30. Kapitel: Gelogen

Freitag, 19. August 2022, 13:21 Uhr

„Nico, ich hab gehört, du hast ein Auto. Wie geil ist das denn?!“ Aylin stellte das Tablett mit ihrem Tofu-Steak auf dem Tisch ab und sah Nico mit leuchtenden Augen an. „Cem wird außer sich sein vor Neid, wenn er das mitbekommt. Er bewundert alle, die ein eigenes Auto haben, vor allem natürlich Malte mit seinem Dreier-BMW, den er zum Achtzehnten von seinem Papa bekommen hat.“

„Mit einem Dreier-BMW kann ich nicht dienen, höchstens mit einem alten Fiat 500“, sagte Nico und nahm einen Bissen seines Hühnchenfilets. Noah dachte zurück an die gemeinsame Autofahrt nach Greifswald, und allein die Erinnerung an den Kuss im Regen sorgte für Kribbeln in seinem Bauch.

„Ist sowieso besser als so ein Angeber-Auto“, fand Aylin. „Es geht echt gar nicht, dass Malte mit allem, was er tut, heraushängen lässt, dass er sich für was Besseres hält. Nur weil seine Alten Kohle ohne Ende haben.“

„Ich habe gehört, Malte hat es zu Hause auch nicht leicht“, warf Luisa ein. „Seine Eltern verlangen einiges von ihm und setzen ihn ziemlich unter Druck, dass er gewinnen und der beste sein soll.“

„Du hast mal wieder Verständnis für alle“, rief Aylin mit einem empörten Unterton. „Luisa, manchmal bist du echt zu gut für diese Welt. Nur weil man es zu Hause nicht leicht hat, muss man sich nicht wie ein Arsch gegenüber seinen Mitmenschen aufführen. Ich habe es übrigens mit meinen Eltern auch nicht leicht, nur zur Info.“

„Das weiß ich ja. Ich versuche nur zu verstehen, warum Malte so ist wie er ist“, entgegnete Luisa. „Wie auch immer, ein Auto ist praktisch, ob BMW oder Fiat. Nico, meinst du, du könntest uns mit den Einkäufen für die Strand-Party heute Abend helfen?“

„Oh ja, das wäre echt super, Nico!“, stimmte Aylin zu. „Wir haben schon überlegt, was wir alles brauchen. Bier mit und ohne Alk, sonst noch was zu trinken, etwas Knabberzeug, dann die Musikanlage …“

„Klar helfe ich beim Transport“, sagte Nico. „Wer soll denn alles zur Party kommen?“

„Also, wir hatten gedacht, alle aus unserem Umkreis in der Oberstufe“, begann Aylin. „Und vielleicht ein paar der Jüngeren. Ich werde Amelie und ihre Freundinnen fragen – ich hoffe, es hilft ihr, mal aus ihrem Zimmer zu kommen. Sie ist immer noch total fertig, gerade deshalb könnten Strand, See und gute Vibes für ein bisschen Abwechslung sorgen.“

Noah schluckte. Gleich wurde es ernst. Er räusperte sich, nahm einen Schluck von seinem Wasser und sagte dann: „Apropos Amelie … Aylin, meinst du, ich könnte mal mit ihr reden?“

Aylin sah ihn mit großen Augen an: „Du?“

Noah hatte sich überlegt, wie er die Sache angehen wollte, ohne zu viel preiszugeben: „Ja, vielleicht finden wir einen Draht zueinander. Ich meine, sie hat mit Johannes etwas Schreckliches durchgemacht, kannte aber auch Julius. Und ich denke immer noch über seinen Tod nach.“

„Ich kann dir nicht versprechen, dass sie mit dir reden will. Sie hat sich total in ihr Schneckenhaus zurückgezogen und wollte selbst mir nicht viel darüber erzählen, was dieses Schwein ihr angetan hat!“ Aylin schnitt das letzte Stück von ihrem Tofu-Steak ab. „Vielleicht weil sie ahnt, dass ich dann Hackfleisch aus ihm mache! Aber gut, ich bring dich nach dem Mittagessen zu ihr.“

***

Noah folgte Aylin mit wachsender Beklemmung in den Wohntrakt der Mädchen. Sie klopfte an die Tür ihres Zimmers, öffnete und blieb dann zusammen mit Noah im Türrahmen stehen.

„Ich will mit niemanden reden, das weißt du doch“, ertönte eine matte Stimme.

„Amelie, Noah ist hier“, sagte Aylin ruhig.

„Darf ich kurz reinkommen?“, fragte Noah. Er spürte, dass seine Stimme belegt war.

„Noah?“ Amelie sah auf und starrte ihn überrascht an. Sie wirkte unglaublich jung und verletzlich mit dem dünnen, fast kindlichen Körper. Ihr schmales Gesicht wurde von großen braunen Augen dominiert, unter denen tiefe dunkle Ringe lagen. Ihre langen hellbraunen Haare waren strähnig. Wie sie so im weiten schwarzen T-Shirt und der grauen Jogginghose auf dem Bett saß, gab sie einen ungeheuer müden und desolaten Eindruck ab. Das, was der Physiotherapeut ihr angetan hatte, schien sie auch noch Tage nach seiner Suspendierung leiden zu lassen.

Noah tat sie unendlich leid und er wäre am liebsten wieder gegangen. Dennoch war Amelies Blick nicht nur von Ablehnung geprägt, sondern es fand sich ein gewisses Interesse darin. Sie schien kaum glauben zu können, dass ihr älterer Mitschüler mit ihr sprechen wollte, und er meinte, eine gewisse Neugier ihrerseits zu spüren.

Auch Aylin musste gespürt haben, dass Amelie ihren Besucher nicht zurückwies. Sie verabschiedete sich: „Ich lass euch mal, ich muss sowieso zu Luisa wegen unseres Englisch-Referats.“ Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

Noah überlegte, wie er anfangen sollte und wünschte sich, Nico wäre jetzt hier. Der hatte schon gegenüber Sabine die richtigen Wort gefunden. Er versuchte sich an Nicos Rat zu erinnern. Ziel nicht auf die Details der sexuellen Belästigung ab, sondern erzähl von dir und Julius, gib dich wie du bist. Wenn das mal so einfach wäre. Aber gut, also los.

„Amelie … es … es muss gerade der Horror für dich sein. Doch ich will gar nicht so wie alle fragen, was du erleben musstest mit … mit Johannes. Ich bin eigentlich wegen Julius hier.“

„Julius?“ Das schien Amelie noch mehr zu erstaunen.

Noah nahm zaghaft auf der Bettkante Platz. Bewusst weit weg von dort, wo Amelie hockte. Dann blickte er auf seine Sneakers anstatt zu ihr: „Julius war mein Mitbewohner und ich … ich möchte gerne verstehen, warum er tot ist. Was er für Probleme hatte.“

Amelie nickte langsam. „Das ist so traurig mit Julius. Ich habe auch nachgedacht, warum er das getan hat. Warum er gesprungen ist.“ Sie machte einen Moment Pause, fuhr sich durch das Haar. „Aber ich weiß es nicht. So gut kannte ich ihn nicht. Wir waren zusammen im Laufteam, aber mehr auch nicht.“

„Und dir ist am Freitagabend vor den Meisterschaften nichts Besonderes an Julius aufgefallen?“

Amelie überlegte. „Nein. Also, ich hab ich ihn beim Abschlusstraining gesehen. Danach hatten wir noch Einzelgespräche mit J.J. Weißt du, mit individuellen Tipps und Motivation für den Wettkampf. Später war ich nur auf meinem Hotelzimmer und hab Musik gehört.“

„Du hattest keine Physio mehr … bei Johannes an dem Abend? Das war also nicht der Abend, an dem er dich …?“ Noah brach ab und sah Amelie vorsichtig an. Sie antwortete nicht, starrte stattdessen auf ihre Hände und wich seinem Blick aus.

„Weißt du, ob Julius vielleicht an dem Abend noch Kontakt zu Johannes hatte? Johannes ist in ziemlich übel zugerichtetem Zustand gesehen worden.“ Noah bemühte sich langsam und ruhig zu sprechen, auch wenn sein Puls vor Nervosität und Anspannung immer schneller ging. „Könntest du dir vorstellen, dass er auch Julius etwas angetan hat, was dieser nicht wollte? Oder hat er Julius irgendwie unter Druck gesetzt? Wusste Julius, was Johannes mit dir –“

„Ich halt es nicht mehr aus!“, platzte es plötzlich mit lauter, verzweifelter Stimme aus Amelie heraus.

Noah fuhr zusammen und drehte sich gleichzeitig ganz vorsichtig zu ihr. „Amelie, ich kann mir denken, dass das was Johannes dir –“

„Nein!“, unterbrach sie Noahs Worte und blickte ihn durchdringend an. Noah sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Dann senkte sie ihren Blick, ebenso wie ihre Stimme. Unter ihrem Schluchzen konnte Noah die leisen Worte kaum noch verstehen: „Ich … ich bin an allem schuld. Johannes hat … hat gar nichts gemacht. Es … ist alles falsch. Ich … ich habe gelogen … ich weiß nicht mehr weiter!“

Noah erstarrte. Er glaubte, sich verhört zu haben, aber Amelies verzweifeltes Schluchzen belehrte ihn eines besseren. Johannes sollte gar nichts gemacht haben? Warum sollte Amelie die sexuellen Belästigung erfinden? Das ergab keinen Sinn. Offensichtlich war hier nur eines: Das Mädchen war mit den Nerven total am Ende.

Was sollte er jetzt tun? Sollte er sich ihr nähern? Sie zwei Meter von sich entfernt weinen zu lassen, erschien ihm nicht richtig, doch er traute sich auch nicht, sie zu berühren. Vorsichtig rutschte er näher an sie heran. Er öffnete den Mund und spürte doch, wie schwierig es war, Worte zu formen: „Was … was ist wirklich passiert?“

Amelie blickte ihn aus nassen Augen an und flüsterte: „Noah, du darfst das niemandem erzählen! Sonst ist für mich Ende mit dem Sport. Hat J.J. gesagt. J.J. wollte, dass ich Johannes beschuldige. Ich musste sagen, dass er mich am Busen begrapscht haben soll. Auch wenn … auch wenn das nicht stimmt. Ich fühle mich so scheiße. Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht lügen und falsche Behauptung aufstellen, aber ich musste!“

Noah blieb der Mund offen stehen. Ihm war kaum bewusst, dass er stotterte, als er nachfragte: „N-nochmal langsam: J.J. wollte, dass du Johannes der sexuellen Belästigung beschuldigst. Warum das? Was hat er gegen ihn?“

„Keine Ahnung warum. Aber wenn ich nicht mitmache, dann ist meine Sportkarriere vorbei. Hat J.J. gesagt. Dann lässt er mich auffliegen.“

„Was lässt er auffliegen?“

„Die Tabletten. Die Steroide.“