27. Kapitel: Brainstorming
Donnerstag, 18. August 2022, 17:07 Uhr
Noah musste einige Minuten so da gesessen haben, schluchzend versunken in die Musik, als plötzlich die Tür geöffnet wurde. Nico stand im Türrahmen und starrte Noah überrascht an. „Noah, was machst du hier? Hast du nicht eigentlich noch Training?“
Noah wischte sich über das Gesicht und entschied sich mit einer Gegenfrage zu antworten: „Wieso … wieso bist du denn schon fertig mit dem Training?“ Er merkte, dass seine Stimme belegt war.
„Ach, das war am Ende doch zu anstrengend für meine Achillessehne. Ich habe bei J.J. erreicht, dass ich eher Schluss machen konnte.“ Nico kam näher und schien zu bemerken, in welcher Verfassung Noah war. „Mensch, du bist ja total fertig!“ Rasch setzte er sich neben ihm aufs Bett, strich ihm über die Wange und legte seinen Arm um ihn.
Noah versank in Nicos Umarmung, sog seinen Duft ein. Männlichkeit, Schweiß, Kraft. Für einen Moment sagte er nichts und genoss es einfach, von Nico gehalten zu werden.
Dann räusperte er sich und begann zu reden: „Ich … ich konnte nicht mehr springen. Das habe ich so noch nie erlebt und es war schlimm, auf einmal keine Kraft mehr zu haben. Ich habe keine Kontrolle mehr über das, was geschieht. Dass Julius sich das Leben genommen haben sollte, war schlimm genug, doch inzwischen hatte ich versucht zu akzeptieren, dass es seine Entscheidung war. Aber jetzt geht es womöglich um … um Mord?“
Nico hielt ihn fest und ließ ihn reden. Er nickte und sprach langsam. „Das ist ein Mega-Schock für dich. Für mich natürlich auch, aber ich bin erst seit kurzem hier. Du lebst hier und hast Julius gekannt. Und dass ihn jemand getötet haben soll und dass das hier in deinem Umfeld passiert sein soll … Kein Wunder, dass dich das total mitnimmt!“
„Die ganze Situation überfordert mich. Ich habe noch nicht mal die Einstiegshöhe geschafft! Ich konnte mich gar nicht mehr fokussieren. Und das macht alles nur noch schlimmer. Mir entgleitet auch noch der Sport. Ich komme mir vor … wie in einem Teufelskreis.“
Nico sah ihn ernst an und legte ihm beide Hände auf die Schultern. „Noah, das ist gerade alles scheiße und das verstehe ich. Naja, so ganz werde ich es wohl nie nachempfinden können. Ich bin schließlich nicht so ein Genie, das schulisch und sportlich immer alles so unter Kontrolle hat wie du.“ Trotz der Umstände huschte der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht. „Aber auch du bist keine Maschine und das ist gut so. Diesen Schock muss man verdauen. Du kannst von deinem Körper und deinem Kopf nicht verlangen, einfach weiterzumachen. So tun als wär nichts gewesen und Bestleistungen erbringen – das funktioniert halt nicht!“
Noah wusste, dass Nico recht hatte. Er überlegte, was er darauf antworten sollte. Aber Nico strich ihm über den Arm und sprach weiter: „By the way, das heißt nicht, dass du die Kontrolle über dein Leben verloren hast. Du bist noch immer Noah Bergmann, und du wirst bald wieder Schule und Sport in deiner gewohnten Selbstdisziplin meistern. Spätestens, wenn sich der Fall Julius geklärt hat.“
Noah lehnte sich an Nicos Schulter und fühlte sich schon wieder stärker. Das Gefühl, nicht allein zu sein, gab ihm Kraft, und das war eine ganz neue Erfahrung für ihn. Was hatte er sich in den letzten Tagen noch Gedanken darüber gemacht, ob er sich Nico öffnen wollte und ob da in seinem Leben überhaupt Platz für ihn war! Nun war die Antwort offensichtlich.
Jedoch blieben in anderer Hinsicht viele ungeklärte Fragen. „Es ist auch deshalb so schlimm, weil ich das alles nicht verstehe. Und es ist mehr oder weniger vor meinen Augen passiert. Der Täter war in unserem Zimmer!“
„Ja, aber daran kann man doch ansetzen“, meinte Nico. „Vielleicht fühlst du dich nicht mehr so hilflos, wenn du versuchst, deine Gedanken zu ordnen. So erschütternd der Verdacht ist, dass jemand Julius vom Dach gestoßen und seinen Abschiedsbrief gefälscht hat, so muss es doch eine logische Erklärung dafür geben. Und ich kenne niemanden, der die Logik besser beherrscht als du.“ Über Nicos Gesicht fuhr ein verschwörerisches Grinsen.
Noah schmunzelte kurz und seufzte dann: „Ich fürchte, Sherlock Holmes kann ich nicht gerade Konkurrenz machen. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich früher gerne Detektivgeschichten gelesen habe. Nein, ich bin kein guter Schnüffler.“
Nicos Stimme wurde mit einem Mal eindringlich: „Es geht nicht darum zu schnüffeln und irgendwelche gefährlichen Aktionen zu unternehmen! Sondern ums Nachdenken.“ Er fügte sanfter hinzu: „Wie du auf den gefälschten Abschiedsbrief wegen der Sprache und des Druckers gekommen bist, war schon sehr Sherlock-Holmes-würdig. Womöglich fällt dir noch etwas ein. Gemeinsames Brainstorming.“
Noah setzte sich auf. So verrückt, wie seine Gedanken in den letzten Stunden gekreist hatten, könnte es tatsächlich eine gute Idee sein, sie strukturiert und logisch in geordnete Bahnen zu lenken. Und das gemeinsam mit Nico. „Okay“, sagte er. „Was ich von Sherlock Holmes, aber auch von den Drei-Fragezeichen-Büchern aus meiner Kindheit noch weiß, ist, dass man zwei Fragen beantworten muss: Wer war es und wieso. Da habe ich bei Julius echt keine Ahnung. Wer sollte ihm etwas antun? Er hatte keine dicken Freunde, aber auch keine Feinde.“
„Niemand, mit dem Julius mal Streit hatte?“
Noah seufzte und überlegte, wann er Julius das letzte Mal in einer Meinungsverschiedenheit erlebt hatte. „Irgendwann hatten wir hier in der Wohneinheit mal Zoff wegen der Aufteilung des Kühlschranks im Gemeinschaftsraum. Thor und Felix meinten, jemand habe ihre Joghurts geklaut, aber auch da sagte Julius nicht viel. Nein, er mochte keine Streitereien und hielt sich eher aus allem raus.“
„Hmmm“, machte Nico. „Schwierig. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass Julius‘ Tod nicht notwendigerweise geplant gewesen sein muss.“
„Du meinst, er war zur falschen Zeit am falschen Ort? So wie, wenn man nachts allein durch ein Problemviertel wandert und in einen Bandenkrieg gerät? Das passiert vielleicht bei euch in Berlin … Aber Julius befand sich hier im Internat, unserem Zuhause!“
„Allerdings zu einer Zeit, als niemand damit gerechnet hatte. Freitagabend vor den Meisterschaften.“
„Willst du damit sagen, wenn niemand hier ist, passieren merkwürdige Dinge und jemand wollte Julius als Zeugen ausschalten?“ Noah schluckte. Seine Gedanken rasten weiter, allerdings nun kontrollierter und zielgerichteter als vorher.
„So muss es natürlich nicht gewesen sein; es wäre bloß eine Möglichkeit. Warum ist denn Julius nach dem Abschlusstraining am Nachmittag von Hamburg aus zurück ins Internat gefahren? Wir wissen es nicht. Und warum sich der Täter hier aufgehalten hat, wissen wir auch nicht.“
„Aber wer auch immer diese Person ist und was sie im Internat an dem Abend gemacht hat, es deutet einiges darauf hin, dass er oder sie Julius kannte“, stellte Noah fest. „Sonst kann man keinen Abschiedsbrief formulieren, aus dem hervorgeht, dass Julius Läufer war und weder in der Schule noch im Sport besondere Erfolge hatte. Und um mit der Karte ins Zimmer zu kommen … muss man wissen, wo Julius wohnt. Auf den Karten stehen keine Nummern.“
„Wer kennt die Zimmeraufteilung oder hat Zugriff auf die Übersicht? Trainer, Sportangestellte, Lehrer, Mitschüler, der Hausmeister – das sind ganz schön viele …“
„Hausmeister Paulsen hat Julius laut Polizei am Samstag gefunden. Er wohnt hier in der Nähe. Die Lehrer waren Freitagabend sicher in ihren Wohnungen in Schwerin und Umgebung. Und was die Trainer und alle anderen des Sport-Teams samt uns Athleten angeht … Wir waren alle in Hamburg, ich bei meinen Eltern, die anderen im Hotel.“ Noah überlegte.
Nico sah ihn mit großen Augen an und Noah wusste bereits, was dieser jetzt sagen würde: „Wissen wir das von allen so genau? Jeder, der kein Alibi hat, könnte theoretisch nochmal ins Internat gefahren sein. Man braucht für die Hin- und Rückfahrt mindestens zweieinhalb Stunden, aber ein Abend ist lang.“
„Wenn wir so argumentieren, werden einige kein Alibi haben. Du weißt selbst, wie es am letzten Abend vor einem Wettkampf ist, ruhig und relaxed, häufig ist jeder für sich. Wenn ich im Hotel gewesen wäre, hätte ich vermutlich die meiste Zeit auf meinem Zimmer verbracht. Ohne Alibi. Selbst Aylin, extrovertiert bis zum Gehtnichtmehr, war Freitagabend allein auf ihrem Zimmer. Thor war bei Luisa; sie haben den Lara-Croft-Film gesehen und später –“
Noah stockte. Ihm war etwas eingefallen
„Was ist?“, fragte Nico.
„Thor meinte, er habe auf dem Rückweg zu seinem Zimmer Johannes in ziemlich übel zugerichtetem Zustand gesehen.“
„Der Physio, der Amelie sexuell belästigt hat? Also waren doch nicht alle den ganzen Abend brav auf ihren Zimmern.“
Noah nickte. „Ein paar Leute waren auf jeden Fall unterwegs. Malte ist in eine Schlägerei in einem Irish Pub geraten und hat von da sein blaues Auge davongetragen, Cem war ebenfalls dabei. Und es gibt genug Sportler und Mitarbeiter, von denen wir gar nichts wissen. J.J. ist auch kein Kind von Traurigkeit, sagt man. Doch nur weil jemand in Hamburg um die Häuser gezogen ist, muss die Person noch lange nichts mit Julius‘ Tod im Internat zu tun haben.“ Er fügte hinzu: „Allerdings finde ich die Sache mit Johannes schon etwas merkwürdig.“
„Er könnte ebenfalls an der Schlägerei in diesem Irish Pub beteiligt gewesen sein“, schlug Nico vor. „Oder die Verletzungen irgendwo anders bekommen haben. Aber ich gebe dir recht, dass es eine Spur sein könnte. Schließlich geht es hier um den Mann, der drei Tage später der sexuellen Belästigung beschuldigt wurde.“
„Vielleicht hat er an diesem Abend Amelie – oder jemand anderen – begrapscht und sie hat sich gewehrt. Womöglich hat Julius mitbekommen, was Johannes Amelie angetan hat? Sie waren ja im selben Laufteam!“ Noah merkte, wie er plötzlich von einem immensen Tatendrang gepackt wurde. „Ich weiß noch nicht wie, aber ich muss mit Amelie sprechen!“
„Hmmm, sie könnte Licht ins Dunkel bringen, wenn sie ihr Schweigen bricht, was genau mit Johannes und ihr passiert ist. Wann, wo, wie. Und insbesondere, ob Julius davon wusste.“
Noah fühlte sich, als wäre er aus einem tiefen schwarzen Loch geklettert. Es tat gut, eine Aufgabe vor sich zu haben. „Wie kann ich Amelie dazu bringen zu reden? Laut Aylin blockt sie bisher immer ab.“
„Hmm, sagtest du nicht, die jungen Mädels wie Amelie bewundern dich ein bisschen? Das kann ich ja gut verstehen …“ Er grinste. „Daran kann man vielleicht ansetzen. Und darüber hinaus … Zeig dich wie du bist, von Julius‘ Tod getroffen und auf der Suche nach Antworten, die vielleicht nur sie geben kann. Aber Genaueres können wir uns morgen überlegen. Für heute haben wir genug durchgemacht. Jetzt ist es das Wichtigste, nach vorne zu sehen und einen Plan zu haben.“
„Danke.“ Noah lächelte. Er gab Nico einen sanften Kuss auf die Lippen.
„Wofür?“
„Für deine Idee mit den Sherlock-Holmes-Überlegungen, um die Gedanken zu ordnen. Und weil du einfach da bist.“ Noah schloss Nico noch einmal fest in die Arme.
„Weißt du was?“ fragte Nico mit einem leichten Lächeln. „Wir gehen gleich erstmal Abendessen, mein Magen knurrt ziemlich und deiner bestimmt auch.“ Er strich ihm über den Brustkorb. „Und für den Rest des Abends hab ich auch schon einen Vorschlag. Erstmal Hausaufgaben. So wie ich dich mittlerweile kenne, wirst du dich besser fühlen, wenn die Pflicht erledigt ist. Wenn du magst, kannst du mir übrigens gerne die logarithmische Integration erklären, damit ich morgen früh in Mathe nicht wie der Ochs vorm Berg stehe. Und anschließend … könnte ich mich mit einer Massage revanchieren.“
Noahs Herz schlug höher. Da war sie wieder, diese gleichzeitig beruhigende und erregende Wirkung, die Nico auf ihn hatte. Der Vorschlag mit dem Lernen zeigte, wie sehr Nico ihn und sein Pflichtbedürfnis akzeptierte, was ihn sofort wieder mit einer inneren Wärme erfüllte. Und beim Gedanken an eine Massage von Nico gesellten sich einige wild flatternde Schmetterlinge dazu.