“
Schnell sprintete Noah den Aufgang des Studierendenwohnheims hinunter in Richtung Bürgersteig. Nico folgte. „Aber sicher doch! Ich schlage dich locker!“, hörte er ihn hinter sich rufen.
Der Regen fühlte sich warm auf der Haut an, da die sommerlichen Temperaturen kaum gesunken waren. Dennoch waren das T-Shirt und die Shorts im Nu durchnässt und durch die Sneakers konnte er spüren, wie seine Socken feucht wurden. Die Tropfen liefen ihm über das Gesicht.
Doch gleichzeitig fühlte es sich so befreiend an, durch den Sommerregen zu laufen! Jetzt, wo er ohnehin klatschnass war, empfand Noah eine fast schon kindliche Freude. Er sprang durch die Pfützen und breitete die Arme aus. Beim Laufen durch den Regen trieben ihn nicht nur das Adrenalin und die Herausforderung an, Nico zu zeigen, dass ihm ein bisschen Nässe nichts ausmachte. Nein, es waren auch Glücksgefühle. Die verrückte Situation ließ ihn tatsächlich seine Hemmungen und Sorgen für einen Moment vergessen.
Nico war nun neben ihm, sein dunkelblondes und sonst so wirres Haar lag platt und triefend nass auf seinem Kopf. Sein vorher noch weißes T-Shirt mit dem „ Peas on Earth“ Motiv klebte an seinem Oberkörper. Aber seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen schien er ebenso seine Freude zu haben. Als er „Nächste Straße links!“ rief, klang es richtig fröhlich. Oder übertrug sich Noahs Freude auf Nico? Freute er sich, Noah unkontrolliert und ungehemmt zu sehen? Es schien fast so.
In der Ferne schlug eine Kirchturmuhr, ansonsten war nur der prasselnde Regen zu vernehmen. Ob es daran lag, dass wetterbedingt kaum andere Menschen unterwegs waren oder ob es ihm nur so vorkam – Noah hatte plötzlich das Gefühl, als wären Nico und er die einzigen beiden Menschen auf der Welt. Und es fühlte sich großartig an.
Während Noah über die Pfützen sprang und lachend die Arme in die Luft warf, merkte er, wie Nico ihn beobachtete. Im nächsten Moment hörte er, wie dieser durch den Regen hindurch „Scheiße!“ rief und strauchelte. Vermutlich hatte er eine Bordsteinkante übersehen und war gestolpert. Nico versuchte sich zu fangen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren und in dieser Sekunde griff Noah instinktiv nach seiner Hand, um ihm zu helfen. Die Berührung von Nicos nasser, warmer Hand löste bei ihm einen unglaublichen Energieschub aus, der bis in die entfernteste Ecke seines Körpers fuhr. Nico hatte es währenddessen geschafft, einen Sturz abzuwenden und richtete sich wieder auf. Noahs Hand hielt er aber immer noch fest.
„Mein Schnürsenkel ist auf“, stellte Nico fest und ließ erst dann Noahs Hand los. Der Regen trommelte weiter auf sie herab. Noah sah sich um und zeigte auf das Vordach eines geschlossenen Blumenladens: „Da können wir uns kurz unterstellen.“ Sie gingen die paar Schritte bis zum Unterschlupf.
Nico beugte sich hinunter, um erst den Schnürsenkel des rechten Chucks zu binden und dann den linken zu überprüfen und ebenfalls neu zu binden. Noah beobachtete seine Bewegungen, sah, wie sich seine Rückenmuskulatur unter dem nassen T-Shirt abzeichnete und wie sich die Hose um seinen Po spannte. Es kam ihm vor, als würde der Moment ewig dauern. Gleichzeitig merkte er, wie er zu zittern begann. Er war schließlich bis auf die Haut nass, die durchweichten Klamotten klebten an ihm, und ohne die körperliche Anstrengung des Laufens fühlte es sich kalt an.
Als Nico mit seinen Schuhen fertig war und sich erhob, sah er besorgt aus: „Zitterst du?“ Er trat einen Schritt auf Noah zu und legte ihm die Hand auf den Unterarm: „Du hast ja Gänsehaut.“ Noah wurde sich seiner Nähe gewahr; es war, als ob von ihm eine übermenschliche Wärme ausging, auch wenn er ebenso klatschnass wie er selbst war. Als Nico seine Arme ausstreckte und sanft „Darf ich?“ fragte, nickte Noah überwältigt. Nicos Arme umfassten ihn und seine Hände rieben ihm wärmend über den Rücken, während er instinktiv seine eigenen Arme um Nicos Taille herum auf dessen Rücken legte.
Der Körperkontakt der Umarmung ließ Noah innerlich brennen; durch ihn strömte eine Glut, die im Gegensatz zur äußeren Nässe und Kälte stand. Er war Nico nun so nah, atmete die gleiche Luft und sah sein strahlendes Gesicht ganz eng an seinem. Er konnte die Regentropfen auf seiner Haut riechen, und seinen Atem, das Aroma des Eistees …
Es fühlte sich vollkommen natürlich und vollkommen richtig an. Noah war sich selten einer Sache so sicher gewesen wie in diesem perfekten Augenblick, als er seinen Kopf noch ein paar Zentimeter auf Nico zubewegte und somit die letzte Distanz schloss. Er machte seine Augen zu und legte seine Lippen sanft und vorsichtig auf Nicos.
Nico erwiderte den Kuss erst zaghaft, was bereits genügte, eine Welle von wild tanzenden Schmetterlingen durch Noahs innerlich brennenden Körper zu schicken. Doch dann öffnete Nico seinen Mund und gewährte Noahs Zunge Einlass, so dass der Kuss tiefer und inniger wurde. Während Nico seine Hände um Noahs Kopf legte und seine Finger durch die nassen Locken fuhren, verschmolzen ihre Lippen miteinander, und ihre Zungen trafen sich. Noah konnte Nico schmecken, fühlen und spüren. Es war aufregend, es war wunderbar, es war anders als alles was er kannte. Mit geschlossenen Augen genoss er den Moment, genoss, wie seine Zunge mit Nicos spielte und die Wärme seines Mundes erforschte. Die Intimität und Leidenschaft des Kusses war neu für ihn, kein Vergleich zum unbeholfenen Geknutsche mit Luisa vor einem Jahr. Mit Nico hatte er das Gefühl zu schweben und konnte nicht genug davon bekommen. Ja, es war ähnlich wie das Fliegen beim Stabhochsprung. Kontrollierter Höhenflug. Aber viel, viel länger andauernd.
Schließlich brach Nico langsam den Kuss. Noah öffnete vorsichtig die Augen und blickte in sein Gesicht, das wie die Sonne strahlte. Er selbst musste ebenfalls sehr zufrieden aussehen; er konnte förmlich spüren, wie er glühte.
Nico strich ihm zärtlich eine nasse Locke aus dem Gesicht und sagte dann ganz langsam: „Weißt du, Noah, das Leben besteht nicht nur aus Atmen, sondern auch aus den Momenten, die einen atemlos machen. Und du machst mich ganz schön atemlos.“
Eigentlich hätte es Noah nicht für möglich gehalten, die Glücksgefühle des Kusses, die sein inneres Feuer anheizten, noch weiter zu steigern. Aber Nicos Worte, die so ehrlich und so persönlich klangen, erreichten genau das. „Du machst mich auch ganz schön atemlos“, gestand er, woraufhin Nicos Lächeln nur noch breiter wurde.
Nico zog ihn noch einmal an sich und küsste ihn, was nun beim zweiten Mal stürmischer und begieriger wurde. Nicos Lippen saugten an seinen, ein Gefühl, das ihn völlig verrückt machte. Sie standen dicht aneinander gepresst und Noah spürte, wie seine Hose, die ohnehin nass an ihm klebte, unangenehm eng wurde.
Schließlich sagte er grinsend zu Nico: „Erstaunlicherweise ist es mir gerade gar nicht mehr kalt. Aber meinst du nicht, wir sollten uns mal auf den Weg zurück machen?“
„Meinetwegen könnten wir auch ewig hier vor …“ – Nico drehte den Kopf zum Ladenschild – „ Pflanzenparadies Kröger stehen. Aber du hast wohl recht, dass es im Internat noch einen Tick gemütlicher ist. Es sollte auch nicht mehr weit sein bis zum Auto.“
„Dann mal los!“, rief Noah und sprintete wieder in den Regen, immer noch ganz beflügelt von der Intensität der letzten paar Minuten. Er hatte einen Mann geküsst und zwar nicht irgendeinen, sondern den Mann, in den er bis über beide Ohren verknallt war. Und Nico hatte ziemlich deutlich gemacht, dass er seine Gefühle erwiderte.
Als Noah nun über die Pfützen sprang, war es nicht mehr mit einer kindlichen Freude, sondern mit einer von der Liebe angetriebenen Leichtigkeit. Er warf zwischendurch einen Blick zu Nico, der neben ihm lief und ebenfalls sehr glücklich aussah.
„Jetzt noch über die Ampel da vorn und dann müssten wir am Parkplatz sein!“