26. Kapitel: Nicht bei der Sache

Donnerstag, 18. August 2022, 15:59 Uhr

Die Gedanken überschlugen sich in Noahs Kopf, als er zur Sportanlage lief. Das Training passte ihm gerade überhaupt nicht, obwohl sie wieder draußen auf der Anlage springen würden. So wie vor zwei Tagen.

War es wirklich erst zwei Tage her, als er den längeren Stab ausprobiert, die 4,90 Meter übersprungen und Nico beim Lauftraining beobachtet hatte?

Damals war noch alles anders gewesen. Damals war Noah noch davon ausgegangen, dass Julius sich das Leben genommen hatte. Er dachte zurück an seine Vorwürfe, dass er keine Anzeichen für Julius‘ Selbstmordabsichten bemerken konnte. Dabei deutete nun einiges darauf hin, dass Julius sich gar nicht das Leben nehmen wollte.

Noah hörte nur halb mit, wie Trainer Martin ihn und die anderen Stabhochspringer begrüßte. Sie begannen mit dem Aufwärmen in Form von leichten Steigerungsläufen und Dehnübungen.

Alles, was er sich über Julius und seine Probleme in den letzten Tagen zu erklären versucht hatte, war falsch gewesen. Wenn der Abschiedsbrief gefälscht war, dann gab es vermutlich überhaupt keinen schlimmen Leistungsdruck, den Julius nicht mehr ausgehalten hatte. Julius war im Trainingscamp glücklich gewesen, wie Sabine es erzählt hatte; er hatte sich mit Daniel Wagenknecht angefreundet und hatte Freude am Laufen gehabt. Selbst wenn aus ihm kein Profi-Läufer geworden wäre, hätte er viele andere Möglichkeiten gehabt. Zum Beispiel wie Sabine Germanistik studieren, was ihn interessiert hatte und worüber er sich wohl bei ihr informiert hatte. Nein, Julius hatte weiterleben wollen.

In dieser Hinsicht passten die Puzzleteile, die für Noah zuvor noch keinen Sinn ergeben hatten, nun zusammen. Julius hatte sich nicht umgebracht. Andererseits – „Achtung! Hey, Noah, pass auf!“ Fast wäre er mit Aylin zusammengekracht. Er war einfach weitergelaufen, ohne seinen Steigerungslauf zu beenden.

„Sorry!“, rief er schnell.

Die Vorstellung, dass jemand anderes für Julius‘ Tod verantwortlich war, empfand Noah als noch beunruhigender und schockierender als den unerklärlichen Selbstmord, von dem er vorher ausgegangen war. Was war auf dem Dach passiert? Wer fälschte denn einen Abschiedsbrief, um einen Tod als Selbstmord darzustellen? So etwas machte man nicht, wenn man zufällig beobachtete, wie jemand unglücklich vom Dach stürzte. Und warum sollte Julius auch einfach so vom Dach stürzen? Nein, die Person musste Julius’ Tod zumindest mitverursacht haben, bevor sie dann den Brief mit dem Leistungsdruck formulierte und ihn auf Julius’ Schreibtisch legte.

Noah schauderte. Jemand trug die Schuld an Julius‘ Tod, und dieser Jemand war in ihrem gemeinsamen Zimmer gewesen. Er musste plötzlich daran denken, wie seine Sachen bei der Rückkehr ins Internat anders angeordnet waren. Er hatte es auf die Polizei geschoben, doch womöglich war es der Täter gewesen, der in Julius‘ und auch in seinen Sachen gewühlt hatte. Was hatte er oder sie gesucht?

Auf einmal spürte er, wie Thor ihn anstupste: „Noah, hörst du überhaupt zu? Martin hat uns gerade gefragt, bei welcher Höhe wir einsteigen wollen.“

Noah antwortete mechanisch und nahm sich gleich einen Stab. Doch während er wartete, bis er an der Reihe war, drifteten seine Gedanken wieder ab und ihm wurde bewusst, dass er zu zittern begann. Da war ein Mensch, der mit Julius auf dem Dach gestanden hatte. Der Julius wahrscheinlich getötet hatte. Der anschließend in ihrem gemeinsamen Zimmer gewesen war. Der sich im Sportinternat gut auskannte. Der womöglich noch immer unerkannt unter ihnen lebte.

Noahs Körper fühlte sich plötzlich schwer wie Blei an. Er umfasste den Stab und lief los, aber er merkte schnell, dass der Versuch nicht klappen würde. Also lief er durch und sank danach kraftlos in sich zusammen.

Es fühlte sich an, als würde er von einer Welle des Bösen überrollt und zerdrückt. In dem Sportinternat, das Noah seit Jahren sein Zuhause nannte, in seinem engsten Umfeld, passierten schreckliche Dinge. Totschlag, Mord? Und er selbst war mittendrin. Hätte es statt Julius auch ihn treffen können?

„Was ist los, Noah? Hast du dich verletzt?“ Martin beugte sich mit besorgtem Blick zu Noah herunter.

„Äh, nein, ich war irgendwie … bin irgendwie gerade nicht richtig reingekommen und hatte keinen Schwung. Ich versuche es gleich nochmal.“

Noah stand mühsam auf. Jetzt konzentrier dich! Das war Stabhochsprung, das konnte und liebte er. Und es war leicht. Es ging gerade mal um seine Einstiegshöhe bei 4,50 Meter.

Aber weder sein Gehirn, in dem die Gedanken kreisten, noch sein Körper, der sich schwer wie eine Tonne anfühlte, wollten mitspielen. Er konnte nicht richtig abspringen, weder beim nächsten Versuch noch beim übernächsten. Schließlich sank er erneut ermattet auf den Boden. Der Schweiß brach ihm am ganzen Körper aus. Wie sollte er so das Training überstehen? Wie sollte er seinen eigenen Anforderungen und den aller anderen gerecht werden? Wie sollte er sich weiter steigern und es zu Olympia schaffen, wenn er noch nicht mal mit 4,50 Meter klarkam?

Und was war andererseits mit Julius? Der würde nie mehr trainieren, nie mehr laufen können, weil er von irgendjemandem aus dem Leben gerissen wurde? Und warum? Julius hatte doch niemandem etwas getan! Oder etwa doch? War denn die ganze Welt aus den Fugen geraten?

Noah lag immer noch kraftlos auf dem Boden und merkte nun, wie sich sein Trainer und die anderen Stabhochspringer über ihn beugten. In Martins Gesicht war Sorge zu erkennen; auch Thor und Aylin sahen beunruhigt zu ihm hinunter:

„Noah, was ist passiert?“

„Was ist denn heute mit dir los? Du bist irgendwie nicht bei der Sache.“

„Fühlst du dich nicht gut?“

„Nein, äh, ich glaube, ich habe schlecht geschlafen. Ich fühle mich plötzlich so schlapp“, versuchte er zu erklären. Martin legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihm in die Augen. „Hoffentlich brütest du nichts aus. Dein Training ist für heute beendet. Ruh dich auf deinem Zimmer aus, damit du bald wieder fit bist. Wenn es morgen noch so ist, lass dich bei Doktor Florenzi durchchecken!“

Noah nickte. Er machte sich langsam und niedergeschlagen auf dem Weg in sein Zimmer. Einerseits war er erleichtert, in seinem verwirrten Zustand nicht mehr trainieren zu müssen. Andererseits fühlte sich der Abbruch des Trainings schlecht an. Ein Ausbruch aus der Routine, die ihm sonst Kraft gab. Er verpasste nur äußerst selten ein Training und das ausschließlich aus Verletzungsgründen wie die Schulter und der Knöchel, die ihm letztes Jahr Probleme bereitet hatten.

Aber dass er mental plötzlich nicht mehr in der Lage war zu springen, das war neu und absolut beunruhigend. Auf dem Zimmer angekommen, ließ er sich matt auf sein Bett sinken. War er dabei, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren? Ein Todesfall mit einem möglichen Täter in seinem direkten Umfeld, diese Falschheit, diese Bedrohung, diese Verletzlichkeit, die auf ihm lastete, so dass er sich nicht mehr konzentrieren und nicht mehr springen konnte. Sein Leben war auf den Kopf gestellt und zwar auf die schlimmstmögliche Art und Weise. Gestern, nach dem Kuss im Regen, war es noch eine ganz andere emotionale Achterbahnfahrt gewesen. Nun wusste er nicht mehr, wie er aus dem tiefen Tal rauskommen sollte. Alles schien ihm zu entgleiten. Die Deutsch-Hausaufgaben lagen unfertig auf dem Schreibtisch, und mit Chemie hatte er noch gar nicht begonnen. Aber auch dafür hatte er jetzt keine Kraft.

Noahs Telefon vibrierte mit einer Textnachricht: „Das Rührei sieht ja lecker aus, und deinem strahlenden Gesicht nach zu urteilen, hattest du einen wirklich guten Morgen! ☺ Wie schön, dass es dir gut geht und du einen netten neuen Mitbewohner hast. Ich hatte schon befürchtet, dass du dich nach der tragischen Sache mit Julius im Internat nicht mehr wohlfühlen könntest. Ruf gerne mal wieder an. Kuss, Mama“

Wenn sie wüsste … Noah verzog zynisch das Gesicht. Für einen Moment war er tatsächlich versucht, seine Mutter anzurufen. „Ach, Julius wurde übrigens umgebracht und der Täter ist vielleicht noch unter uns“ – wie würde das wohl bei seiner Mutter ankommen? Seine Eltern würden ihn auf der Stelle nach Hamburg holen. Aber das wollte er nicht. Nein, mit ihnen konnte er jetzt nicht reden.

Vielleicht würde ihn die Musik etwas beruhigen. Er stöpselte die Kopfhörer ein und hörte bald den dumpfen Bass von Bad Liar der Imagine Dragons erklingen. Lügen über Lügen. Ein Paradies, das dabei war zu zerreißen. Noah spürte, wie ihm endlich die Tränen über die Wangen liefen. 27. Kapitel: Brainstorming