25. Kapitel: Sprachnazi

Donnerstag, 18. August 2022, 14:39 Uhr

Lustlos blickte Noah auf sein Lektürenheft von Goethes Faust und das noch ziemlich leere Text-Dokument, in das er seine Hausaufgaben schreiben sollte. Den Rest des Schulvormittags hatte er recht gut hinter sich gebracht. Beim Mittagessen hatte er zwar stark an sich halten müssen, als Nico ihn beim Griff nach dem Salzstreuer mehrmals so gar nicht zufällig berührte. Aber da Luisa, Nele, Thor und Felix gerade eifrig darüber diskutierten, welcher Marvel-Film der beste sei, hoffte Noah, dass dies niemandem aufgefallen war.

Nun in der Hausaufgabenzeit befand er sich jedoch erstmals seit dem Morgen mit Nico allein im Zimmer. Er wünschte sich nichts mehr als dort weiterzumachen, wo sie am Abend zuvor aufgehört hatten. Andererseits fürchtete er das schlechte Gewissen. Nein, er würde sich nicht entspannen können, wenn er die Hausaufgaben aufschob und den Schmetterlingen in seinem Bauch nachgab. Also zurück zu Mephisto und seiner Tarnung als Pudel. Wenn er sich doch konzentrieren könnte!

Er schielte über den Rand seines Laptops hinüber zu Nico, der gerade Englisch-Hausaufgaben machte. Oder besser gesagt machen sollte, denn so ganz fokussiert wirkte er auch nicht: Als er merkte, dass Noah ihn ansah, warf er ihm ein schelmisches Grinsen entgegen. „Was macht der Faust? Wenn du gleich fertig bist, hätte ich durchaus Lust, vor dem Training mit dir noch ein bisschen Faust und Gretchen zu spielen.“

„So, so, Faust und Gretchen“, wiederholte Noah und lächelte.

„Meinetwegen auch Romeo und Julia. Das haben wir an meiner alten Schule in Englisch als Theaterstück gespielt. So richtig in der Shakespeare-Sprache. Romeo oh Romeo, wherefore art thou Romeo? Deny thy father and refuse thy name!”

„Du würdest echt einen guten Romeo abgeben”, meinte Noah, der bei diesen Worten nun doch aufgestanden und zu Nico gegangen war. Er legte seinen Arm um ihn und küsste ihn zärtlich auf die Lippen. „Und ich muss zugeben, dass ich diese alte Sprache mit ihren eigenen Regeln irgendwie schön finde, so schwülstig sie auch klingt.”

„Ja, das hat was”, sagte Nico und schien zu überlegen. „Doch unsere heutige Sprache kann genauso romantisch sein. Findest du nicht? Ich bin jedenfalls froh, dass wir nicht mehr so reden wie zu Shakespeares oder zu Goethes Zeiten. Sprache verändert sich, ist etwas Lebendiges. Was früher falsch war, ist jetzt richtig. Da können sich diese Sprachnazis auf den Kopf stellen!“

Plötzlich erstarrte Noah. Irgendwo in ihm hatte es Klick gemacht. Da schwirrte ein Gedanke herum, eine Erinnerung. Im Gespräch mit Sabine hatte er die Eingebung ebenfalls kurz gehabt, aber nicht zu fassen bekommen. Jetzt schon. Aber das war unmöglich. Das war unglaublich. Das konnte doch nicht sein!

Nico schien zu bemerken, dass Noah mit seinen Gedanken ganz weit weg war und blickte ihn verwirrt an: „Noah, was ist los? Hab ich was falsch gemacht?“

Ein kalter Schauder lief Noah über den Rücken. Er musste kreidebleich sein: „Nein, du nicht, also doch …”

Nico war nun ganz ernst: „Noah. Was ist mit dir?“

„Das mit dem Sprachnazi …“, begann Noah.

„Das war nur ein blöder Ausdruck, sorry. Kein politisch korrektes Wort, da hast du recht.“

„Darum geht es nicht. Wobei, eigentlich doch.“ Noah versuchte sich zu fassen, aber es gelang ihm nicht. „Wir hatten diese Diskussion letztens im Unterricht. Ob man jemanden, der penibel korrekt auf Grammatik und Rechtschreibung achtet, als Sprachnazi bezeichnen darf. Oder ob man nur echte Nazis als solche benennen sollte, damit das Wort seine Tragweite behält.“

„Sprachlicher Korinthenkacker find ich eigentlich auch besser“, meinte Nico. „Aber ich verstehe immer noch nicht, warum –“

„Es geht um Julius.“ Noah musste schlucken. „Mir ist eingefallen, wie engagiert er bei der Diskussion dabei war. Die Nazi-Assoziation fand er unpassend, meinte aber, man sollte sich über sprachliche Korrektheit nicht so lustig machen. Er sagte, dass eine schöne und richtige Sprache wichtig seien und er immer Zustände bekäme, wenn er dass fälschlicherweise mit einem statt zwei s sähe.“

„Interessant. Ansonsten war er doch nicht so der Überflieger in der Schule, oder? Nicht so wie du?“

„Nein, aber in Deutsch war er schon ganz gut. Sprache hat ihn interessiert. Das wurde mir auch im Gespräch mit Sabine gestern bewusst, als es ums Germanistikstudium ging.“

Noah holte tief Luft. Nun kam er zum entscheidenden Punkt. Zu dem Gedanken, der ihm gestern noch entglitten war und der sich nun wie mit einem Schlag in aller Klarheit präsentierte. „Und das passt nicht zum Abschiedsbrief.“

Nico war mit einem Mal wieder todernst. „Wie meinst du das?“

„Als die beiden Polizisten ihn mir gezeigt haben, hab ich mich auf den Inhalt konzentriert, auf all das, was da über den Leistungsdruck stand. Dabei habe ich die sprachliche Form gar nicht richtig wahrgenommen. Aber da waren Rechtschreib- und Grammatikfehler und zwar nicht nur einer. Und das passt eigentlich nicht zu Julius.“

Noah spürte, wie es ihn erleichterte, seine Beobachtung auszusprechen. Allerdings wurde der Gedanke durch seine Formulierung in Worten noch größer, noch erschütternder. Nico betrachtete ihn mit großen Augen. „Bist du dir sicher?“

„Ja.“ Noah nickte. „Ich habe ein fotografisches Gedächtnis“, fügte er leise hinzu.

„Das glaube ich dir aufs Wort. Du kannst dich also noch genau daran erinnern, was in dem Brief stand?“

„Ich bin mir sicher, dass ein falsch geschriebenes dass dabei war im Satz Es tut mir leid das ich euch das antue . Auch ohne Komma, glaube ich … Ja, genau.“ Noah grübelte, versuchte sich die Formulierungen ins Gedächtnis zu rufen. „Mit dem Wort kaputt stimmte auch etwas nicht. Und dann noch irgendwas mit Groß- und Kleinschreibung. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr denke ich, dass Julius niemals einen solchen Brief geschrieben hätte.“

„Auch nicht in großer Eile? In großer Verzweiflung?“, fragte Nico vorsichtig.

„Auch dann nicht. Außerdem ist ein Abschiedsbrief doch etwas, über das man nachdenkt. Ich meine … Ich habe gesagt, ich kannte Julius nicht wirklich gut, und ich weiß nicht, wie man einen Abschiedsbrief schreibt, aber … Julius hätte ihn sicher anders formuliert. Eloquenter. Und fehlerfrei. Das hätte mir eigentlich vorher auffallen müssen. Was bin ich dumm gewesen!“

Nico begann, durch das Zimmer zu schreiten, so als würde er damit seine Gedanken ankurbeln. „Und was ist mit der Unterschrift unter dem Brief? Schrieb Julius seinen Namen immer so?“

„Hmmm. Die Buchstaben waren ziemlich krakelig und verschnörkelt, das war durchaus Julius’ Stil. Andererseits … “ Noah machte eine Pause, bevor er weitersprach. Seine Gedanken kreisten, sein Körper war in Aufruhr. „Wenn man will, kann man eine Unterschrift nachmachen. Von einer Liste abschreiben oder so.“

„Oder vom Perso. Je nachdem, was gerade zur Hand war“, ergänzte Nico. Noah realisierte, dass Nico, der bisher immer die Fragen gestellt und mögliche Zweifel gesät hatte, nun seinen Gedankengang weiterdachte und vollendete.

„Du hältst es also auch für wahrscheinlich, dass nicht Julius selbst, sondern jemand anderes diesen Brief geschrieben hat?“, fragte Noah geradeheraus. „Aber das heißt …“ Er traute sich nicht den Satz zu beenden. In ihm tobte es. Was war mit Julius passiert?

„Basierend auf dem, was du sagst, wäre das eine Möglichkeit”, sagte Nico, betont leise und langsam, als wählte er jedes Wort mit Bedacht. „Die Frage ist natürlich warum. Was ist genau geschehen? Weißt du, wo der Abschiedsbrief lag?“

„Hier im Zimmer, sagten die Polizisten. Das klingt eigentlich alles so logisch. Bevor Julius aufs Dach geht, sitzt er hier im Zimmer an seinem Schreibtisch, tippt den Abschiedsbrief auf seinem Laptop, druckt – “ Noah hielt inne. Es durchfuhr ihn wie ein Stromschlag; seine Augen weiteten sich. „Shit! Das ist der Beweis!“

„Was ist der Beweis?” Nico starrte ihn an.

„Der Drucker in unserer Wohneinheit ist doch schon seit vor den Ferien kaputt! Julius konnte den Brief nicht drucken.“ Nun fühlte sich Noah wirklich wie Sherlock Holmes. „An die Drucker in den Schulräumen kommt man außerhalb der Schulzeiten nicht ran. Er hätte jemanden von einer anderen Wohneinheit fragen können, so wie ich manchmal bei Luisa drucke. Oder einen Lehrer oder Trainer. Aber Freitagabend war doch niemand da. Julius kann diesen Brief am letzten Freitag – oder auch in den Tagen vorher – nicht selbst geschrieben und nicht selbst ausgedruckt haben.“

„Interessant … Sehr interessant.“ Nico nickte langsam. Er wirkte beeindruckt. „Aber irgendwie muss der Brief ja hier ins Zimmer gekommen sein. Wer hat denn alles Zugang?“

„Putzfrau, Hausmeister – und sonst niemand. Man braucht die Zimmerkarte und nur Julius und ich hatten eine. Julius könnte natürlich jemand anderen ins Zimmer gelassen haben. Und dann vom Dach springen? Nein, das ergibt keinen Sinn.“

„Warte mal“, meinte Nico. „Also, Julius ist vom Dach gefallen und sagen wir mal, es gibt irgendjemanden, der damit was zu tun hat. Dieser Jemand stellt fest, dass Julius tot ist … und nimmt die Zimmerkarte aus dem Portmonee mit.“

„Du meinst, diese andere Person verschafft sich mit der Karte Zugang zum Zimmer und legt den Abschiedsbrief hier ab“, ergänzte Noah. „Einen Abschiedsbrief, den diese Person formuliert und auf einem Drucker gedruckt hat, zu dem sie Zugriff hat. Einen Abschiedsbrief mit nachgeahmter Unterschrift, damit am Ende alles so aussieht, als habe Julius ihn selbst geschrieben. Weißt du, was das bedeutet?“

„Naja, angenommen, es war wirklich so, wie wir gerade überlegt haben …“, begann Nico.

„Wenn eine andere Person all das auf sich nimmt, um Julius‘ Tod als Selbstmord darzustellen, dann ist Julius nicht freiwillig vom Dach gesprungen.“ So, jetzt war es raus.

„Das sieht ganz so aus.“

„Scheiße.“ Ein Schauer war durch Noahs ganzen Körper gelaufen, als ihm durch Nicos Bestätigung noch einmal bewusst wurde, worauf er hier gestoßen war. „Wir müssen zur Polizei gehen.“

„Polizei?“ Nico wirkte plötzlich verändert, da war Erstaunen oder Entsetzen in seinem Gesichtsausdruck. Wahrscheinlich realisierte er ebenfalls gerade die Implikationen.

„Ja, wenn es ein Verbrechen war, müssen wir zur Polizei. Ich habe noch die Karte von der Polizistin, Priebnitz oder wie sie hieß …“

„Warte“, unterbrach ihn Nico. „Gleich ist erstmal Training. Außerdem haben wir bisher nur ein paar vage Hinweise, Rechtschreibfehler in einem Brief und einen kaputten Drucker. Vielleicht findet sich noch etwas Handfestes. Außerdem sollten wir den Informationsvorsprung nicht unterschätzen. Es gibt womöglich jemanden, der etwas mit Julius‘ Tod zu tun hat. Jemanden, der vielleicht jetzt hier im Internat ist und sich in Sicherheit wiegt, weil alle an Selbstmord glauben. Sobald die Kripo auftaucht, ist der Täter gewarnt. Wir sollten uns das gut überlegen.“