24. Kapitel: Ein neues Gleichgewicht

Donnerstag, 18. August 2022, 06:00 Uhr

Als Noah am nächsten Morgen durch das Klingeln des Weckers aufwachte, spürte er, dass die Nacht kurz gewesen war. Dennoch fühlte er sich erstaunlich ausgeruht und glücklich, ohne direkt zu wissen warum. Dann kam die Erinnerung an den vergangenen Abend wieder, seinen ersten Kuss mit Nico im Regen vor Blumenparadies Kröger in Greifswald, das gemeinsame Sushi-Essen und Kuscheln nach den Hausaufgaben. Seine Lippen formten sich zu einem seligen Lächeln, während er die Augen noch einen Moment geschlossen hielt, um in der Erinnerung zu verweilen.

Auf einmal bemerkte er, wie sich ein Paar etwas trockene aber dennoch weiche Lippen vorsichtig auf seine legten. „Guten Morgen!“ flüsterte Nico, der vor seinem Bett stand und sich über ihn beugte.

„Guten Morgen!“ Noah zog seinen Mund etwas zurück. „Ich hab noch gar nicht Zähne geputzt!“

„Dann mal los!“, rief Nico. Noah musste lächeln und folgte seinem Mitbewohner ins Bad. Ja, das würde ein schöner Tag werden, so ungewohnt das alles für ihn auch war.

„Die letzten Tage bist du morgens nicht so gut gelaunt um diese Uhrzeit aus dem Bett gekommen“, stellte Noah nach einem innigen Zahnpasta-Kuss fest.

„Och, auch ans Laufband und Hunderte von Situps gefühlt mitten in der Nacht kann man sich gewöhnen. Oder willst du etwa behaupten, es könnte noch einen anderen Grund für meine gute Laune geben? Bilde dir bloß nichts ein!“ Er zwinkerte Noah zu und griff dann zu seinem Rasierer.

Noah seufzte, als er in seine Sporthose schlüpfte. „Im Ernst, ich hoffe, wir kriegen das hin und kommen durch den Tag, ohne vor den anderen aufzufallen.“

„Wir sind ganz normale Mitbewohner, die sich gut verstehen“, säuselte Nico über das Brummen seines Rasierers. „Keinerlei PDA oder auffällige Blicke.“

„PDA?“

„Public Displays of Affection.“ Nico beugte sich zu Noah und setzte ihm einen raschen Kuss auf die Wange. „So was zum Beispiel.“

Aus Nicos Mund klang das alles so einfach. So entspannt. Noah nahm seine Trinkflasche. „Kommst du?“

„Geh du schon mal vor!“, rief Nico aus dem Bad. „Wir müssen ja nicht unbedingt gemeinsam im Trainings-Center ankommen. Oder bist du mit Julius als Mitbewohner auch immer zusammen zur Halle gegangen?“

Ach ja, Julius. An den wollte Noah jetzt eigentlich nicht denken, auch wenn die Erinnerung an ihn nicht mehr so wehtat wie vorher. Er hatte seit dem Gespräch mit Sabine das Gefühl, er sollte von ihm Abschied nehmen und nach vorne sehen. Ein gutes Stichwort für diesen schönen Tag.

Der Himmel zeigte sich in einem sommerlichen Blau, als ob es den Regen vom Vortag nie gegeben hätte. Kam es Noah nur so vor oder zwitscherten auch die Vögel heute fröhlicher als sonst? Er war sich sicher, dass er über das ganze Gesicht ebenso strahlte wie die Sonne, als er den Weg zwischen Hauptgebäude und Trainings-Center entlang schlenderte. Ob das den anderen auffallen würde? Oder waren alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt?

Er beobachtete zwei jüngere Mädchen, die ein paar Meter vor ihm liefen und über irgendeine Fernsehserie plauderten. Da hinten ging Yannik aus seinem Politik-Kurs, die Kopfhörer auf den Ohren, und schien nichts von der Welt herum mitzubekommen.

Links neben dem Eingang zum Trainings-Center entdeckte Noah noch jemanden, der ganz in sich versunken schien: Aylin tippte auf ihrem Smartphone, wobei sie sehr glücklich wirkte. Ihre Augen leuchteten und ihre Mundwinkel wurden von einem Lächeln umspielt. Noah erlebte Aylin meistens als gut gelaunt, doch diese Chat-Unterhaltung schien sie besonders zu erfreuen.

Er trat an sie heran: „Moin Aylin!“

Aylin fuhr entsetzt zusammen und ihrem Mund entwich ein „Was …?“ Das Smartphone fiel ihr aus der Hand und landete mit dem Bildschirm nach oben im Gras, woraufhin sie sich schnell bückte, um es aufzuheben.

„Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte Noah schnell. Erst dann wandte sich Aylin an ihn: „Ach, du bist es, Noah. Ich dachte schon …“ Ihr Gesicht war knallrot. Sie sprach nicht weiter und versuchte das Smartphone mit ihrer Hand zu verdecken. Das Smartphone, auf dem kurz vorher noch ein Herz-Emoji zu sehen gewesen war. Und viel nackte Haut auf einem Foto. Sowie ein weiterer Herz-Emoji hinter dem Namen des Gesprächspartners, den Noah nicht hatte lesen können.

Aylin bebte vor Scham und fühlte sich ziemlich sicher ertappt, auch wenn Noah zugeben musste, dass ihn ihr Liebesleben nicht sonderlich interessierte. Ob sie sich nun mit diesem Cousin schrieb, den ihre Eltern für sie im Auge hatten, oder mit jemand anderem, war nicht seine Sache. Doch als er mit „Aylin …“ begann, fiel sie ihm ins Wort: „Noah, was hast du gesehen?“

„Nichts. Also keinen Namen und äh, das geht mich auch gar nichts an. Aylin, wenn, äh, wenn es da jemanden gibt, den du toll findest, dann ist es doch super.“

Er merkte, wie Aylin sich bei diesen Worten beruhigte. Sie begann sogar, matt zu lächeln. „Aber das muss keiner wissen. Und Cem erst recht nicht.“

„Natürlich nicht.“ Noah fühlte sich gleich besser. Schlimm genug, dass er sie gerade in diese für beide peinliche Situation gebracht hatte.

Aylin schien wieder mehr von ihrer selbstbewussten Haltung zurückgewonnen zu haben, denn kurz darauf durchbohrte sie ihn mit ihren blitzenden dunklen Augen. Ein geheimnisvolles Schmunzeln legte sich über ihr Gesicht, als sie sagte: „Weißt du was, Noah. Ich werde dir erzählen, auf wen ich stehe, wenn du mir erzählst, auf wen du stehst!“

Nun war Noah an der Reihe, sich peinlich ertappt zu fühlen. Wusste Aylin etwa von ihm und Nico? Aber das konnte nicht sein – seit dem letzten Abend hatte er noch keinen Kontakt zu den anderen gehabt. Hatte sie seine Blicke Nico gegenüber in den letzten Tagen bemerkt und entsprechend interpretiert? Oder redete sie womöglich gar nicht von Nico, sondern – er spürte einen innerlichen Stich – von Nele?

Zum Glück wurde er aus der Situation gerettet. „Aylin! Noah! Lasst uns mal reingehen, wir kommen zu spät!“, rief Luisa. Noah erblickte hinter ihr Nico in einer Gruppe mit Thor und Felix. Er warf seinem Mitbewohner einen kurzen Blick zu und atmete dann tief durch.

Ja, es war ein wunderschöner Tag, auch wenn nicht alles einfach werden würde. Als er dann in der Ferne Cem hinter Malte sah, wurde ihm wieder bewusst, dass auch für Aylin nicht alles einfach war.

***

„Moin Luisa!“ Glücklich stellte Noah das Tablett mit dem Rührei auf den Tisch. Das Krafttraining war immer noch hart, selbst wenn man innerlich auf Wolke Sieben schwebte. Aber jetzt war es geschafft und gleich würde er Nico wiedersehen.

„Hi Noah, erfolgreiches Training gehabt? Du strahlst ja richtig!“ Luisa wandte sich ihm zu.

„Ja, getane Arbeit gibt immer ein gutes Gefühl“, erklärte er und hoffte, dabei nicht rot zu werden. Ob seine beste Freundin ihm glaubte, dass es nur das war?

Dann kam Nico und setzte sich ihm gegenüber, frisch geduscht mit noch feuchtem Haar und in einem blauen T-Shirt, das wunderbar zu seinen Augen passte. Das Lächeln, das er ihm kurz schenkte, bevor er sich seinem Frühstück zuwandte, erweckte in Noah den Wunsch, ihn auf der Stelle zu küssen. Oh Mann, das wird ein anstrengender Tag werden , dachte er.

Immerhin beschäftigte sich Luisa nun mit Aylin, und die beiden diskutierten über ihr Englisch-Referat. Noah überlegte gerade, ob er etwas Unverfängliches zu Nico sagen sollte, als sein Handy vibrierte. Gar nicht so undankbar für die Unterbrechung sah er darauf und wusste nicht, ob er kichern oder den Kopf schütteln sollte. Seine Mutter!

„Was ist?“ fragte Nico interessiert und nahm einen Schluck von seinem Kaffee.

„Ach, meine Mutter wünscht mir einen schönen Tag und zeigt mir ihren Arbeitsplatz“, begann Noah und musste jetzt doch lächeln, als er Nico das Bild auf seinem Handy zeigte. Darauf war ein Laptop mit einem geöffneten Dokument und mit einer Kaffeetasse mit der Aufschrift ‚„I’m a translator – What’s your superpower?“ zu sehen.

„Ist doch lustig. Deine Mom scheint einen Sinn für Humor zu haben. Außerdem hat sie recht, heute ist ein schöner Tag!“

„Das stimmt. Aber meine Mutter hat auch etwas Anstrengendes. Wenn ich nämlich nicht auf ihre Nachrichten antworte, macht sie sich Sorgen und denkt, dass es mir nicht gut geht.“ Was würde seine Mutter wohl sagen, wenn sie wüsste, dass Noah am Tag zuvor bis auf die Haut durchnässt durch Greifswald gelaufen war und dabei einen Mann geküsst hatte?

„Einzelkind-Schicksal! Wenn meine Mom sich bei mir und meinen beiden Brüdern ständig Sorgen machen würde, hätte sie viel zu tun. Aber dann mach ihr doch eine Freude und antworte mit einem Bild. Du hinter dem Rührei an diesem schönen Morgen … Gib mal dein Telefon her – smile!“

Noah strich sich noch einmal die Locken gerade und merkte dann, wie das Lächeln automatisch sein ganzes Gesicht ausfüllte, während Nico auf dem Bildschirm des Smartphones herumwischte und Noahs Porträt fokussierte. Als er noch weiter darauf herumtippte, wurde Noah unruhig: „Hey, schickst du das etwa direkt an meine Mutter?“

„Nicht an deine Mutter. Das kannst du gleich selbst machen.“ Er reichte Noah das Telefon zurück. Das Foto war tatsächlich versendet worden und zwar an den gerade neu angelegten Kontakt ‚Nico Schwarz‘ .

Noah grinste und spürte einmal mehr, wie ihn eine ganz besondere Wärme erfüllte. „Dann bin ich jetzt aber dran“, sagte er und richtete seine Handy-Kamera auf Nicos Gesicht. Wenn Nico schon ein Foto von ihm hatte, wollte er sich auch eins von ihm speichern können. Und was für ein Foto! Für einen Moment betrachtete er auf seinem Bildschirm verträumt das Bild, das die blauen Augen und das schelmische Grinsen seines Gegenübers so schön eingefangen hatte.

Plirr! Ein schepperndes Geräusch vom Nebentisch holte Noah zurück in die Gegenwart. Schnell legte er sein Handy weg. Hatte jemand etwas mitbekommen? Aber wovon denn? Er hatte doch nur das Foto von Nico betrachtet. Dann dachte er an Aylin, die immer noch schräg gegenüber von ihm mit Luisa über Brave New World diskutierte. Ja, sich heimlich verliebte Botschaften zuzuschicken, musste etwas Reizvolles haben und er hatte das Gefühl, dass sich ihm gerade eine neue Welt öffnete. Doch gleichzeitig musste und wollte er sein altes Leben weiterführen.

Er schaute noch einmal auf sein Handy, aber dieses Mal auf den Stundenplan: Eine Doppelstunde Chemie, dann Bio und Deutsch. Plötzlich erschien eine neue Nachricht auf dem Bildschirm: „Du weißt schon, dass ich jetzt viel mehr Lust auf die chemische Reaktion eines Kusses hätte als auf die Reaktion im Reagenzglas?“ Es durchfuhr Noah wie eine warme Welle und er antwortete schnell mit einem Zwinker-Emoji, bevor Nico und er sich widerwillig auf den Weg in den Chemiesaal machten.

„Wir werden heute ein Experiment zum Prinzip von Chatelier durchführen“, verkündete Herr Bilke wenig später. „Wer ruft uns noch einmal in Erinnerung, was das Prinzip von Chatelier war?“

Okay, das ist machbar. Noah hob seinen Arm, und nachdem der Lehrer gefühlt eine halbe Ewigkeit gewartet und „Noch jemand außer Noah?“ gefragt hatte, wurde er drangenommen: „Wenn wir ein System haben, das sich im Gleichgewicht befindet und sich dann die äußeren Bedingungen ändern, verschiebt sich das Gleichgewicht und weicht dem Zwang aus.“

„Ganz genau. Unser heutiges Experiment wird dieses Prinzip anhand der Iod-Stärke-Reaktion zeigen. Dazu werden Sie in Vierergruppen arbeiten.“

Noah sah sich um. Gruppenarbeit! Das hing sehr davon ab, mit wem man in einer Gruppe war … Herr Bilke teilte die Klasse entlang der gegenüberliegenden Bankreihen, so dass Noah mit Nico, Malte und Cem zusammen kam.

„Mit dem Streber in einer Gruppe! Na dann streng dich mal schön an, damit wir alle ne Eins plus mit Sternchen kriegen“, brummte Malte. Die Schwellung unter seinem Auge, mit der er am Samstag bei den Meisterschaften angetreten war, war kaum noch zu sehen. Dennoch zog er sich das Baseball-Cap tiefer ins Gesicht, vermutlich um das Logo des Energy-Drink-Herstellers zu zeigen, mit dem er nun den Werbevertrag hatte.

Noah ignorierte den Kommentar. Nico hingegen beugte sich nach unten, so dass er Maltes Augen auch unter dem Baseball-Cap fixieren konnte: „By the way, Team steht nicht für Toll, Ein Anderer Macht’s . Ich schlage vor, ich kümmere mich um die Reagenzgläser und denke, dass du das super hinkriegen wirst, den Bunsenbrenner zu holen.“

Noah musste schmunzeln. „Wir brauchen auch noch jemanden fürs Protokoll!“

„Cem, so was machst du“, bestimmte Malte und erhob sich langsam in Richtung Chemiesammlung.

„Wenn’s sein muss … Was soll ich schreiben?“ Cem kramte einen Kuli und einen Block hervor.

„Wir haben eine Kaliumiodid-Iod-Lösung“, las Nico aus den Instruktionen. Noah versetzte wie vorgegeben die Stärkelösung mit ein paar Tropfen der Kaliumiodid-Iod-Lösung, die sich daraufhin blau färbte. „Jetzt schauen wir, was passiert, wenn wir sie erwärmen. Cem, hast du die Blaufärbung im Protokoll?“

Noah sah hinüber zu Cems Aufzeichnungen und runzelte die Stirn: „Wir müssen das nachher noch entziffern können, das weißt du schon? Deine Handschrift ist ja fast so schlimm wie die von Julius.“

Cem, der bisher unmotiviert dagesessen hatte, zuckte plötzlich zusammen. Vielleicht hätte er Julius nicht erwähnen sollen, dachte Noah. Womöglich ging Cem der Tod seines Lauf-Kollegen näher, als er zeigen wollte. Malte hingegen sagte: „So, Brenner angeschlossen. Was müssen wir noch machen, damit wir endlich fertig werden?“

„Jetzt erhitzen wir die Lösung. Möchtest du?“ Noah blickte Malte an. Wenn der wollte, konnte er ja doch halbwegs mitarbeiten. Gemeinsam stellten sie fest, dass sich die Lösung beim Erhitzen entfärbte und beim anschließenden Abkühlen wieder ihre blaue Färbung annahm.

„Irgendwie cool!“, fand Nico.

„Und was bringt uns das jetzt?“, fragte Malte, während er schon seine Sachen zusammenpackte.

„Durch das Erwärmen verschiebt sich das Gleichgewicht. Wir haben eine endotherme Reaktion und das bringt die Farbänderung mit sich“, erklärte Noah.

„Das heißt also Anpassung an neue Umstände? Ein neues Gleichgewicht?“ Nico drehte sich zu ihm und für eine Zehntelsekunde zogen sich seine Mundwinkel zu einem heimlichen Grinsen nach oben. Gleichzeitig spürte Noah, wie sich ein Bein warm an seinen Unterschenkel drückte.

„Äh, ja, so kann man es sehen. Es entsteht wieder ein neues Gleichgewicht“, bestätigte Noah und spürte das Kribbeln in seinem ganzen Körper. Wenn es denn mal so einfach wäre, sich an diesen Zustand als neues Gleichgewicht zu gewöhnen … Der Gong zum Ende der Stunde ertönte, und Herr Bilke verkündete die Hausaufgaben.

„Cem, fotografierst und schickst du uns deine Aufzeichnungen fürs Protokoll?“ Noah bezweifelte zwar, dass er die Notizen würde lesen können, doch bei seinem guten Gedächtnis würde er vielleicht gar nicht darauf angewiesen sein.

„Jo, mach ich!“ Cem blickte zu Nico: „Dann sehen wir uns nachher beim Training? Wenn J.J. dich mit uns und nicht mit den Mädels trainieren lässt …“ Ein spöttisches Grinsen fuhr über sein Gesicht.

Malte stimmte in die Stichelei ein: „Pass auf – Amelie schlägt dich locker!“ Dann wurde er plötzlich ernst und fügte hinzu: „… wenn sie wieder fit ist. Ach weißt du, mach dir nichts draus, du kannst dich ja noch steigern. Können wir alle. Und nach all dem was passiert ist, müssen wir als Läufer zusammenhalten.“

Versöhnliche Töne von Malte? Womöglich hatten Julius‘ Tod sowie die sexuelle Belästigung von Amelie die Läufer einander nähergebracht. Noah hörte noch, wie Nico Malte und Cem gegenüber bestätigte, dass er froh sei, Teil der Lauf-Mannschaft zu sein. Dann machten sie sich auf den Weg zur Biostunde.