Freitag, 19. August 2022, 05:52 Uhr
Am nächsten Morgen erwachte Noah kurz vor dem Weckerklingeln mit dem Gefühl, hundert Stunden geschlafen zu haben und unglaublich gut erholt zu sein. Ob das daran lag, dass er in einem Zustand höchster Befriedigung und Erfüllung eingeschlafen war? Bei der Erinnerung an das, was am Abend passiert war, durchströmten ihn warme Glücksgefühle, in denen er ein paar Augenblicke verweilte. Plötzlich mischte sich jedoch ein kalter Schauer darunter, als ihm bewusst wurde, was ihn die Intimität mit Nico hatte vergessen lassen: Die Erkenntnis, dass Julius sich nicht freiwillig das Leben genommen hatte, das Gefühl der Ohnmacht und des abgebrochenen Trainings. Verdammt! Damit würde er sich an diesem Tag auseinandersetzen müssen.
Er reckte sich, stand auf und betrachtete Nico, der noch ruhig schlafend da lag, mit geschlossenen Augen und einem leichten Lächeln auf den Lippen. Allein sein Anblick erfüllte Noah mit neuem Mut für den Tag. Es musste weitergehen, er würde wieder Kontrolle über die Dinge gewinnen. Training und Schule und sein Leben generell. Und vielleicht gab es nach getaner Arbeit wieder die Chance auf Momente wie am Abend zuvor, in denen Noah sich einfach mit Nico fallenlassen und genießen konnte.
Als er die Sporthalle erreichte, kam Pascal direkt auf ihn zu: „Noah, wie geht es dir? Martin hat erzählt, dass du gestern nicht fit warst und er dich beim Training nach Hause schicken musste.“
„Es geht wieder, danke. Es hat mir geholfen, mich gestern Abend zu entspannen und früh ins Bett zu gehen.“ Er war froh, dass Nico in diesem Moment nicht neben ihm stand, denn ansonsten hätte er sich ein Grinsen wohl nicht verkneifen können. „Ich will heute wieder mit dabei sein und im gewohnten Rhythmus trainieren“, sagte er mit bemüht fester Stimme.
In Pascals Blick lag noch ein Rest Skepsis: „Bist du sicher? Du könntest stattdessen einen Tag pausieren und dich durchchecken lassen.“
„Nicht nötig. Die Routine gibt mir Kraft, mental und körperlich“, versicherte Noah.
„Gut, aber dann machst du heute die 90 Minuten in etwas leichterer Intensität. Was hältst du nach dem Crosstrainer von einer kleinen Yoga-Session? Ideal für die Körperspannung und den Geist. Katja wollte ohnehin mit einigen Leute Yoga machen, da kannst du dich ihnen anschließen.“
„Klingt gut“, antwortete Noah. Ebenso wie Ballett war Yoga etwas, das die Stabhochspringer gelegentlich in ihr morgendliches Kraft- und Konditions-Training eingliederten, und für den heutigen Tag war das sicherlich gegenüber der Hantelbank zu bevorzugen. Als er wenig später zu den ausgelegten Yogamatten schlenderte, stellte er fest, dass er von dort aus freien Blick auf die Laufbänder hatte. Er sah, wie Nicos Füße schnell über das Laufband flogen, betrachtete seine schlanken Waden und die Sporthose, die sich beim Laufen über seinem Po spannte …
„Noah, mehr Körperspannung beim herabschauenden Hund! Konzentrier dich auf deinen Körper und deine innere Kraft“, korrigierte Katja ihn. Wenn das so einfach wäre. Er versuchte an etwas anderes zu denken, aber als seine Gedanken bei Julius‘ Tod landeten, half ihm das noch weniger. Tief durchatmen, konzentrier dich auf dich selbst, sagte er sich. Mit viel Willenskraft – und dem Umstand, dass Nico nach einer Weile auf ein anderes Gerät wechselte – gelang es Noah doch noch, die Yogaübungen irgendwie zu absolvieren.
Nach dem Frühstück war er erleichtert, dass als erstes eine Doppelstunde Mathe anstand. Allerdings bekam Noah von Herrn Wozniak eine besonders schwierige Aufgabe, zu der ihm auf die Schnelle kein Lösungsansatz einfiel. Wie sollte er das Integral bloß lösen? Frustriert ließ er den Blick schweifen. Es konnte doch nicht sein, dass ihn seine mathematische Intuition im Stich ließ. Gerade jetzt! Die Frustration stieg. Konnte er denn gar nichts mehr? Er überlegte, überlegte … und erkannte plötzlich wie sich die komplizierten Terme durch eine geschickte Substitution elegant auflösten. Die schwere Nuss war geknackt! Noah fühlte sich gleich leichter.
Gegen Ende der Stunde sollte Nico eine Anwendung zur logarithmischen Integration vorrechnen. Noah beobachtete gebannt, wie sein Mitbewohner die Rechenschritte am Whiteboard vollführte und ihm zwischendurch heimliche Blicke zuwarf, um sich zu versichern, dass es richtig war. Noah wollte keine offensichtlichen Zeichen geben, aber er war sich sicher, dass sein Lächeln für Nico völlig ausreichend war.
So konnte es gerne weitergehen. Doch für den Rest des Vormittags standen Wahlfächer auf dem Stundenplan. „Ich hab jetzt Französisch“, stellte Noah fest, als er neben Nico aus dem Matheraum trat. „Du nicht, oder?“
„Nee, ich hab Geo. Französisch hab ich schon früh abgewählt, das war noch nie meine Stärke.“
„Einspruch! Gestern Abend konnte ich erleben, dass Französisch sehr wohl zu deinen Stärken gehört …“ Ups, hatte Noah das jetzt wirklich gesagt? Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss, aber das Grinsen, mit dem er seine Gedanken geäußert hatte, lag ihm weiterhin auf den Lippen. Er sah sich um. Zum Glück schien niemand der vorbeilaufenden Mitschülerinnen und Mitschüler seine Worte gehört zu haben. Nur Nico, der ihn erst ungläubig anstarrte und dann ebenfalls breit zu grinsen begann.
Nico trat einen Schritt zur Seite und steuerte eine hinter einem Utensilienschrank versteckte Ecke des Korridors an. Nachdem Noah ihm dorthin gefolgt war, fixierte Nico ihn mit seinen blauen Augen und flüsterte: „Noah Bergmann, du überraschst mich immer wieder. An was für unanständige Dinge denkst du mitten in der Schule?“
Der Moment war so verführerisch, dass Noah sich anstatt einer Antwort noch einmal umschaute, ob sie wirklich allein waren, und dann Nico zu sich zog, um ihn zu küssen. Erst zaghaft, dann leidenschaftlicher. Was war es für ein berauschendes Gefühl, zwischen zwei Schulstunden heimlich in einer versteckten Ecke zu knutschen! So etwas kannte er bisher nur aus irgendwelchen Filmen, deren Handlung von seinem eigenen Leben weit entfernt war.
„Da könnte ich mich dran gewöhnen“, flüsterte Noah nach ein paar Minuten. „Aber jetzt muss ich wirklich zur Französischstunde.“
„Du weißt schon, dass du Französisch auch mit mir üben könntest“, zwinkerte Nico ihm verschwörerisch zu. Ein Kribbeln erfasste Noah, und er wurde schon wieder rot. Kurz überlegte er, ob etwas antworten sollte wie „ Das kannst du mir heute Abend beibringen “. Oder war das doch alles zu viel, zu schnell und zu direkt?
Stattdessen schenkte er Nico zum Abschied ein Lächeln und beeilte sich, in den Unterricht zu kommen. Französisch als Sprachunterricht, was denn sonst? Das sollte er hinbekommen: Er mochte den Klang der französischen Sprache und die Konjugation der Verben folgte klaren Regeln mit logischen Mustern, fast wie in der Mathematik.
Nach Französisch hatte Noah in den letzten beiden Stunden noch Philosophie als jahrgangsübergreifendes Wahlfach. Das Menschenbild von Thomas Hobbes – auf eine solche Diskussion hätte er heute gerne verzichten können. Er hätte lieber weiter auf systematische Art französische Verben konjugiert, als darüber nachzudenken, ob Menschen von Natur aus egoistisch und einander feindlich gesinnt waren.
„Nach Thomas Hobbes‘ Auffassung herrscht im Naturzustand Anarchie, ein System Jeder gegen Jeden aus reiner Selbsterhaltung. Er rechtfertigt damit die Existenz eines Staates, der Macht ausübt und Regeln durchsetzt, denn ohne die höhere Instanz würden die Menschen diese zum eigenen Vorteil brechen“, erklärte Frau Pichau. „Was sagen Sie dazu? Würden wir Menschen uns ohne einen Staat die Köpfe einschlagen, weil wir einfach so sind?“
Eine so formulierte Frage rief natürlich zum Widerspruch auf. Luisa war die erste, die vom menschlichen Naturbedürfnis nach Freundschaft und Nähe sprach und Beispiele von Menschen aufzählte, die selbst in Extremsituationen altruistisch handelten. Viele schlossen sich ihr an. Thor meldete sich jedoch mit einem Einwand: „Also, ich denke zwar wie Luisa, dass die meisten Menschen dich nicht direkt zum eigenen Vorteil übers Ohr hauen würden, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. Aber ein bisschen von Hobbes‘ Misstrauen schadet nicht. Gerade wenn man jemanden nicht so gut kennt. Schließlich gibt es immer Menschen, die dein Vertrauen missbrauchen können.“
Noah überlegte. Ja, irgendwie stimmte er Thor zu, schließlich war er von Natur aus zurückhaltend und vorsichtig. Nur weil ihm persönlich Ehrlichkeit über alles ging, musste das nicht für alle anderen genauso gelten. Er dachte an Julius, an dessen Tod vermutlich jemand anderes die Schuld trug. Womöglich Johannes, der sich auch an Amelie vergangen hatte? Sollten die Geschehnisse der letzten Zeit einen nicht darin bestärken, skeptisch gegenüber all den menschlichen Abgründen zu sein? Dennoch spürte Noah eine innere Kraft, die dem widersprach. Da war Nico, dem er sich innerhalb kürzester Zeit geöffnet hatte und dem er vertraute. Und das hatte sich in so vielen neuen Erfahrungen, so starken Gefühlen und so viel Nähe ausgezahlt, dass Noah geneigt war, Thors gerade geäußertem grundlegenden Misstrauen gegenüber dem Neuen und Fremden entgegenzutreten.
Aber die Diskussion war schon weiter gerückt. Gegen Ende der Stunde kam Frau Pichau noch auf einen besonderen Aspekt zu sprechen: „Laut Ihren Argumenten ist der Mensch also von Natur aus nicht so egoistisch, wie Hobbes ihn sieht. Dann lassen wir uns diese Sichtweise mal auf den Sport übertragen, Sie sind schließlich alle Leistungssportler. Luisa, sind Sie denn im Siebenkampf auch so altruistisch und stecken zugunsten Ihrer Konkurrentinnen zurück?“
Ein Lächeln erschien auf Luisas Gesicht, als habe sie die Falle erkannt: „Wir reden hier über die Gesellschaft und das Zusammenleben allgemein. Wettkampfsport ist doch nur ein kleiner Teil davon! Der steht schließlich nicht für das soziale Leben der Menschen. Natürlich wollen wir alle im Sport das Beste geben und niemand anderem den Vortritt lassen. Das ist nun mal ein Wettkampf. Deshalb gibt es im Sport ja klare Regeln und Kampfrichter. Die überprüfen, dass niemand bei der Langstrecke abkürzt oder mit einer leichteren Kugel stößt.“
„Das ist genau Hobbes‘ Argument für eine höhere Instanz“, warf Nico ein und fragte dann: „Luisa, würdest du denn mit einer leichteren Kugel stoßen, wenn es niemand überprüfen würde?“
Luisa sah ihn kurz an und sagte nach minimalem Überlegen: „Nein, würde ich nicht.“
„Ich auch nicht“, sagte Noah. „Es gibt immer noch Ehrlichkeit und Moral. Aber ich weiß nicht, ob das für alle anderen auch gelten würde. Deshalb finde ich solche Regeln gut und wichtig.“
Das war das philosophische Dilemma: Alle, die sich meldeten, behaupteten, dass sie natürlich nicht schummeln würden, doch sie hielten es möglich, dass ihre Gegner dies tun würden. Wenn jeder so dachte, wäre es dann nicht rational, auch zu schummeln, um nicht als der Dumme dazustehen? Wie gut, dass dieses Beispiel mit der leichteren Kugel rein hypothetisch war, dachte Noah, als der Gong zum Ende der Stunde ertönte. Dank der vielen Regeln und Reglementierungen im Leistungssport musste er sich darüber in der Realität keine Gedanken machen.